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Schicksal
Mike saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher. „Spongebob Schwammkopf“ flimmerte über den Bildschirm. Grausam schwachsinnig. Er nahm einen Schluck aus der Colaflasche, die neben ihm auf dem Tisch stand. Seine Eltern waren zu einem Dinner eingeladen worden, das der Chef seiner Mutter organisiert hatte, um die Neuzugänge zu begrüßen, die sich in letzter Zeit in der Firma eingefunden hatten. Genauso schwachsinnig wie „Spongebob Schwammkopf“.
Mikes Freundin, Elizabeth, die ihn über alles liebte, saß vor dem Computer und unterhielt sich in einem Chat mit ihrer besten Freundin. Sie saß schon drei Stunden vor dem PC, wäre ihre Mutter zu Hause gewesen, hätte diese den Stecker gezogen und sie ins Bett geschickt. Auf der Uhr in der linken Ecke des Bildschirms stand: 22:54.
Sie kämmte ihre Haare. Ihre Haare waren ihr das Wichtigste an ihrem ganzen Körper. Wertvoll wie Gold. Ging sie zum Friseur, ließ sie sich höchstens die Spitzen schneiden, ansonsten nur färben oder tönen.
Ihr Vater war vor fünf Jahren an Thrombose gestorben. Das Blutgerinnsel war in seine Lunge gewandert. Es kamen nicht viele zur Beerdigung, denn viele Freunde hatten sie nicht und Verwandte, mit denen sie sich gut verstanden gar keine.
Als Elizabeths Mutter, Anika, vor Jahren sich alles Wertvolle aus der Wohnung ihres Vaters, der kurz zuvor gestorben war, unter den Nagel gerissen hatte, war sie endgültig bei ihren Schwestern unten durch. Keiner wollte mehr etwas von ihr wissen, da Anika nicht einmal im Nachhinein kooperativ war und alles gerecht aufgeteilt hatte.
Den 1200 Euro teuren Fernseher durfte Liza behalten. Sie fühlte sich jedes Mal schlecht, wenn sie daran dachte, wie ihre Mutter damals in der Wohnung herumgeschrieen hatte, weil ihre Schwestern sie so verschmähten. Sie hatten doch selbst kein Geld und hätten sich niemals so einen teuren Fernseher leisten können.
Anika saß im Auto Richtung Norden. Im Radio lief Don’t dream it’s over von Crowded House. Sie liebte dieses Lied. Laut sang sie mit und klopfte mit ihren Händen auf das Lenkrad. Die Melodie floss durch ihren Körper, wie ihr Vater gesagt hätte.
Mikes Eltern, John und Marie Underthell, fuhren Süden. John war nicht angeschnallt und beugte sich vor, um eine Zigarette aus der Schachtel zu nehmen, die auf dem Armaturenbrett lag. Der Highway war leer. Zwischendurch kam ihnen ein Wagen entgegen, aber nur selten. Es war spät. Kurz vor elf. Die Dunkelheit machte Johns Augen zu schaffen. Zum Glück wollte seine Frau nicht so lange auf der Party bleiben.
Ein Tag zuvor.
„Sollten sich unsere Eltern nicht endlich kennen lernen?“, fragte Mike Elizabeth, die sich die Decke bis unter das Kinn hochgezogen hatte. Zusammen lagen sie in seinem Bett und sahen sich einen Film an. Genug hatte er schließlich davon.
„Ja, schon“, antwortete Liza. „Ich spreche meine Mami heute drauf an, okay?“
„Jo, mach das“, entgegnete Mike und wandte sich wieder dem Fernseher zu. „Alles klar.“
Mike schlenderte an diesem Abend durch die Wohnung und nahm sein Handy. Er tippte wie wild herum und schrieb liebevoll grinsend eine SMS.
Liza schreckte auf, als neben ihr das Handy wie ein Tier zu knurren begann. Die Vibration war eingeschaltet und es bewegte sich langsam hin und her. Sie nahm das Mobiltelefon und öffnete die Klappe.
