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Schön
I - Sie ist schön
Sie ist schön.
Wie sie glänzt, im Licht der Nachttischlampe. Wie sie glitzert und funkelt. Sie dreht sich, und dreht sich, und dreht sich, und manchmal, wenn sie im richtigen Winkel liegt, sieht sie aus wie aus silbernem Licht gemacht.
Sie ist schön.
30 Zentimeter. Rostfreier Stahl. Ebenholzgriff. Von allem das Feinste. Für ihn nur das Beste. Sein Credo. Kalt, die Klinge. Kalt in ihr. Sie mag die Kälte nicht, aber sie ist nützlich. Lässt sie klarer denken. Besser sehen. Die Schönheit erkennen. Erlaubt ihr sogar, zwei Schritte zurückzutreten, aus sich selbst heraus. Um zu sehen, zu beobachten. Sich selbst, und wie die Klinge leuchtende Schatten über ihr Gesicht wandern lässt, bei jeder und jeder und jeder Umdrehung.
Wie schön sie ist.
Damit hatte es angefangen, nicht wahr? Er hatte es ihr immer wieder gesagt. Wie schön sie ist. Seine kleine Schönheit. Seine Prinzessin. Die Schönste im ganzen Land. Hatte ihr die Märchen vorgelesen und sie angegrinst, mit dieser Gier, die sie damals nicht verstehen konnte. Wie sehr sie dieses Grinsen zu hassen gelernt hatte. Und diese Worte. Sie wollte nicht schön sein. Schönheit brachte nur Schmerz. Schönheit war die Klinge, welche er ihr immer und immer und immer wieder in den Unterleib getrieben hatte. Nacht um Nacht um Nacht.
So grausam Schön.
Anfangs, da wollte sie nur weg. Nur weg. Nur weg von hier, von ihm. Sie verstand es nicht. Er war doch ihr Vater. Daddys tun so etwas nicht. Sie war erst zwölf. Wie sollte sie das begreifen? Sie wusste nur, dass es ihr nicht gefiel. Ganz und gar nicht. Sie wollte doch einfach nur ihren Daddy zurück. Aber Daddy war weg. Da war nur noch er. Er kam, weil sie schön war. Er tat ihr weh, weil sie schön war. Daddy war zu diesem, diesem, diesem Ding geworden, nur weil sie schön war!
So schön. So schön. So wunderschön.
Sie wollte nicht mehr schön sein. Zuerst hatte sie versucht, sich die Schönheit zu nehmen. Sie wegzuschneiden. Aber das Ding erwischte sie dabei, und machte ihr nur zu deutlich, dass sie mit ihrer Schönheit besser dran war als ohne sie. Danach wollte sie weg. Wollte die Schönheit entführen, verstecken, wo sie keinen Schaden mehr anrichten konnte. Wollte sich in ein Loch verkriechen, tief unter der Erde. Aber sie hatte Angst. War feige. Was, wenn er sie fand? Wenn er sie zurück brachte? Manchmal vergaß er sie, für ein paar Tage, vielleicht eine Woche. Das war gut. Aber wenn er sie fand, und zurückbrachte, dann würde er sich an sie erinnern, oh ja, das würde er bestimmt. Wie damals, nach den Schnitten. Er nannte es „Sie gesund pflegen“. Mehrmals am Tag. Nein. Sie konnte nicht weg.
Sie konnte die Schönheit nicht bannen. Sie nicht verstecken. Also ließ sie die Schönheit, und nur sie, zurück. Und versteckte sich. Tief drinnen. Eine Puppe ist schön. Ihre Mutter hatte ihr mal eine geschenkt. Aus Porzellan. Wie kalt und fest die Haut der Puppe war. Kalt und glatt wie Stahl. Das war kurz vor Mutters Tod. Eine Puppe ist hohl. Ihre zerbrach, nachdem ihr Vater zum Ding wurde. Innen hohl. Ganz viel Platz, um sich zu verstecken. Und so wurde sie zur Puppe. Das war gut. Der Puppe war egal, was mit ihr geschah. Und in der Puppe war es sicher. In der Puppe konnte sie hässlich sein.
Hässlich. Hässlich. Hässlich. Was für ein schönes Wort.
Aber jetzt, jetzt kann sie nicht mehr. Sich verstecken. Es geht nicht länger. Es geht nicht mehr um sie. Jetzt ist es eine andere, die schön wird. Yasmin. Ihre kleine Schwester. Sie hat seinen Blick bemerkt, oh ja, wie er sie ansieht. Die Gier. Und wie er ihr Komplimente macht. Jetzt ist Yasmin seine kleine Prinzessin. Seine Schönheit. Und sie selbst, ihre Schönheit? Sie scheint zu verblassen. Er beachtet sie kaum noch. Besucht sie nur noch selten, in ihrem Zimmer. Sie ist nicht mehr schön genug. Eine andere ist schöner. Und bald schon, bald. Vielleicht morgen. Yasmins Geburtstag. Ihr zwölfter.
Yasmin ist schön. Sie muss diese Schönheit bewahren. Um jeden Preis. Jeden. Jeden.
Sie hat versucht, sein Auge wieder auf sich zu ziehen. Hat selbst das Kleid angezogen, das er ihr schenkte. Das sie fast ebenso hasst wie seine Berührung. Aber es half nicht. Es hilft nichts mehr. Sie ist nicht mehr schön genug.
