Schabe, dieser Masafucker
Schabe, dieser Masafucker
Heute wurde es überhaupt nicht richtig hell. Schon den ganzen Morgen hatte es immer wieder nadelstichfein geregnet. Zerfetzte Wolken in vielen grauen Schattierungen wurden über den düsteren Himmel gejagt. Nur links über den Schultürmen, in denen die Klassenräume untergebracht waren, ballten sie sich mehr und mehr zusammen. Der nasse Boden des vollständig zubetonierten Nordhofes war fast so dunkel wie der anthrazitfarbene Schiefer, mit dem die Fassaden der Schultürme verkleidet waren. Wind hatte Schmutz und durchweichten Unrat in den Ecken des Schulhofes zusammengetrieben.
In der zweiten großen Pause waren die meisten Schüler in der von gelbstichigem Neonlicht erleuchteten Pausenhalle geblieben, die das Verwaltungsgebäude mit dem ersten der drei Schultürme verband. Auch der Lehrer, der Aufsicht auf dem Schulhof hatte, war im Trockenen geblieben und in ein Gespräch mit dem Lehrer in der Pausenhalle vertieft. Sie standen mit dem Rücken zu den fettig verschmierten Glasflächen, die die Vorderfront der Pausenhalle bildeten. Schon lange waren die großen Scheiben und die schweren Glastüren nicht mehr geputzt worden.
Zwischendurch schwoll der Regen so an, dass die roten Klinker des niedrigen Verwaltungsgebäudes fast ihre Farbe verloren. Nur das stechende Weiß der nagelneuen Rollläden durchdrang die Regenwand. Sie waren heruntergelassen, so dass das Gebäude ganz verschlafen wirkte. Es lohnte sich auch gar nicht, die Rolllädenzu hochzuziehen, denn in die Räume fiel so wenig Licht, dass sowieso den ganzen Tag über die Neonlampen angeschaltet bleiben mussten. Allein das modern eingerichtete Sekretariats war nicht hinter einem Rollladen verborgen. Ein Pappschild klebte hinter der Fensterscheibe mit der handgeschriebenen Aufschrift: "Postabgabe hier!"
Es sah so aus, als ob das Gebäude nur mit einem einzelnen trüben Auge auf den Jungen blickte, der da bewegungslos an dem hohen Metallzaun gegenüber stand. Seine graue Kordhose, der graue Anorak mit dem breiten roten Streifen am Rücken und seine sonst mausigen Haare waren schwarz von Nässe und klebten ihm am Körper.
Ganz plötzlich hörte der Regen auf. Ein schmaler Streifen bleichblauen Himmels zog sich über den Schulhof.
Schnell war der Junge am Zaun nicht mehr der einzige Schüler auf dem Schulhof. Mehrere Jungen kickten einen Tennisball zwischen sich hin und her, ein anderer zerknüllte ein Trinkpäckchen und warf es auf den Boden, und zwei Mädchen bohrten lachend ihre Schuhabsätze in ein Pausenbrot, das im Schmutz lag..
Ein Gruppe lärmender Siebtklässler ergoss sich aus der Pausenhalle auf den Schulhof. "Da ist Schabe, der Masafucker!" riefen sie. Schnell wandte der Junge sein Gesicht dem Schulhof auf der anderen Seite des Zaunes zu. Es war der Pausenhof der Grundschule, die ebenfalls zum Schulzentrum gehörte. Die ersten kleinen Kinder waren auch schon aus dem Schulgebäude gelaufen und wuselten in ihren bunten Anoraks überall herum. Im Nu wurden es immer mehr. Das Geschrei ihrer schrillen Stimmen war unbeschreiblich.
Die Gruppe Siebtklässler schob sich auf die Fahrradständer vor dem Zaun zu. Einige boxten oder jagten sie sich dabei zum Spaß. Dass die letzten beiden Stunden unverhofft ausfielen, hatte die Schüler sehr ausgelassen gemacht. Inzwischen hatten sie den Jungen am Zaun fast erreicht. "He, Schabe, du Masafucker! Warum gehst du nicht nach Hause? Traust dich wohl nicht, was?" Unter lautem Gelächter ketteten sie ihre Fahrräder ab. Wie ein Schwarm fuhren sie einer nach dem anderen in kurzen Abständen der offenen Seite des Schulhofes entgegen.
