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Schatten an der Wand
Es ist ein ganz normaler Tag. Du bist vor einigen Minuten aufgestanden und stehst jetzt in der Küche, um Kaffee zu kochen, wobei du darüber nachdenkst, was du heute als nächstes tust. Du bist dir nicht ganz sicher; vermutlich wirst du dich mit deinen Freundinnen treffen, nachdem du die ersten Stunden deines Urlaubs genossen hast. Wahrscheinlich kannst du es kaum erwarten, aus der Wohnung und in die City zu gehen, um das Wetter zu genießen und nach einem hübschen Jungen die Augen zu verdrehen. Du wünschst dir schon lange einen Partner, der dir deine geheimsten Sehnsüchte und Wünsche erfüllt. Aber du bildest dir ein, daß kein Mann eine Frau wie dich haben will und daß du es eigentlich nicht wert bist, einen Mann zu haben.
Du irrst dich! Du weißt es nur noch nicht.
Du hast noch Zeit, bis der Kaffee durchgelaufen ist, also beschließt du, noch zu duschen. Im Bad ziehst du dich aus und betrachtest dein Bild im Spiegel. Dein Gesicht ist noch verschlafen. Du blickst an dir hinab und stellst fest, daß dein Körper schlanker ist und deine Brüste runder sind, als du zugeben willst.
Du bist schön! Du weißt es nur noch nicht.
Aber was bedeutet schon Schönheit? Du bist klug genug, um zu wissen, daß gutes Aussehen nicht alles ist, und daher hältst du dich auch immer zurück, wenn deine Freundinnen (tückische, zickige Weibsbilder ohne Verstand) davon reden, daß ihre Freunde (Kerle, die für diese Weiber nichts sind als Übergänge, Pausenfüller auf dem Weg zur „wahren Liebe“) immer wieder betonen, wie schön (und geil) ihr Äußeres ist. Bist du sicher, daß du solch einen Kerl haben willst? Einen solchen Liebessklaven? Natürlich willst du... Nein, du mußt! Weil deine Freundinnen auch einen haben. Weil du die einzige in ihren Reihen bist, die mit ihren 23 Jahren noch keinen festen Freund hat.
Ist es so einfach?
Das Rauschen der Dusche erinnert dich an einen Wasserfall, an deinen letzten Aufenthalt bei den Niagarafällen. Es ist wunderschön, beruhigend, und ein Teil deiner morgendlichen Sorgen fällt von dir ab. Du bist fast glücklich. Der Morgen hat erst begonnen; bis Mittag wirst du dich entschieden haben, was genau du tun wirst oder vorhast zu tun. Und im Moment glaubst du, daß du etwas vorhast. Vielleicht stimmt das...
Du trocknest dich ab, und dein langes, braunes Haar hängt in tropfenden Strähnen in deinem Gesicht und auf deinen Schultern. Du schlüpfst in den bereitgelegten Slip und gehst ins Schlafzimmer, um dir einen BH zu holen, bevor du wieder in die Küche gehst. Du ziehst den BH an. Du bist wunderschön, perfekt, fast göttlich.
Die Kaffeemaschine ist durchgelaufen, und als du die Kanne aus der Halterung nimmst, fällt ein Sonnenstrahl, der die Wolken durchbrochen hat, auf die kalten Fliesen und wärmt deine zierlichen Füße. Du fühlst dich wieder ein wenig besser und beschließt, den Tag in vollen Zügen zu genießen.
Das Frühstück liegt hinter dir. Du hast abgeräumt und sitzt nun im Wohnzimmer und blätterst in einer Zeitschrift (pseudointellektuelles Gequatsche von Leuten, die zu wissen glauben, was in der Welt vor sich geht). Du überfliegst eine Seite nach der anderen, ohne dabei überhaupt einen richtigen Gedanken an den Text und die Photos zu verschwenden.
Du blickst auf die Uhr an der Wand (ein tickendes, fast nostalgisches Stück deiner Inneneinrichtung) und erkennst, daß du seit über einer Stunde untätig herumsitzt. Du erhebst dich vom Sofa und gehst in den Flur. Deine Schuhe stehen vor der Garderobe, aber im ersten Moment kannst du nicht entscheiden zwischen den Turnschuhen und den Hochhackigen. Du denkst praktisch und entscheidest dich für die Turnschuhe, weil du bestimmt länger unterwegs sein wirst; drei, vielleicht vier Stunden. Du schlüpfst in die Schuhe, machst eine Schleife in die Schnürsenkel und betrachtest dich noch einmal im großen Flurspiegel. Dein kirschroter Pulli hebt sich harmonisch von der blauen, bequemen Jeans ab.
