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Schandfleck
Ich stehe vor Toms Haustür und drücke den Knopf der Gegensprechanlage, neben dem sein Name steht. Als sich längere Zeit niemand meldet, drehe ich mich um und steige die Stufen hinab. Plötzlich ertönt Tom’s grunzende Stimme durch den Lautsprecher.
„Hmmmnnsis...“
Ich gehe zurück und neige meinen Kopf zum Mikrofon.
„He, ich bin’s. Mach auf.“
Zehn Sekunden tut sich nichts, ich höre lediglich statisches Rauschen. Schließlich ertönt ein Summen und das Eingangstor geht mit einem klackenden Geräusch auf.
Der Anblick von Tom ist mit einem Wort erschütternd. Dunkle Augenringe und ein Bartstoppelfiasko zieren sein Gesicht, irgendeine eingetrocknete Substanz klebt an seinen Lippen und seine Augen sind rot. Ein einst weißes T-Shirt flattert an seinem Oberkörper herum und ist gesprenkelt mit Essensflecken und Löchern, die zweifelsohne von Zigaretten- oder Jointglut stammen. Er sieht einfach beschissen aus. Dennoch breitet er grinsend die Arme aus, als er seine Wohnungstür öffnet, um mich hereinzulassen.
Es stinkt erbärmlich und als er die Tür hinter mir schließt, überkommt mich ein kurzes Schwindelgefühl, bis ich schließlich nur mehr flach durch den Mund atme. Ich umarme ihn kurz und setze mich schnell auf die Lehne des Sofas – die einzige Stelle, die ich ausmachen kann, von der ich nicht denke, mir irgendeine juckende, blutige Infektion zu holen. Tom steckt sich eine Zigarette in den Mund und setzt sich mir gegenüber auf einen Sessel. Lächelnd inhaliert er blauen Rauch und schüttelt schließlich langsam seinen Kopf.
„Mann, dich hätte ich echt nicht erwartet.“
Ich sehe ihm in die Augen und versuche, meinen Bruder zu sehen. So wie er noch vor fünf Jahren ausgesehen hat. Jung, kräftig, zuversichtlich in die Zukunft blickend. Es ist nichts mehr da. Der Typ, der mir gegenübersitzt, sieht meinem Bruder nicht mal mehr wirklich ähnlich. In den paar Minuten, die ich in seiner Wohnung bin, wird mir klar, wie sehr ich diese Angelegenheit hinter mich bringen will.
„Ich dachte, ich seh mal nach, was du so treibst. Wie geht es dir?“, frage ich ihn.
Er lächelt mich schief an, als hätte ich einen schlechten Witz erzählt.
„Komm schon ... wie’s mir geht?“
Er breitet seine Arme aus und deutet auf den Raum.
„Sieh dich doch mal um. Wie soll es mir schon gehen?“
Er nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette, deren Filter bereits angekokelt ist und drückt sich die Glut danach in die Handfläche. Ohne mit der Wimper zu zucken und immer noch traurig lächelnd läßt er die Kippe danach auf den Boden fallen.
„Wie soll es mir schon gehen?“, wiederholt er leise, das Lächeln verschwindet so schnell wie es erschienen ist. „Seit fünf Jahren gibt keiner von euch einen Scheißdreck auf mich. Seitdem July gestorben ist, habe ich keinen mehr von euch gesehen oder gehört. Weder Mutter noch Vater. Isi nicht und Sami nicht und dich auch nicht. Es war, als hättet ihr mich alle verstoßen. Und plötzlich.. wow! Plötzlich stehst du vor meiner Tür. Der verloren geglaubte Bruder.“
Ich versuche den Augenkontakt zu halten, immerhin gibt es Gründe, warum keiner in der Familie mehr was mit Tom zu tun haben wollte, aber ich schaffe es nicht und wende schließlich verlegen den Blick ab.