Sie lächelte, klappte das Telefon zu und hämmerte wieder auf die Tastatur des Computers.
Mike ging noch einmal ins Wohnzimmer, schielt den Fernseher und das Licht aus und legte sich ins Bett. Er schloss die Augen.
Ich liebe dich, dachte er. Und Jessica Alba.
Er lächelte und schlief ein.
Don’t dream it’s over wich Pet cemetery von den Ramones. Anika wühlte in ihrer Tasche und fand, was sie suchte. Ihr Brillenetui. Sie fummelte es auf und setzte sie sich auf die Nase.
Schon besser, dachte sie und blickte aufmerksam auf die Straße.
„Der Vollidiot redet nur Scheiße“, sagte John zu seiner Frau. „Was hat der eigentlich im Kopf außer Arbeit, Geld und Frauen?“
Zum Glück wusste John nichts von Maries Affäre mit ihm. „Ich weiß nicht.“
„So ein muschiorientiertes Arschloch!“, rief John aus und beide lachten.
Sie sahen sich, näherten sich einander und küssten sich. Kein Verkehr, also kein Problem.
„Scheiße, was soll denn das!“, rief Anika aus und schrie lauthals, als der ihr entgegen kommende Wagen einen Schwenker vollführte und die beiden Insassen hochschraken.
„Scheiße!“, schrie John. Marie gab einen einzigen, ohrenbetäubenden Schrei von sich. „Scheiße!“
John versuchte den Lenker herumzureißen. Zu spät.
Anika wollte ausweichen. Schaffte es nicht. Reifen quietschten. Metall splitterte. Metall krachte. Ein Airbag kam aus ihrem Lenkrad heraus geschossen. Eine Metallstange stach durch und durchbohrte ihren Kopf. Genau durch die Stirn. Sie wurde zurückgestoßen, blieb schlaff in ihrem Sitz liegen.
John wurde nach vorne geschleudert. Krachte mit dem Kopf gegen die Frontscheibe. Das Glas brach. Blut. Die gesamte Scheibe zerbarst. Er landete mit dem Kopf voraus auf dem Asphalt.
Marie schrie noch immer, als sie mit dem Kopf hart gegen das Handschuhfach krachte. Blut sickerte aus ihrer Nase, Speichel hing an ihrem Kinn herunter. Sie schielte, ihre Augen waren wie bei einem Zombie verdreht. Wie ein S-förmiger Fluss, floss das Blut um ihren Mund herum und an der Mitte ihres Kinns herunter.
Stille.
Knacken. Zischen.
Marie setzte sich auf. Sie wurde nicht ohnmächtig. Ihr Kopf schmerzte, aber das war ihr egal.
John?, fragte sie in Gedanken. Wo bist du? John?
Sie sah nach links. Kein John. Sie sah nach vorne. Eine Stange hatte den anderen Wagen durchbohrt und die Fahrerin erwischt. Aufgespießt. Sie beugte sich wieder nach unten und übergab sich würgend.
„John?“ Marie versuchte die Beifahrertür zu öffnen, aber das ganze Metall war verzogen. Vor einigen Sekunden ging alles noch so schnell, aber jetzt kam es ihr so vor, als stecke sie in einem Fernseher und jemand hätte Slowmotion gedrückt. Sie rüttelte und zog am Griff, aber nichts geschah.
Die Frontscheibe lag auf der Haube des anderen Wagens, der Anikas Leiche barg. Marie schnallte sich los. Ihre Hände zitterten und es kostete Zeit, die Schnalle zu öffnen. Der Gurt schepperte zurück und sie war frei.
Ängstlich, zitternd und verletzt schaffte sie es, ihren Körper durch die Frontöffnung zu bewegen. Ihr Hintern stieß an die obere Kante, in der noch ein Glassplitter steckte, der ihr schmerzhaft einen langen Schnitt am Rücken zufügte.