Und nun, nun betet sie um seinen Besuch. Heute. Ein letztes mal. Bitte. Bitte. Bitte. Hat ihm etwas ins Ohr geflüstert. Worte wie Galle, aber für ihn, zuckersüß. Jetzt wartet sie. Mit Schönheit in ihrer Hand, die sich dreht und dreht und dreht. Wartet auf das Geräusch, welches sie mehr als alles andere zu hassen gelernt hat. Das Geräusch des Türknaufs, wenn er sich dreht. Sie ist bereit, ihn zu empfangen. Sitzt auf ihrem Bett. Lächelt ihr schönstes Lächeln. Und wenn er dann kommt, zu ihr, dann wird sie ihm Schönheit geben. In seinen Unterleib. Wieder. Und wieder. Und wieder.
Ja. Es wird schön. Wirklich, wirklich, wirklich schön!
II - Bin ich schön?
„Bin ich schön?“
Er schluckt. Und nickt.
„Wie schön? Erzähl mir davon.“
Er zögert, blickt auf seine sauber manikürten Hände. Faltet sie, lässt sie umeinander ringen.
„Nun mach schon. Bitte?“
„Du bist so schön,“ erzählt er, „wie der Morgentau, wenn er das erste Licht der erwachenden Sonne bricht. So schön wie das Flüstern des Windes, wenn er von seinen Geheimnissen spricht. So schön wie der sich im Meer spiegelnde Mond, und alle Sterne zusammengenommen, und selbst das reicht nicht aus. So schön, dass die Vöglein verstummen, wenn sie deiner gewahr werden, bis auf die Nachtigall, die Königin der Stimmen, und sie allein besingt deine Pracht. So schön wie das Erwachen in deinen Armen, und das Einschlafen zum Flüstern deines Atems. Wie die Jugend in der Erinnerung des Alters und die Zukunft in der Phantasie eines Kindes. So schön wie die Sehnsucht selbst es uns verspricht. So schön, dass ich nie genug Worte finden kann, um es auch nur annähernd zu beschreiben, oder was es mir bedeutet...“
„Warum schaust du mich nicht an?“ Ihre Stimme klingt brüchig, wie morsches Holz. „Wie willst du mich denn auch beschreiben, wenn du mich nicht anschaust?“
Seine Hände ziehen weiter ihre Kreise umeinander. Er hebt seinen Kopf, aber nur ein wenig, bis zu der Hand, die sie ihm entgegen streckt.
„Wenn ich dich ansehe“, erklärt er, „dann bin um Worte verlegen. Dermaßen geblendet durch dein Licht, dass ich nicht mehr zu sehen, zu erkennen vermag. Allein die Erinnerung ist Filter genug, um überhaupt ein Wort für dich zu finden.“
„Wie lustig du manchmal redest.“ Sie lacht ihr helles, klares Lachen, bis es unerbittlich in Husten sich ertränkt. „Das mag ich so an Dir“ fügt sie an, als sie wieder zu Atem kommt. Leiser als zuvor, fast zärtlich.
„Komm, erzähl weiter. Erzähl mir mehr.“
Er nimmt ihre ausgestreckte Hand und erschrickt, wie kalt sie in seiner liegt.
„Du bist so schön“, flüstert er, “wie der Phönix, wenn er neu geboren der Asche entsteigt. So schön wie das Farbenspiel im Herbst, das Spiel von Licht und Tod und Wiedergeburt. So schön wie das Zerspringen am Höhepunkt der Vereinigung. Wie das Spiel der Falten am Ende eines erfüllten Lebens. Wie das friedliche Lächeln auf dem Gesicht einer schlafenden Prinzessin. So schön wie die Flamme, welche die Motte lockt. So schön wie die Dämmerung, dieser kurze Augenblick, wenn Tag zu Nacht und Nacht zum Tage wird. So schön...“
Ihre Hand in seiner verliert alle Form, ist nur noch ein Bündel haltloser Knochen in Haut gewickelt. Er lässt den Blick höher gleiten. Wie seltsam, seine Augen wollen ihm glauben machen, dass ihre Brust sich immer noch hebt und senkt. Aber sie liegt still. Er zwingt sich, zwingt seinen Blick höher, bis hin zu ihrem Gesicht, ihrem vom Krebs zerfressenen Antlitz, die straff über Knochen gespannte Haut, dort, wo es nicht Wunde war und offenes Fleisch, anstatt Wange und ein Auge und die halbe Stirn.
Ihr anderes Auge ist geschlossen und auf ihren Lippen, kaum mehr als dünne, blassrote Narbe auf diesem seltsamen Konstrukt des Grauens, liegt ein Lächeln, voller Friede und Dankbarkeit.
Und jetzt, da sie ihn nicht mehr hören kann, wo all die Lügen das letzte waren, was sie vernommen und mit sich nahm, jede einzelne davon wie ein Messerstich, geführt von eigner Hand in seinen Unterleib, bitter wie Galle und ätzend wie Gift, die Erinnerung, aus der sie gebaut Stück für Stück zerfressend und vergiftend mit ihrer neu gewonnenen Scheußlichkeit, jetzt steht er auf, lehnt sich über sie, seine Lippen ganz nah an ihr Ohr, und flüstert leise Wahrheit, zum ersten mal seit so langer Zeit. Flüstert all die Abscheulichkeit, die er in ihr sieht und versteckt hat zwischen bittersüßen Worten, bricht sich aus in Worten, die grausam sind und ordinär, nicht schönes mehr in sich tragen, fügt nahtlos eine Abartigkeit an die nächste, immer und immer weiter, bis seine Seele sich ausgekotzt hat und nichts mehr in sich trägt als Leere und Kälte und Einsamkeit.
Erst dann lehnt er sich zurück, schaut sie ein letztes mal an, ihr selbstverliebtes Lächeln, und sagt, weil er nicht anders kann:
„Und dennoch, trotz alledem, hast du nie aufgehört, schön für mich zu sein.“