Es schmerzt, den Namen July zu hören. Nachdem mich meine Frau, ohne mir jemals die Gründe zu nennen, verlassen hatte, war sie der einzige Mensch gewesen, der es geschafft hatte, mich auf andere Gedanken zu bringen. Sie war Toms Frau und starb auf eine furchtbare Art und Weise. Niemand sollte so abtreten müssen. Dummerweise war sie, als der Lastwagen von der Straße abkam und ihren halben Körper in ein Fiasko aus Blut, zersplitterten Knochen und Eingeweiden verwandelte, auf dem Weg zu mir. Tom hat nie erfahren, dass wir ein Verhältnis hatten. Dass sie nicht gestorben wäre, wenn wir uns an diesem Tag nicht in einem billigen Hotel getroffen hätten. Dass sie noch leben würde, wenn ich sie nicht angerufen hätte um sie zu bitten dorthin zu kommen, nur weil ich fickrig war wie ein beschissener Straßenköter. Ihr hatte die Sache scheinbar immer mehr bedeutet als mir und erst als ihr Tod langsam auch in mein Bewußtsein zu sickern begann, fing ich an, sie immer mehr zu vermissen. Tom hatte keine Ahnung, dass ich Schuld war am Tod seiner Frau. Aber er würde es erfahren. Deswegen war ich hier.
„Du hast versucht dich umzubringen.“, gebe ich schließlich lahm von mir.
Er sieht mich kopfschüttelnd an.
„Mein Leben, meine Entscheidung.“
„Aber du hast versucht, uns alle mitzuvergiften.“
Er verzieht den Mund zu einem schiefen, verlegenen Grinser.
„Ja, das war wohl nicht eine meiner besten Ideen. Keine Ahnung, ich dachte, ich nehm euch einfach mit, wenn ich abtrete. Irgendwie dachte ich, ihr wärt an allem mit Schuld gewesen.“
Bilder von unserem Krankenhausaufenthalt huschen durch meinen Kopf. Magen auspumpen, Infusionen, Übelkeit, Krämpfe, Scheiße und Pisse, die nicht im Körper bleiben will ... keine Ahnung, wie jeder einzelne von uns die Strychninvergiftung hatte überleben können. Ein Arzt hatte vermutet, dass Tom die Dosis einfach zu niedrig gehalten hatte. Etwas, was ich bis heute nicht verstehen kann. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich einfach das gesamte Zeug ins Kartoffelpürree gemischt und fertig. Aber dann würde ich jetzt wohl nicht hier sitzen.
Ich bin gerade im Begriff, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, damit ich ihm endlich gestehen kann, dass July wegen mir gestorben ist, als Tom aufsteht, eine kleine Holzbox aus einer Kommode holt, sich wieder hinsetzt und sein Spritzbesteck vor mir ausbreitet. Ich verziehe keine Miene, schließlich will er mich bewusst schockieren.
„Macht dir doch nichts aus, oder?“.
Er sieht mich schelmisch lächelnd an. Ich schüttle den Kopf.
Er stellt einen verbogenen Löffel auf und schüttet ein weißes Pulver aus einem kleinen Papierbriefchen hinein. Mit einer Spritze zieht er etwas Wasser aus einem Glas und tröpfelt es auf das Pulver.
„Verdammt schwierig, heutzutage guten Stoff zu finden.“
Er schiebt einen kleines, bunsenbrennerartiges Ding unter den Löffel und drückt auf einen kleinen Knopf auf der Seite. Fauchend schießt eine kleine blaue Flamme empor und beginnt die Unterseite des Löffels zu erhitzen.
Ich weiß seit Jahren, dass Tom fixt. Aber dass er sich hier derartig vor mir entblößt, hat irgendwie etwas Exhibitionistisches. Soweit ich weiß, ist es verdammt untypisch für Heroinsüchtige, diesen Prozess mit Nicht-Junkies zu teilen. Keine Ahnung, was er versucht mir hier zu beweisen. Vermutlich mag er sich das Zeug einfach nur reinballern, damit er sich nicht mehr um mich kümmern muss. Wenn er sich den Schuss setzt, ist er unbrauchbar und kommt wer weiß wann wieder zu sich. Ich habe nicht mehr viel Zeit.
Als sich das Pulver komplett aufgelöst hat und zu blubbern beginnt, stellt Tom den Brenner ab und lässt etwas Watte, die er zu einem Kügelchen zusammengerollt hat, in die trübe Flüssigkeit fallen. Er schnappt sich eine kleine Metallspritze, steckt die Nadel in den Wattebausch und zieht die Spritze mit der Flüssigkeit im Löffel auf. Plötzlich wirft er mir einen Blick zu.