John?, fragte sie sich, als sie die Leiche ihres Mannes auf dem Asphalt, mitten auf der Straße liegen sah. „John!“ Sie schrie, weinte und sprang zwischen den zwei Autos hindurch zu ihm. „John!“ Jetzt flüsterte sie. Ihre Stimme bebte. Ihre Arme konnten nicht ruhig an einer Stelle liegen bleiben, sie wollte schreien, Hilfe holen, aber keine von beiden besaß ein Handy.
Ein Notruftelefon, ging es ihr durch den Kopf. Sie sah sich um. Keines zu sehen. Scheiße. Oh, Gott, scheiße, Schatz! Dein Kopf … So viel … Blut!
Die Platzwunde unter seinen, nicht mehr so dicht besiedelten, ergrauten Haaren sah schlimm aus. Unter der unglaublichen Menge des roten Safts hätte man die Schädeldecke sehen können, hätte man Wasser drüber gelehrt. Sein Kopf sah aus wie eine Tomate mit gelben Flecken, wobei die gelben Stellen seine unversehrte Haut waren. Die gesamte linke Gesichtshälfte war aufgeschürft, sein linkes Auge steckte nicht mehr richtig in der Höhle und sein anderes blickte blinzelnd, wild umher.
„Schatz“, flüsterte Marie, „Hilfe kommt bald. Irgendeiner muss hier vorbei kommen.“
Bill Pinkett rauchte genüsslich seine Zigarette und sah konzentriert auf die Straße.
Scheiße, dachte er, als das Scheinwerferlicht seines Trucks flackerte. So eine verdammte Scheiße! Doch nicht jetzt!
Er wusste, dass er an der nächsten Raststätte halten und es reparieren lassen müsste, falls seine Scheinwerfer nun ganz den Geist aufgaben.
Er hatte noch zwanzig Kilometer nach Norden vor sich und jetzt sollte er anhalten und die Scheiße von einem Mechaniker unter die Lupe nehmen lassen?
Nein, niemals, dachte er. Meine Frau wartet, mein Schwanz wartet und mein Sohn wartet ebenfalls.
Tränen flossen in Strömen ihre Wangen hinunter. An ihrem Kinn klebte eine Mischung aus Speichel, Erbrochenem und Blut. Ihre Hände waren ebenfalls voll von dem klebrigen, roten Zeug. Sie weinte, schluchzte und beugte sich über ihren Ehemann, der blutend dalag und wild mit dem rechten Auge zuckte. Das linke starrte bewegungslos gen Himmel.
Bill drückte seine Zigarette aus. Beugte sich nach rechts und achtete darauf, dass er jedes Glutstückchen erwischte. Die Straße war leer, warum sollte er auch Rücksicht nehmen?
Keine Warnung, kein Hinweis und kein Vorzeichen kamen.
Der riesige Truck überrollte die beiden sich auf dem Asphalt befindenden. Übrig blieb nur eine Blutspur. Die Stoßstange des Trucks erwischte Maries Kopf. Eine weitere Platzwunde. Blut strömte aus dieser zweiten heraus. Ihr Shirt verhakte sich an der Ecke der Stange. Sie wurde mitgezogen. Zwischen ihren Beinen befand sich das riesige Rad, das tödlich und angsteinflößend dicht an ihrer Vagina die Kilometer hinter sich brachte. Kritsch! Jetzt bekam Marie eine Warnung, aber sie war bewusstlos. Sie hörte es nicht. Kritsch! Das Shirt riss, sie stürzte, die Räder überrollten sie.
Die Leiche blieb auf dem Asphalt liegen und der Truck fuhr mit leuchtenden Rücklichtern davon. Die Scheinwerfer begannen zappelnd wieder zu leuchten.
Elizabeth war gegen halb eins ins Bett gegangen.
Sie schlief ahnungslos und träumte wieder einmal einen perversen Traum, die sie immer öfter bekam, seit sie mit Mike zusammen war und zum ersten Mal in ihrem Leben Sex hatte.
Ein Klingeln weckte und erschreckte sie. Sie fuhr ruckartig hoch und war schlagartig hellwach, als hätte sie eine Vorahnung gehabt.
