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Schattenweg
Leise und warm suchte das Licht seinen Weg durch die schwere Kälte des Morgens. Wie Rosen, deren Knospen nach einem langen Winter aufspringen, erwachten die Lichtpunkte an der fahlen Wand des kleinen Raumes, wurden größer und heller, vereinten sich zu einer Fläche, die bedächtig ihren Weg an der Wand nach unten suchte. Als das Licht sein Gesicht traf, öffnete er zögernd die Augen, sah die warmen, blendenden Sonnenstrahlen und schloss sie sogleich wieder. Er spürte, wie die Kälte der Nacht, verdrängt durch die morgendliche Wärme, aus seinem Körper entwich. Tief atmete er durch die Nase ein, doch nur der abgestandene Geruch des winzigen Hotelzimmers strapazierte seine Geruchsnerven. Seine Sinne erwachten langsam und er bemerkte einen unangenehmen schalen Geschmack auf seiner schwer und trocken am Gaumen klebenden Zunge. Er versuchte sich zu erinnern. Zitternd tastete seine Hand über das Bett nach links, wo er den Nachttisch vermutete. Bald fand er das wacklige, schmale Tischchen, tastete sich weiter und stieß an ein Wasserglas. Erschrocken hielt er inne. Langsam kehrte die Erinnerung zurück, bruchstückhaft zunächst. Erstaunt stellte er fest, dass er überhaupt hier lag. Fähig zu denken, die verbrauchte Luft zu atmen, sich zu bewegen, zu schmecken und zu sehen. Das hatte er nicht erwartet, nach der gestrigen Nacht.
Erneut öffnete er die Augen, der Lichtfleck war inzwischen weitergewandert auf seine Brust und blendete ihn jetzt nicht mehr. Stattdessen breitete sich sanfte Helligkeit aus. Mit flatternden Lidern blickte er langsam im Zimmer umher, hörte sein eigenes Atmen und ein ansteigendes Durstgefühl verstärkte den ekligen, fauligen Geschmack in seinem Mund. Endlich drehte er den Kopf nach links zu dem kleinen, grauen Schränkchen neben dem Bett, sah das halbgefüllte Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, in der sich jetzt das Licht der Morgensonne spiegelte, und bemerkte schließlich auch die Tablettenröhrchen, die auf der Tischplatte lagen. Manche waren geöffnet und die leeren Hülsen starrten ihn an wie die dunklen Augen einer Bestie, die im Morgengrauen lauert. Die Bilder des letzten Tages, fragmentiert in seinem Kopf vorhanden, verdeutlichten sich nun mehr und mehr und fügten sich langsam zusammen zu einem Film, dessen Ende noch nicht geschrieben war. Unvollständig zunächst noch, aber immer deutlicher werdend, reihten sich düstere Szenen vor seinem geistigen Auge aneinander. Sie waren nichts anderes als die verzerrte Wiederholung dessen was bis gestern geschehen war. Er musste sich zwingen, den Reigen der Bilder zu unterbrechen und seine Gedanken der Frage zuzuwenden, ob es in dem Zimmer ein Waschbecken gab oder vielleicht sogar ein eigenes Badezimmer vorhanden war. Vage erinnerte er sich an das Geräusch von gurgelndem Wasser aus einem kalkigen Wasserhahn. Auf den Ellbogen stemmte er sich mühsam hoch und wunderte sich, dass er keine Kopfschmerzen verspürte. In den letzten Monaten hatte er morgens oft Kopfschmerzen gehabt, nicht aber heute. Der Geschmack nach kaltem Rauch und billigem Schnaps klebte immer noch in seiner Mundhöhle.
Mit einer endlos langsamen Bewegung setzte er sich endlich auf und schwang gleichzeitig seine Beine aus dem Bett. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er vollständig bekleidet war, selbst seine Schuhe hatte er noch an. Von einem plötzlichen Schwindelgefühl erfasst, stand er langsam auf, schwankte zwei, drei Schritte zur Seite und musste erneut die Augen kurz schließen. Die Sonne war mittlerweile weiter gewandert und ihre heller werdenden Strahlen zeichneten nun ein Muster auf das Bett, hervorgerufen durch die löchrigen Vorhänge, die ein schmutziges Fenster nur notdürftig verbargen. Mit schlurfenden Schritten ging er um das Bett herum, erkannte das Bad auf der anderen Seite und steuerte direkt darauf zu. Je näher er der Badezimmertür kam, umso genauer erinnerte er sich an den gestrigen Abend. Bei dem Gedanken daran beschleunigte sich sein Herzschlag und er musste tief durchatmen, bevor ihn die beklemmenden Bilder weiter trieben. Die Hand an der Klinke zur Badezimmertür, zögerte er noch einen Moment, bevor er sie herunterdrückte und den unbeleuchteten Raum öffnete. Seine Linke tastete zitternd nach dem Lichtschalter, fand ihn endlich und das plötzlich aufblitzende grelle Licht der nackten Glühbirne, die wie ein Gehenkter blass und reglos von der Decke hing, blendete ihn derart, dass er sich auf dem Absatz umdrehte. Langsam wendete er sich wieder der offenen Badezimmertür zu, trat einen vorsichtigen Schritt näher und suchte zögernd mit seinem Blick den kleinen, von hässlich-gelben Wänden gerahmten Raum ab.