„Schon mal probiert?“
Er hält die Spritze hoch. Ich schüttle meinen Kopf.
„Lust auf ne Dosis?“ Er lächelt mich diabolisch an. Ich schüttle erneut den Kopf.
„Ist vermutlich besser. Der Scheiß macht echt süchtig, weißt du?“
Lachend tippt er mit seinem Daumennagel seitlich an die Spritze.
Ich verlagere mein Gewicht auf der Couchlehne, als ich merke, dass meine rechte Arschbacke eingeschlafen ist, überlege es mir dann doch anders und stehe plötzlich auf. Tom sieht zu mir auf. Er denkt, ich will jetzt schnell raus aus diesem Loch und steht ebenfalls auf, um mich zur Tür zu begleiten. Als ich mich aufrichte, spüre ich, wie der Lauf der Glock, die ich hinten in den Bund meiner Hose gesteckt habe, in meine Kimme rutscht. Ich schlucke. Jetzt muss alles sehr schnell gehen. Ich muss ihm erzählen, was passiert ist und danach kann ich mir eine Kugel verpassen. Deswegen bin ich hier.
Bilder von diversen Klinikaufenthalten huschen durch meinen Kopf. Sedative, Krämpfe, Lederriemen, Pfleger, die lachend Zigaretten auf meinem Rücken ausdrücken ... es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, die ganze Angelegenheit wäre spurlos an mir und meinem geistigen Zustand vorübergegangen.
Tom geht in Richtung Tür, ich bleibe stehen.
„Ich bin schuld an Julys Tod.“, sage ich schließlich.
Er bleibt stehen und dreht sich zu mir um.
„Hm?“
Ich schlucke. Mein Hals ist trocken wie der Anus eines Kamels im Sandsturm.
„Ich bin schuld an Julys Tod.“, wiederhole ich krächzend. „Wir hatten ein Verhältnis. Nachdem mich Sarah verlassen hat, wusste ich weder ein noch aus. Eines Tages rief sie mich an und wollte sich mit mir treffen. Es ist einfach irgendwie passiert. Sie hat sich auf mich gestürzt wie verrückt, aber ich habe sie nicht abgewiesen. Nach dem ersten Mal konnten wir nicht aufhören. Ich wusste, dass ich etwas Schlechtes mache, aber ich konnte es einfach nicht beenden.“
Ich spüre, wie mir der Schweiß aus jeder einzelnen Pore meines Körpers ausbricht. Tom steht vor mir und sieht mich einfach nur stumm an. Ausdruckslos, wie eine Statue.
„An dem Tag, an dem sie gestorben ist ...“ Ich schließe meine Augen, als ich merke, dass sie tränen. Muss wohl die trockene Luft hier drin sein.
„An dem Tag.. sie war auf dem Weg zu mir, wir wollten uns treffen. Sie war zu Fuß unterwegs und kurz vor dem Hotel hat sie der LKW erwischt. Ich bin schuld an ihrem Tod, Tom. Hätte ich die Finger von July gelassen, wäre das alles hier nicht passiert.“
Tom sieht mich immer noch fassungslos an, geht zur Couch und lässt sich hineinfallen. Er fährt sich mit der Hand durch sein langes, fettes Haar und schließt seine Augen. Während ich nachdenke, ob ich noch irgendetwas hinzufügen kann, ehe ich mir das Hirn rausballere, scheint er in Gedanken meilenweit entfernt zu sein.
„Es tut mir leid.“, schluchze ich. „Oh Gott, Tom, es tut mir so leid.“
Meine Hand greift nach hinten zum Bund meiner Hose, ich fasse den Griff der Glock und ziehe sie heraus und lasse die Hand kurz seitlich an meinem Körper baumeln. Okay, Zeit zu gehen. Ich hebe meinen Arm, lade durch und entsichere die Waffe. Als Tom das Geräusch vernimmt, zuckt er kurz zusammen und öffnet ein Auge um einen Blick auf das zu werfen, was sich da vor ihm abspielt. Nachdem ich zweimal tief durchgeatmet habe, schließe ich fest meine Augen, und ramme den Lauf, aufwärts gerichtet, gegen meinen Gaumen.
