Scherben und Fragezeichen
Retrospektiv hätte ich niemals gedacht, dass die Scherben meines zerstörten Lebens so messerscharf und zahlreich sein würden. Scharf wie ein Messer – so glitt auch dieser alles verändernde Tag durch das, was ich neunzehn Jahre lang MEIN Leben genannt hatte. Ein lächerliches Possessivpronomen aus vier Buchstaben, das doch so viel Bedeutung in sich trägt. Neunzehn Jahre lang bedeutete es etwas. Dann hatte es aufgehört. Doch warum? Weil jemand, den ich liebte und von dem ich glaubte, wiedergeliebt zu werden, beschlossen hatte, diese Bedeutung zusammen mit seinem Gepäck mitzunehmen, als er mich für immer verließ.
Man sagt doch: Was dich nicht umbringt, macht dich nur härter. Leider hat diese vermeintliche Weisheit in Bezug auf mich ihre volle Wirkung entfaltet. Doch wurde ich überhaupt gefragt? Wollte ich, dass dieses Sprichwort Sinnbild für mein Leben wird? Rhetorische Fragen verlangen keine Antworten.
Wie konnte es eigentlich so weit kommen? Diesmal keine rhetorische Frage. Vielmehr eine Frage, auf die wohl nie jemand eine Antwort finden wird.
Nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, zähle ich nicht Schafe, sondern Fragezeichen. Es sind viele. Zu viele. Dann Stille, Endlosigkeit, Ausweglosigkeit, Bedeutungslosigkeit. Denn das Antonym Letzterer ist ja in Berlin. Dort, wohin ER sie mitgenommen hat, zusammen mit seinem Gepäck.
Die Scherben klirren. Ein Klang, der schlimmer ist als abgebrochene Kreide an der Tafel. Sie scheinen mich zu verhöhnen. Welch Ironie. Ich beginne, sie zu zählen. Sie erinnern mich unwillkürlich an die Fragezeichen aus meinen schlaflosen Nächten. Meine Synapsen arbeiten. Eine Erkenntnis ist unterwegs. Die Scherben und die Fragezeichen: ihre Menge ist identisch.
Zerstörtes Leben, Scherben. Ich könnte ihn wegen Sachbeschädigung zur Verantwortung ziehen. Wieder Konjunktiv. Der Modus der Feiglinge. Demnach muss er permanent davon Gebrauch machen. Oder wie sollte man ihn nach allem, was geschehen ist, sonst nennen? Wieder rhetorisch.
Ich war noch nie in Berlin. Vielleicht sollte ich endlich dorthin fahren und mir meine Bedeutung zurückholen, mein Possessivpronomen – aber ohne sein Gepäck.