Mike saß immer noch vor dem Fernseher und sah sich einen Horrorfilm an. Splatter – er liebte Splatter.
Viertel vor eins, dachte er, Mensch, Leute, wo bleibt ihr denn?
Er kaute an seinen Fingernägeln und spuckte die abgebissenen Stücke in den Raum.
Ein Klingeln ließ ihn hochschrecken und eine schreckliche Vorahnung staute sich in ihm. Er wusste nicht, was es war, aber er wusste, dass etwas war.
„Ja?“, fragte Liza und sah die zwei, in schwarz gekleideten, Männer an. Beide wirkten locker und gelassen, aber beide sahen unglücklich aus.
Was hab ich nur wieder angestellt? Diese Frage stellte sie sich und wartete auf eine Antwort.
Der linke Mann schnaufte, atmete tief durch, machte sich bereit zu reden. „Du oder ich?“, fragte er den neben ihm stehenden.
„Mach du“, antwortete dieser.
Der Mann, der zuvor gesprochen hatte, wühlte in seiner inneren Anzugstasche. „Mein Name ist Michael, nenn mich so.“ Nachdem er die zwei quaderförmigen, versiegelten Kärtchen gefunden hatte, sprach er weiter: „Ist das deine Mutter?“
Er nahm eines der Kärtchen und gab es ihr. Das andere steckte er wieder weg.
Tränenflüssigkeit sammelte sich unter ihren Augen. Sie nickte.
„Ja?“, fragte Mike, nachdem er die Wohnungstür geöffnet hatte. „Was gibt es so wichtiges, so spät?“
Der Mann in schwarz sah den anderen Mann in schwarz an. Sie nickten sich zu. Der linke kramte in der Innentasche seines Anzugs und nahm zwei Kärtchen heraus. „Nenn mich Michael. Kannst du mir sagen, ob das deine Eltern sind?“
Er gab Mike die zwei Kärtchen.
„Ja, das sind sie.“
Mike weinte nicht, unterdrückte den anmarschierenden Schmerz, der sich in seinem Hals und seinen Augen ausbreitete. Nach außen hin blieb er gelassen, aber innerlich zerrissen der Schmerz und die Trauer ihn fast.
Oh, nein, bitte nicht, bitte, bitte nicht, flehte er. Lass sie nicht tot sein, bitte! Innerlich war er am weinen, trauerte, schrie. Er wollte rennen. Wollte nichts von alledem wissen, davonlaufen und die zwei Männer stehen lassen, hinter sich lassen.
Von einer Brücke springen, bei ihnen sein, dachte er. Liza.
„Es tut mir leid, Junge“, sagte der, der ihm die Ausweise seiner Eltern gegeben hatte.
„Das ist nicht wahr“, schluchzte er. Tränen kullerten hinunter zu seinem Kinn und tropften auf den kühlen Beton. „Nein … nein.“ Er heulte, ging einen Schritt vor und umarmte den Mann, der ihm die schreckliche Nachricht überbringen musste. „Bitte nicht …“
„Nein!“, kreischte Liza und sackte auf die Knie hinunter. „Nein, nein, nein!“ Sie schrie, verkrampfte ihre Hände, hätte sie genug Kraft gehabt, hätte sie sich ihr Schlafshirt vom Leib gerissen, das zwischen ihren geballten Fäusten zerknittert wurde. „Nein!“
Auch den zwei Männern in schwarz, standen Tränen in den Augen.
Mike hatte sich inzwischen einigermaßen beruhigt. Die Tränen waren getrocknet.
Handy, Geldbeutel mit Ausweis, Versichertenkarte und den kleinen, braunen Teddybär, den er seit acht Jahren nicht mehr so gedrückt hatte, wie jetzt hatte er mitgenommen.
Er kam sich nicht albern vor, mit dem Teddy in der Hand, er konnte sich an etwas klammern, das gab ihm Kraft.
Jedes Mal, wenn er an die schönen Zeiten mit seinem Vater und seiner Mutter dachte, spürte er wieder den Kloß in seinem Hals. Was war passiert? Diese Frage stellte er sich, kannte aber nicht die Antwort darauf.