Ein schmächtiger Junge mit schwarzen Haaren und einem spitzen Vogelgesicht blieb stehen und machte sich an seinem roten Rad zu schaffen. "Wenn ich du wäre, Schabe," kicherte er, "würde ich aufpassen. Es sei denn, du liegst gern im Dreck." Bevor er auf sein Rad stieg, rammte er dem schweigenden Jungen am Zaun noch schnell das Vorderrad in die Kniekehlen. Dem knickten die Beine weg, aber es gelang ihm, nicht umzufallen. Seine graue Gesichtsfarbe wich ganz kurz einem flammenden Rot. Konzentriert beobachtete er weiter die spielenden Grundschulkinder und die Lehrerin, die ordnend zwischen ihnen umherging. Er sah nicht hin, aber er spürte, dass der Mitschüler auf dem roten Rad sich noch einmal nach ihm umdrehte, bevor er lachend davonfuhr.
Am liebsten wäre der Junge am Zaun auf den Schulhof der Grundschule hinübergegangen, aber das Tor in dem hohen Metallzaun blieb immer verschlossen. Die Grundschüler spielten Fangen um die dicken Baumstämme herum oder versteckten sich hinter den großen Büschen, die den ganzen Schulhof umsäumten. Einige zankten sich lautstark, wer als nächster an der Tischtennisplatte spielen durfte.
Der Junge am Zaun dachte an seine eigene Grundschulzeit zurück. Damals hatte man ihn noch David genannt. Heute benutzte niemand mehr seinen richtigen Namen. Er war einfach Schabe oder der Masafucker. "Masafucker" hatte auch jemand mit schwarzem Filzstift auf seinen Rucksack und in fetten Buchstaben auf den Tisch geschmiert, an dem er ganz hinten allein saß. Auch an der Tafel hatte das Wort schon gestanden. Was "Masafucker" eigentlich bedeutete, konnte niemand so genau sagen. Klar war nur, dass es sich um ein ungeheuerliches Schimpfwort handelte.
David seufzte. Einen richtigen Freund hatte er noch nie gehabt. Aber früher war es nicht so schlimm gewesen in der Schule. In den Pausen hatten sie ihn mitspielen lassen. Und geärgert oder verprügelt und verhöhnt hatten sie ihn auch nicht.
Brüllendes Gelächter drängte sich in seine Gedanken. Verstohlen sah er nach rechts. Eine weitere Gruppe Schüler, die in seiner Klasse waren, hatte sich unter dem Vordach der Pausenhalle um Gerrit zusammengerottet. Sie sahen zu ihm herüber und winkten ihm zu. "He Schabe, du Masafucker, was stehst du da herum?" schrie Gerrit, der alle anderen überragte.
David merkte, wie sich sein Magen wieder zusammenkrampfte. Eine Welle von Übelkeit schwappte in ihm hoch. Sein Gesicht wurde noch eine Spur farbloser. Hoffentlich warteten sie nicht auf ihn! Hoffentlich lauerten sie ihm nicht auf, so wie gestern, als sie ihn auf dem Heimweg vom Rad gerissen und zusammengetreten hatten, als er am Boden lag. Hoffentlich würde er die großen violetten Flecken am Körper weiterhin vor seiner Mutter verbergen können. Sie hatte schon einmal versucht, ihm zu helfen, und war zum Direktor gegangen. Der Direktor hatte damals gemeint, David wäre selbst schuld, aber er hatte trotzdem mit der Klasse gesprochen. Was bei diesem Gespräch gesagt worden war, wusste David nicht, denn man hatte ihn hinausgeschickt. Aber danach war alles nur noch schlimmer geworden.
"He, Schabe! Du Masafucker! Komm doch rüber, wenn du dich traust!"