„Sie hat es dir nie erzählt, oder?“, fragt Tom schließlich. Ganz ruhig, so als würden wir beide auf einer Parkbank sitzen und uns über Börsenkurse unterhalten. Ich halte inne und öffne meine Augen.
„Waff?“
„Sarah. Sie hat es dir nie erzählt, richtig?“
„Waff erfähl?“ Spucke schwappt von meiner Unterlippe und rinnt die Oberseite des Laufs hinunter.
„Von ihr und mir.“
Mein Herz setzt zwei Schläge lang aus.
„Nimm doch die Knarre aus dem Mund.“ Tom deutet auf die geladene, entsicherte Waffe, die immer noch in meinem Mund steckt. In Zeitlupe ziehe ich den Lauf aus meinem Mund und lasse den Arm sinken. Wovon zum Teufel redet er da eigentlich?
„Wovon zum Teufel redest du da eigentlich?“, krächze ich schließlich, als ich genug Energie für einen ganzen Satz aufbringe.
Tom legt die Spritze, die er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hat, auf den Tisch zurück und lehnt sich langsam zurück
„Sarah. Sie und ich hatten ein Verhältnis. Bei der goldenen Hochzeit von Mutter und Vater ist es das erste Mal passiert. Im Gartenhäuschen hinter dem Rosenbeet. Wir haben Bier getrunken um von der Menschenmenge wegzukommen. Wir haben uns unterhalten und da ist es einfach passiert.“
Bilder von der Feier huschen in Ansätzen durch meinen Kopf. Hauptsächlich kann ich mich noch daran erinnern, mir die Seele aus dem Leib gekotzt zu haben, nachdem ich mich mit Sarah über irgendeine lächerliche Sache gestritten und mir danach mit einer Flasche Scotch die Hucke vollgesoffen habe. Ich sehe sie leibhaftig vor mir, wie sie wutentbrannt aus der Küche meiner Eltern stürmt, eine Bierflasche in der Hand.
Langsam gehe ich zur Couch und setze mich, nachdem ich die Glock neben die Spritze auf den Tisch gelegt habe, neben Tom. Mir ist schwindlig und tausend Gedanken schießen durch meine geschundene Birne. So sitzen wir eine Weile stumm nebeneinander, ohne dass sich einer rührt.
„Es tut mir leid.“, sagt Tom schließlich. „Ich wollte, das alles wäre nicht passiert. July hat davon erfahren und wollte es mir heimzahlen.“
Ich lehne mich zurück und schüttle den Kopf, als Tom das ausspricht, was mir soeben unter anderem durch den Kopf gegangen ist.
„Es tut mir so leid, Kleiner.“, wiederholt er. „Hätte ich die Finger von Sarah gelassen, wäre das alles nicht passiert.“
Als ich meine Augen öffne, bricht ein Seufzer aus mir heraus und plötzlich fühle ich mich, als hätte man mir eine Zentnerlast von den Schultern genommen. Es könnte doch noch alles gut werden. Der schäbige Raum, den Tom sein Wohnzimmer nennt, sieht plötzlich weniger blass aus und der muffelige Geruch scheint verschwunden zu sein. Die Brandnarben auf meinem Rücken scheinen aufgeregt zu pulsieren, so als wollten sie mir sagen, dass sie sich für mich freuen.
Ich drehe meinen Kopf und werfe meinem Bruder einen Blick zu. Er sieht mich an wie ein kleiner Junge, den man beim Wichsen erwischt hat. Mir wird schlagartig bewußt, dass er tatsächlich Schuld an der ganzen Sache hat. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, mir die Glock zu schnappen und das gesamte Magazin in ihn zu entleeren, als mir die Spritze einfällt, die daneben liegt. Nein, seine Methode dauert länger. Seine Methode ist genauso todsicher. Und falls nicht, kann ich die Sache immer noch beenden.
„Lust auf Pizza?“, fragt mich Tom schließlich, nachdem wir scheinbar eine Ewigkeit stumm nebeneinander vor uns hin gebrütet haben. Ich überlege kurz.
„Scheiß drauf, warum nicht? Gehen wir.“, sage ich.
Und wir scheißen drauf.
Und wir gehen.