Zu dritt kamen sie zu dem Wagen. Er war schwarz. Keine Limousine, aber auch kein Polizeiwagen, eher wie ein Geschäftswagen eines seriösen Unternehmens. Er kümmerte sich nicht weiter darum. Der, der sich als Michael vorgestellt hatte, öffnete die Hintertür. Mike setzte sich hinein.
„Schatz!“, prustete jemand aus. Er sah sich um, erblickte Lizas Gesicht und nahm sie ohne weiter nachzudenken und ohne seinen Teddy wegzulegen in die Arme. Lange, lange blieben sie so und sagten sich gegenseitig, wie sehr sie sich liebten.
„Was machst du hier?“, fragte Mike, dessen Gedanken wohl schneller vorankamen.
„Mei… Meine Mutter …“ Sie begann wieder zu weinen und er nahm sie wieder in die Arme. Auch ihm kullerte eine Träne die rechte Wange hinunter.
„Schon gut“, sagte er und schniefte. „Schon gut.“
Sie sprachen nicht mehr darüber. Sie wollten nicht an diese schlimme Sache denken, aber es ließ sich nicht vermeiden. Allerdings konnten sie die Tränen unterdrücken, solange sie nicht davon sprachen.
Die Fahrt bestand aus Umarmung und Schweigen.
Sie wurden auf ein Polizeirevier in der Nähe gebracht, beiden wurde eine Tasse Tee auf den Tisch gestellt und eine Kinderpsychologin stellte ihnen unsinnige Fragen.
„Was wollt ihr jetzt machen?“
„Wo wollt ihr jetzt hin?“
„Wie fühlt ihr euch?“
Erstens geht es dich einen Scheißdreck an, wie ich mich fühle, dachte Mike und lehnte sich zurück, um sich ein wenig zu entspannen, und zweitens haben wir doch sowieso nicht selbst zu entscheiden, wo wir nun hinkommen, oder siehst du das etwa anders, du Schlampe.
„Ich glaube, der Junge ist alt genug, um sich in einer Pflegefamilie zurecht zu finden, aber bei dem Mädchen bin ich mir nicht so sicher“, sagte sie zu dem zuständigen Mann vom Jugendamt. „Sie ist verunsichert, ängstlich und unaufgeschlossen. Sie wäre besser dran, wenn wir sie in ein Heim geben würden. Sie braucht andere Jugendliche um sich herum. Kontakt mit Gleichaltrigen und Ablenkung, das kann ihr ein Heim meiner Meinung nach besser bieten, als eine unerfahrene Familie.“
Die Psychologin wusste wirklich nicht, was Liza brauchte. Sie brauchte keinen Kontakt mit gleichaltrigen Mädchen, die die gleiche Erfahrung wie sie gemacht hatten, sie brauchte einzig und allein Mike. Er war ihr bester und gleichzeitig fester Freund, sie wollte nicht von ihm weg, keine Sekunde.
Aber die beiden konnten das Gespräch der Erwachsenen nicht hören, sie saßen alleine da und tranken schweigend ihren Tee. In Lizas Augen sammelten sich immer wieder Tränen, immer wieder kamen der Kummer und die Trauer in ihr hoch.
„Was machen sie jetzt mit uns?“, fragte sie. Die stille Atmosphäre war weg.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Mike. „Aber ich hoffe, sie werden uns nicht trennen.“
„Niemals“, flüsterte Elizabeth, sodass ihr Freund es nicht hören konnte. „Niemals.“
Alan McFeight wollte wirklich nur das Beste für die beiden, aber woher zum Teufel sollte er wissen, was das Beste war? Er hatte keine Antwort darauf.
Am nächsten Morgen betrat McFeight, der Mann vom Jugendamt, den Raum, in dem die beiden geschlafen hatten, eine ungemütliche, gekachelte, mit zwei harten Matratzen ausgestattete Ausnüchterungszelle.