David tat, als hätte er nichts gehört. Zwischen ihm und seinen Mitschülern lag eine riesige Pfütze. Hoffentlich würden sie ihn nicht gleich hineinstoßen. Oder ihm seinen Rucksack entreißen und den Inhalt in diese Wasserlache kippen, so wie neulich. Alle seine Hefte hatte er wegwerfen müssen, weil die Tinte darin so zerlaufen war, dass man nichts mehr lesen konnte. Seine Bücher hatte er auf der Heizung getrocknet. Sie waren ganz wellig geworden. Die Lehrer hatten ihn deshalb getadelt und von ihm verlangt, in Zukunft besser auf seine Sachen Acht zu geben. Wie wütend hatte ihn damals das unterdrückte Kichern in der Klasse gemacht! Seiner Mutter hatte er aber nichts gesagt, sondern ihr erzählt, eine Mineralwasserflasche wäre in seiner Schultasche ausgelaufen. Er wollte sie nicht dauernd aufregen. Sie litt sehr darunter, dass man ihn so quälte, und sie hatte im Augenblick schon genug Sorgen, nachdem Vater fortgegangen war.
"Schabe, du Masafucker! Warum fährst du denn nicht nach Hause?" Das war wieder Gerrits höhnische Stimme.
Die dumpfen Bauchschmerzen, die David schon den ganzen Morgen verspürt hatte, wurden schlagartig zu heftigen Bauchkrämpfen. Er krümmte sich leicht. Hoffentlich merkte niemand was! Vielleicht würde er gleich wieder rennen müssen. Diese ewigen Durchfälle machten ihm zusätzlich das Leben schwer. Wahrscheinlich schmeckte ihm auch deshalb fast gar nichts mehr. Inzwischen waren ihm alle seine Hosen viel zu weit geworden. Wenn er keinen Gürtel anhätte, würden sie einfach an ihm hinuntergleiten. Seine Mutter war deshalb mit ihm schon mehrmals zum Arzt gegangen, aber der konnte auch nicht helfen. Kein Medikament hatte bisher etwas genützt.
David dachte nach. Die Toiletten waren im Gebäude, aber wenn er dorthin wollte, müsste er an seinen Mitschülern vorbeigehen. Das war zu gefährlich. Gerrit könnte ihm ein Bein stellen. Oder sie würden ihn schubsen und ihm Schimpfwörter hinterherrufen . Er atmete tief und gleichmäßig durch. Der schneidende Schmerz in seinem Leib ließ nach, und er entspannte sich. Es wäre wirklich besser zu warten, bis sie alle gegangen waren.
Der Schulgong kündigte das Ende der Pause an. Bald war David ganz allein auf dem Schulhof mit der Gruppe, die sich um Gerrit geschart hatte. Hinter den zugeschlossenen Fenstern im Schulturm sah man ab und an Schüler, die in ihre Klassenzimmer zurückgekehrt waren. Sie bewegten sich, schienen mit geöffneten Mündern zu rufen, aber man konnte nichts hören.
Für einen Augenblick blieb es ganz still. Dann hörte David wieder, wie die Jungen vor der Pausenhalle laut auflachten. Sie flüsterten miteinander, stießen sich in die Seite und sahen andauernd zu ihm herüber. Einer der Jungen kramte in seinem Rucksack und holte schließlich eine leere, durchsichtige Plastikflasche heraus. Gerrit nahm die Flasche und machte sich damit auf den Weg. "Viel Erfolg!" riefen sie ihm hinterher.
Auch als Gerrit verschwunden war, hörte das Feixen nicht auf. "He, Schabe, du Masafucker! Gleich wirst du dich wundern!"
Die Sonne kam unvermittelt hervor und brannte mit solch unerwarteter Wucht auf den nassen Beton, dass er zu dampfen begann. Mit einem Schlag wurde die Luft so schwül und stickig, dass es schwierig für David war, sie zu atmen. Er hatte das Gefühl, als ob sie auf halbem Weg in seine Lungen einfach stecken bliebe. David zog seinen Anorak aus.
"Na, Schabe, schwitzt du schon? Warte nur ab! Gleich gibt's eine Abkühlung!" Es war offensichtlich, dass sie etwas ausgeheckt hatten.
Die Übelkeit und die Krämpfe wurden wieder stärker.
In diesem Augenblick kam Gerrit zurück. Er hielt etwas unter seinem Anorak verborgen, das er den anderen verstohlen zeigte. Sie schrieen und johlten und klopften ihrem Anführer anerkennend auf die Schulter.