Links befand sich eine schmutzig-graue Kloschlüssel, direkt vor ihm das Waschbecken, rechts nur die nackte Wand. Keine Dusche, keine Badewanne. In Augenhöhe über dem Waschbecken befand sich ein Spiegel, in dessen halbblindem Glas er nach einiger Konzentration sein Gesicht wiederfand. Er erkannte sein unrasiertes Kinn und den schmallippigen, blassen Mund der sich, unter der etwas zu klein geratenen Nase, halb öffnete. Wirr hingen ihm wenige dünne Strähnen seiner grauen Haare in die Stirn. Seine Augen funkelten ihn entschlossen und herausfordernd an. Nachdem er sich einige Zeit verwundert im Spiegel betrachtet hatte glitt sein Blick wieder nach unten auf das Waschbecken, auf dessen Rand mehrere, teils geöffnete Tablettenröhrchen lagen, von der gleichen Art wie jene neben dem Bett. Er schluckte trocken, war sich zunächst nicht über die Bedeutung dessen, was er entdeckt hatte, bewusst. Dann sah er einige Tabletten im Waschbecken liegen, andere lagen auf dem Rand, weitere auf dem Fußboden rund um das Waschbecken herum verstreut. Verwirrt stöhnte er auf.
Hastig trat er nun in den kleinen, grell ausgeleuchteten Raum und blickte sich rasch um. Jetzt sah er auch im Toilettenbecken noch einige der milchig-weißen Pillen liegen, manche bereits im Wasser aufgelöst, als pulvrige Masse kleine pyramidenförmige Häufchen auf dem Beckenboden bildend. Plötzlich war der Film wieder da in seinem Kopf, und die Bilder von gestern spulten sich noch einmal ab, nun deutlicher, jedoch wie im Zeitraffer. Er sah den furchtbaren Streit, der die lange Zeit der Krisen und persönlichen Niederschläge beendet hatte. Wie ein reinigendes und zugleich zerstörendes Gewitter, das einen langen, heißen Sommertag donnernd abschließt. Die Schreie und Tränen, das Jammern und Wimmern, schließlich das Schlagen der Türen. Die gehetzte Autofahrt, nur unterbrochen, wenn er an Tankstellen oder Apotheken Halt machte, um sich die Whiskyflaschen und die verfluchten Tabletten zu besorgen. Die Höllenfahrt durch die stürmisch-regnerische Nacht, die ihn für immer aus dieser verfluchten Stadt bringen sollte. Auf irgendwelchen Autobahnen, deren Namen und Richtung er längst vergessen hatte, war er bis hierher gekommen, wo ihn die Leuchtreklame des billigen Motels, irgendwo in der einsamen, dunklen Landschaft, weit weg von der Stadt, zum Halten veranlasst hatte. Mit dumpfem Blick hatte er das schäbige Haus betreten, vom mürrischen Nachtportier irgendeinen Schlüssel empfangen und war sofort auf sein Zimmer gegangen. Draußen schien die Welt unterzugehen, so wie seine Welt vor wenigen Stunden zugrunde gegangen war. Der Regen trommelte prasselnd den Takt zur Melodie des heulendes Windes auf das Blechdach der billigen Absteige. Eine wahrhaft passende Abschiedsmelodie - „Das Lied vom Tod“. Dann, irgendwann in dieser Nacht, hatte er die Entscheidung getroffen. Die Entscheidung, die konsequenterweise am Ende dieser schmerzhaften Zeit stehen musste.
Langsam öffnet er eine Whiskyflasche, seine zitternden Hände haben Probleme mit dem Verschluss. Er schluckt mehrmals trocken, schafft es schließlich, die Flasche zu öffnen und gießt das auf dem Nachttisch stehende Wasserglas randvoll. Er zögert zuerst noch einen Augenblick und trinkt dann die bitter-malzig schmeckende Flüssigkeit in einem langen Zug aus, gierig wie ein Verdurstender. Das Zeug zeigt schnell seine Wirkung. Mit stierem Blick holt er die Packungen mit den Tabletten aus den verschiedenen Taschen seiner Kleidung und breitet sie auf dem kleinen, grauen Kästchen neben dem durchgelegenen Bett aus. Die Menge sollte reichen, um eine Elefantenherde auszurotten. Er öffnet das erste Röhrchen, blickt hinein, zögert und füllt das Glas noch einmal voll bis zum Rand. Er überlegt, ob er die Tabletten in der gold-gelben öligen Flüssigkeit auflösen soll oder ob er sie, eine nach der anderen, oder alle zusammen, schlucken und dann mit dem brennenden Getränk nachspülen soll. Er hebt erneut das Glas und ehe er sich versieht, ist es wieder ganz geleert. Seine Gedanken, dumpf und vernebelt, gehen noch einmal zurück, die letzten Monate und Jahre.