„Hallo, ihr zwei“, sagte er und betrat vorsichtig die Zelle. Mike und Liza lagen zusammen in einem Bett. „Habt ihr euch angefreundet?“
„Wir kannten uns schon vorher“, stammelte Mike verschlafen.
„Ihr kanntet euch?“, fragte McFeight neugierig und etwas desorientiert. „Woher?“
„Wir sind zusammen!“, raunte Mike ihm zu.
Alan wurde mulmig zumute. Scheiße, dachte er. So eine gottlose Scheiße.
Er konnte die zwei nirgends zusammen unterbringen. Alles war schon organisiert.
„Nun ja“, gab er vorsichtig von sich, „dann habe ich eine sehr schlechte Nachricht für euch.“
„Was denn?“ Liza war plötzlich hellwach. Sie hatte unheimliche Angst von Mike getrennt zu werden. Sie wollte nicht weg von ihm, egal was die Behörden sagten, sie wollte nicht weg. Er war der einzige, den sie noch hatte. Wer würde sich denn dann um sie kümmern? Sie wusste es nicht.
Alan senkte den Kopf. Er starrte nachdenklich den Boden an. Er musste sich seine Worte genauestens überlegen. „Es wurde veranlasst“, begann er langsam, „dass du Liza, in ein Heim kommst …“
„Mit Mike!“, sagte sie fest entschlossen. Sie zwang sich ein wenig zu lächeln, vielleicht half es ja, das Unvermeidliche hinauszuzögern oder zu verhindern. Sie wusste schon, was der Mann ihr sagen wollte.
„Eben nicht.“ McFeight ließ den Kopf nun vollkommen hängen und nahm nur schwach das Schluchzen des vierzehnjährigen Mädchens wahr.
Sie drückte ihr Gesicht an Mikes Brust, schluchzte, wimmerte und weinte. Er legte einen Arm um ihre Schultern, drückte sie an sich.
„Schatz“, stotterte sie. „Schatz, nein. Nein.“
„Es wird doch gut, wir sehen uns doch trotzdem“, versuchte Mike, der selbst schon den Tränen nahe war, sie zu beruhigen. „Ich komme dich abholen, wir verbringen die Tage miteinander und alles ist fast so wie immer.“
Kann es noch schlimmer werden?, fragte er sich traurig.
„Das wird, glaube ich, nicht funktionieren.“ Alan fühlte sich schlecht, soviel Ungutes diesen Kindern zuleide zu tun. „Elizabeth kommt in ein Heim im Westend. Du aber, Mike, kommt zu einer Pflegefamilie außerhalb der Stadt.“ McFeight schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid. Ich habe es nicht gewusst. Ich hab’s doch nicht gewusst. Hätte ich es gewusst, hätte ich es doch anders versucht, hinzubekommen. Weit und breit gibt es keine Familie in Raddock City, die bereit ist, ein Kind zum Pflegen aufzunehmen.“
„Ich will nicht weg!“, presste Liza durch ihre Lippen. „Ich will bei dir sein … bitte …“
Mike antwortete nicht, er wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Ihm fiel nichts Tröstendes, Schlaues oder sie zum Lachen Bringendes ein. Er konnte selbst nicht mehr, war selbst völlig am Ende und konnte nicht glauben, wie viel wie schnell schief gehen konnte.
Mike und Liza umarmten sich liebend. Sie verabschiedeten sich küssend. Tränen sickerten ihre und seine Wangen hinunter. Ihre Augen waren rot und angeschwollen. Auf Mikes Stirn hatte sich eine Ader gebildet, die hervortrat und schlimm aussah, als hätte er ein Kabel unter der Haut.
„Wir werden uns sehen“, sagte er mit fester Stimme in ihr Ohr. Seine Lippen berührten ihre Haut, sein Atem kitzelte ihr Ohr und eine wohltuende Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus. „Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch“, heulte sie und umarmte ihn fester. „Ich liebe dich.“
Mike stand mit dem Beamten vor der Haustür der Hendricks, seiner zukünftigen Pflegefamilie. Alan McFeight war mit Elizabeth gefahren, ein Polizist hatte ihn hierher gebracht. Frau Hendricks öffnete die Tür und begrüßte ihn mit einem herzlichen und freundlichen Lächeln. Die Fahrt war lang gewesen und Mike war müde, aber das interessierte mit Sicherheit niemanden.