Der Druck in Davids Bauch wurde so stark, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Stocksteif stand er da und versuchte zurückzudrängen, einzuhalten, sich der Gewalt in seinem Darm entgegenzustemmen.
"He Schabe, du Masafucker! Hast du Durst?" klang es zu ihm herüber. Die Gruppe mit Gerrit vornweg hatte sich zu ihm auf den Weg gemacht.
"Nein!" stieß David hervor. Kleine kalte Schweißperlen hatten sich auf seiner Oberlippe und seiner Stirn gebildet.
Als die Jungen ihn fast erreicht hatten, blieben sie stehen. Gerrit löste sich aus der Gruppe und näherte sich ihm betont langsam. In der Hand hielt er die Plastikflasche, die mit einer dunkelgelben Flüssigkeit gefüllt war. Diese Flüssigkeit musste warm sein, denn die Flasche war beschlagen. David sah deutlich die kleinen Wassertropfen, die sich an der Flaschenwand abgesetzt hatten.
"Bist du sicher, dass du keinen Durst hast?" Gerrit grinste und hielt ihm die Flasche vor das Gesicht. David presste die Lippen zusammen und nickte.
"Na, wenn das so ist, dann brauchst du das ja nicht!" Mit diesen Worten goss er den Inhalt der Plastikflasche über Davids Kopf aus.
Noch ehe David richtig begriff, was sie mit ihm machten, geschah es. Eine Explosion entlud sich in seine Hose. Man roch sofort, was passiert war. Reglos stand er da. An seinen Beinen lief es herunter. Sein Hosenboden klebte ihm am Körper. Auch über sein Gesicht rann etwas Warmes und tropfte auf seine Schultern und Arme.
Sie hielten ihn an beiden Armen fest und grölten. Als sie ihn nach endlos langer Zeit schließlich losließen, ging er steifbeinig auf sein Fahrrad zu. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, als er sich bückte und das Schloss mit zitternden Fingern entsicherte. Gerrit und seine Freunde hielten sich die Bäuche vor Lachen. Sie prusteten, rangen nach Luft, schossen immer wieder neue Lachsalven ab.
Unter ihrem Beifallklatschen stieg er auf sein Rad und fuhr davon. Noch lange hörte er, was sie ihm nachriefen: "Hosenscheißer, Hosenscheißer, Hosenscheißer!"
Als David am nächsten Tag zur Schule kam, hatten es alle schon gehört. Kaum dass er um die Ecke gebogen war, ging der Sprechgesang los: "Masafucker! Hosenscheißer! Schabe ist ein Hosenscheißer!" Das Lachen wollte kein Ende nehmen.
David blieb am Pult stehen und griff in die Tasche seines Anoraks. Er holte ein Päckchen hervor, das auf den ersten Blick aussah wie ein in Pergamentpapier gewickeltes Butterbrot.
"Schon Hunger, Masafucker? Willst du vielleicht einen Schluck dazu trinken?" Das war Gerrit. Unter dem Hohngelächter der anderen schlenderte er auf David zu.
David sah ihm entgegen. Er stand ganz ruhig. In der Hand hielt er das Päckchen, dessen Inhalt auf den zweiten Blick weich aussah.
Als Gerrit dicht vor ihm stand, ging auf einmal alles sehr schnell. Mit einem Griff reißt David das Päckchen auf, drückt den Inhalt in Gerrits Gesicht und verreibt ihn. Gerrit steht wie erstarrt. Fassungslos sehen die anderen zu. Gerrits Gesicht ist dunkelbraun verschmiert, klebrige Klumpen hängen in seinen Haaren. Er stößt einen Schrei des Entsetzens aus, schüttelt sich, hustet und spuckt.
Noch lange hielt sich der Geruch im Raum, obwohl Gerrit sofort danach gegangen war. David wurde vom Lehrer zum Direktor und nach einem kurzen Gespräch erst einmal nach Hause geschickt.
Ein paar Tage gab es nur ein Gesprächsthema an der Schule: Gerrit und Schabe. Der Direktor hatte schnell entschieden. Schabe bekam einen schriftlichen Verweis. Gerrit nicht, denn niemand konnte genau sagen, was er dem Masafucker eigentlich über den Kopf geschüttet hatte. Wahrscheinlich wäre es doch nur Limonade gewesen, hieß es.