Jetzt weißt du, daß du hübsch bist, und ein Lächeln umspielt deine Lippen, die nicht durch Lippenstift verunstaltet sind. Deine Augen sind ein grau-grünes Meer, und dein braunes Haar hast du nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Deine Fingernägel sind kurz und unlackiert; du bist so anders als die Frauen, die du als deine Freundinnen bezeichnest. So ganz anders und daher besonders.
Du verläßt die Wohnung, das Haus, und trittst auf die Straße. Du genießt den kühlen Wind, der zwischen den Häusern hindurch weht und leise flüstert. Aber du verstehst nicht, was er dir sagen will. Du ignorierst es. Nichts wird dir heute die gute Laune verderben, absolut nichts. Du fühlst, wie die letzten Sorgen des Morgens von dir abfallen und wie du dich plötzlich zum Leben hingezogen siehst (diese kurze Zeitspanne, definiert durch Jahre, zwischen Geburt und Tod). Du spielst mit dem Gedanken, deine Freundinnen nicht zu besuchen, und du wirst es auch nicht tun. Dieser Tag gehört ganz allein dir, und du willst ihn dir durch die Anwesenheit dieser Schnepfen nicht verderben.
Zu Fuß dauert es nur zehn Minuten, bis du die Stadt erreicht hast. Du stellst fest, daß deine Wahl der Schuhe ausgezeichnet war, und mit jedem Schritt wird dir bewußt, daß du in dieser Beziehung cleverer bist als deine Bekannten (dein Verstand meidet das Wort Freundinnen), die nur in Stöckelschuhen und Cabrios die City aufsuchen, um zu protzen und ihre oberflächliche Schönheit zu präsentieren. Dekadent und abstoßend!
Du weißt, während du den Stadtteil, die Wohnsiedlung hinter dir läßt, daß du solche Freundinnen nicht benötigst und daß du dir heute einen netten Jungen angeln wirst, der genauso ist wie du – genauso anders.
Du überlegst, wie er aussehen könnte. Auffallend schlicht, nicht äußerlich schön, aber sympathisch. Der perfekte Mann. Obwohl du weißt, daß es den perfekten Mann nicht gibt, bist du doch überzeugt davon, daß einer existiert, der den Großteil deiner Erwartungen erfüllen kann. Du steckst deine Erwartungen glücklicherweise nicht allzu hoch – im Gegenteil zu den Frauen, die nicht so sind wie du, die nur an ihr Vergnügen denken. Du bist nicht so. Und du willst es auch gar nicht sein.
Du erreichst die City, und der Wind kühlt dein durch die Anstrengung erhitztes und gerötetes Gesicht. Du bist solche Spaziergänge nicht gewohnt, aber du willst öfter laufen. Es ist viel angenehmer, als in einem stickigen Auto zu sitzen. Du fühlst dich frei, so frei wie nie zuvor. Der Tag ist wie du: schlicht und ergreifend schön.
Dein Weg führt dich von der Hauptstraße fort in eine Gegend, die verlassen und dir nicht bekannt ist. Es interessiert dich nicht, wo du bist; du genießt deine Freiheit, deine Schönheit und die des Tages. Alles ist dir egal, auch der süße Junge ist aus deinen Gedanken verschwunden. Du wähnst dich am Ziel deiner Träume, und du willst es in vollen Zügen auskosten. Der Himmel strahlt für dich und nimmt dir die Angst.
Du bist schön...
Und du bist fest davon überzeugt, es zu sein!
Du spürst nicht, wie sich der Atem des Schattens auf deinen Nacken legt. Dieser Schatten ist dein Schicksal, die Erfüllung deiner Wünsche und Träume, die endgültige Freiheit. Er zieht dich in die Gasse. Du wehrst dich nicht, sondern läßt es, betäubt von der Schönheit dieses Schattens, über dich ergehen.
Dann, einen Moment lang, schlägt dein Herz so schnell, daß man das Pulsieren des Blutes fast hören, spüren kann, und du sinkst ein in die Tiefe, ins Schwarz des Schattens. Du gelangst zur absoluten Erkenntnis, alle deine Fragen werden in diesem Moment beantwortet.
Dein Blut pulsiert langsamer, während der Rhythmus deines Herzens immer ruhiger wird, bis er schließlich ganz verstummt.
Du bist glücklich...