Er sieht, wie viel er zerstört hat, wie vielen Menschen er wehgetan hat, welche Beziehungen er kaputt gemacht hat, durch seine sture Egozentrik, seine Besessenheit, den kompromisslosen Egoismus. Doch er spürt auch die Schmerzen die ihm über all die Jahre selbst zugefügt wurden. Und er begreift, dass er selbst am Schluss dieses Vernichtungszuges steht, seine eigene Zerstörung. Ist das wirklich die letzte Konsequenz? Kann er durch seine eigene Vernichtung wieder gutmachen was er angerichtet hat und die Wunden heilen, die er gerissen hat? Narben, die entstanden sind, unsichtbar machen? Schmerzen, die er zu verschulden hat, lindern? Ist seine Selbsttötung etwa ein Akt der Entschuldigung für das was er getan hat? Wer wird ihm je verzeihen, wenn er sich so davonstiehlt, wie ein feiger Dieb mitten in der Nacht. Ohne die Verantwortung für das, was er zu verantworten hat, zu übernehmen. Einfach so abzuhauen, sich aus dem Leben, aus seinem und dem vieler anderer Menschen davonzumachen, ohne Abschied, ohne Entschuldigung. Es würde doch nichts ändern, nichts rückgängig machen. Die verbrannte Erde, die er hinterliess, würde nie mehr erblühen und die Menschen, denen er weh tat, wären nie mehr glücklich. Zweifelnd hin- und her gerissen von wechselnden Gefühlen und quälenden Gedanken, wandert Glas um Glas der bitteren Flüssigkeit in seinen gierigen Schlund. Längst hat er die zweite Flasche geöffnet, seine Sinne schwinden mehr und mehr und die Vergangenheit verschwimmt in einem undurchsichtigen Nebel. Bevor er seine Höllenfahrt fortsetzen und sein Vorhaben in die Tat umsetzen kann, fällt er plötzlich in einen langen, traumlosen und tiefen Schlaf.
Der billige Fusel hatte irgendetwas in ihm vernichtet, doch er war sich nicht klar darüber, was es war. Seine Verzweiflung war Verwunderung gewichen und er wusste nicht mehr, warum er es nicht zu Ende gebracht hatte. Er kehrte in das schäbige Zimmer zurück, zog den zerschlissenen Vorhang zur Seite, öffnete das Fenster und stand nun staunend vor einer traumhaft schönen Landschaft, die sich, von der gold-gelben Morgensonne übergossen, seinem staunenden Auge bot. Neugierig streckte er den Kopf zum Fenster hinaus, blickte sich um und sog die nach moosigem Waldboden riechende, frische Morgenluft tief in seine klebrigen Lungen. Der Sauerstoff erfüllte ihn wieder mit Leben, er pumpte sich voll mit dieser würzigen Luft, wie ein Säugling, der sich nach Stunden des Tiefschlafs gierig und ausgelaugt an der warmen Brust seiner Mutter labt.
Er weiß nicht mehr, wie lange er so am offenen Fenster steht und sich die wärmende Sonne ins Gesicht scheinen lässt. Wirre Gedanken sausen durch seinen Kopf, ohne, dass er genau einordnen kann, worum es geht. Als ein Vogel kreischend am Fenster vorbeifliegt, schreckt er auf und läuft wie gehetzt aus dem Zimmer, nach draußen auf den Parkplatz, der, bis auf seinen eigenen Wagen, vollkommen leer ist. Das Hotel scheint total verlassen, von keiner Menschenseele eine Spur. Er stürzt sich, von einer plötzlichen Unruhe getrieben, in sein Fahrzeug, startet und verlässt den Parkplatz mit quietschenden Reifen und aufheulendem Motor. Mit wahnsinniger Geschwindigkeit fährt er den Weg zurück, zurück in Richtung seiner Stadt. Nach einiger Zeit dreht er das Radio an. Hört unaufmerksam dem belanglosen Gedudel irgendeines Provinzsenders zu. Dann fällt sein Blick auf das Mobiltelefon, das auf dem Beifahrersitz liegt. Im Display kann er undeutlich erkennen, das zahlreiche Nachrichten und Anrufe eingegangen sind. Irgendwann steuert er seinen Wagen nach rechts, an den Straßenrand. Mit einem tiefen Seufzer nimmt er das Telefon zur Hand, lehnt den Kopf zurück und während er die Nachrichten liest und abhört, rinnen bittere Tränen über seine staubigen Wangen. Lange, nachdem er das Telefon abgeschaltet hat, setzt er den Wagen wieder in Bewegung.
Als sich der Staub, den die durchdrehenden Reifen aufgewirbelt hatten, langsam legte, konnte man einige Tablettenröhrchen in den sandigen, ausgewaschenen Spurrinnen liegen sehen. Manche waren leer.
Der Wagen wird auf dem endlosen Band der grauen Strasse schnell kleiner und verliert sich schließlich am Horizont. Die Sonne hat nun fast den Zenit erreicht und ihre heißen Strahlen brennen Löcher in den Asphalt der verlassenen Straße.