„Du bist bestimmt Mike, hab ich Recht?“, fragte die Frau ihn.
„Ja, bin ich“, antwortete er. Seine Augen waren immer noch ein wenig angeschwollen.
„Komm rein“, sagte sie und legte eine Hand auf seine Schulter. „Danke, Officer.“
Der Polizist nickte mit dem Kopf, drehte sich um, stieg in seinen Wagen und fuhr davon.
Ein Mann saß Zeitung lesend an einem ovalen Tisch in der Küche, wohin ihn Ms Hendricks zuerst geschleppt hatte. Er war so müde. Wieso konnte er nicht einfach in ein Bett, sich ausheulen und dann eine Kappe voll Schlaf bekommen?
„Du musst erstmal meine zwei Kinder kennen lernen“, sagte sie und sah ihn überglücklich an. Sie wusste interessierte anscheinend nicht, was mit ihm geschehen war.
Zwei kleine Kinder kamen in die Küche gestürmt und sprangen fröhlich im Kreis um ihn herum.
„Mike, Mike, Mike, Mike, Mike“, sangen sie einstimmig.
Oh, Gott, wie können die alle so unglaublich witzig sein, dachte er sarkastisch und schloss für eine Sekunde die Augen. Eines der Kinder trat ihm auf den Fuß und er schreckte sofort wieder aus der Ruhe heraus auf.
Diese kleine Wohnung, die ihr zugeteilt wurde, war ihr nicht angenehm. Es war so eng, vor allem, weil sie sich ihr Zimmer mit einem korpulenten, sehr kurzhaarigen Mädchen teilen musste, deren Wäsche im ganzen Zimmer verteilt herumlag. Im Nebenzimmer wohnten zwei Jungs, der eine war höchstwahrscheinlich ein Heavy – Metal – Fan, denn durch die nicht gerade dicke Wand dröhnten metallische Klänge.
Das korpulente Mädchen hatte sich aus dem Zimmer entfernt, als die ebenfalls dicke Aufseherin, die eine eigenartige Haube trug, die man in Krankenhäusern bekommen konnte, es ihr in einem nicht gerade freundlichen Tonfall befohlen hatte; anscheinend tanzten hier alle nach ihrer Pfeife. Ihr Name war Freannie Wilkes, ein eigenartiger Name für eine eigenartige Frau. Sie schielte. Ein Auge starrte geradeaus, das andere nach links. Nachdem McFeight mit ihr gesprochen hatte und dann gegangen war, kam Wilkes in Lizas Zimmer.
„So“, sagte die Aufseherin und stützte die Hände in die Hüften, „wollen wir uns dich mal vorknöpfen.“
Hinter ihr stand das Mädchen, mit dem sie sich das Zimmer teilen musste; es grinste. In der Hand hielt sie eine Schere.
„Deine Haare gefallen mir nicht“, lispelte sie und kam hinter Wilkes hervor. „Sie gefallen mir ganz und gar nicht.“
Ich muss hier raus, oh, Mann, dachte Mike und wieder sammelte sich Tränenflüssigkeit in seinen Augen. Ich muss zu Liza. Ich muss zu ihr. Ich will …
Wieder hüpfte eines der Kinder auf dem Bett, auf dem er lag, auf und ab. Es wackelte und rückte ein Stück hin und wieder ein Stück zurück. Seit er angekommen war, hatte er keine ruhige Minute. Die zwei Kleinen nervten ihn, wo sie nur konnten, er hoffte nur, sie würden früh schlafen gehen, denn er hatte nicht vor, lange hier zu bleiben. "Könnt ihr mich nicht einmal in Ruhe lassen?", keifte er den Jungen an.
Sie hatten Liza ans Bett gefesselt. Sie hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, aber alleine gegen einen Erwachsenen und ein so fettes Kind, hatte sie keine Chance gehabt. Sie lag da, die Beine und Arme auseinander an die Bettecken gefesselt, weinte und schrie so laut sie konnte. Ihre Stimme klang brüchig. In den letzten Stunden hatte sie einfach viel zu viel geweint. Sie war erschöpft.
Das dickliche Mädchen kam näher, beugte sich über ihren Kopf, sah ihr in die Augen und grinste. Die Schere näherte ihrem Haar.
Das verrückte Mädchen unter der Herrschaft der verrückten Wilkes begann zu schneiden. Locken glitten zu Boden, blieben liegen. Liza traute sich nicht, den Kopf zu schütteln, sie wollte nicht, dass ihre Zimmergenossin ein Ohr abschnitt.
„Wieso tun sie das?“, fragte Liza wimmernd.
„Weil ich nur unter Meinesgleichen leben will“, antwortete Freannie spöttisch und nahm die Haube vom Kopf. Eine Glatze glänzte im einfallenden Sonnenlicht.
„Nein!“, schrie Liza. „Nein, bitte! Hör auf!“ Ihre Angst war verpufft, nun war sie zornig.
Alle schliefen. Stille beherrschte das Haus der Hendricks.
Endlich. Mike genoss es für einen Moment, aber nicht länger. Er musste es tun, ihm blieb nichts anderes übrig. Hier wollte er auf keinen Fall bleiben.
Joanne Hendricks hatte ihm dieses Zimmer gegeben. Die Kinder schliefen im Zimmer direkt über ihm. Zum Glück hatte sie nichts von seinem Plan gewusst, sonst hätte sie ihn sicherlich nicht im Erdgeschoss untergebracht. Er hatte dieses Buch von Jack Ketchum gelesen, in dem ein Stiefkind in einen Atombunker unter dem Haus eingesperrt wurde und wochenlang gequält wurde, davor hatte er Angst. Große Angst.
Er stand auf, achtete darauf, dass das Bett nicht quietschte oder knarrte. Das Fenster befand sich nur ein paar Schritte weiter links. Seine Schuhe standen genau darunter, darauf hatte er geachtet, bevor er sich umgezogen hatte. Er schob das Fenster nach oben. Kühle Luft kam ihm entgegen. Leise schlüpfte er in seine Schuhe und kletterte hinaus.
Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf der gut gepflegten Wiese hinter dem Haus. Der Himmel war sternenklar und der Mond spendete ihm genug Licht, damit er alles sehen konnte und nicht gegen irgendein Hindernis lief.
Er kam zu einer kleinen Brücke unter der ein paar Obdachlose ein Feuer entfacht hatten und saufend am Boden saßen. Um diese Uhrzeit waren sie zu betrunken, um noch an dem brennenden Container zu stehen. Mike ging schnellen Schrittes weiter.
„He, Junge!“, sagte eine bedrohlich klingende Stimme hinter Mike. „Was willst du so spät noch auf der Straße?“
Er drehte sich um und war erleichtert, als er erkannte, dass es sich nur um einen Polizisten handelte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: 23:37 Uhr.
Oh, Mann, Glück gehabt, dachte er und ging auf den uniformierten Mann zu. Tja, sechzehn ist sechzehn.
Er steckte seine Hände in die Hosentaschen. Der Polizist kam auf ihn zu.
„Kann ich mal deinen Ausweis sehen?“
Mike wollte nach dem Geldbeutel in seiner Gesäßtasche greifen, fand aber nichts darin.
Scheiße, dachte er. Seine ganzen Sachen, bis auf die Kleidung die er trug, waren noch im Hendricks Haus.
„Tut mir leid, aber ich hab meinen Ausweis nicht dabei“, versuchte er dem Beamten zu erklären. „Aber ich bin sechzehn. Sieht man ja.“
„Nein, also ich sehe nichts“, entgegnete der Mann in Uniform. „Für mich siehst du aus wie irgendein Streuner.“
So wurde er noch nie genannt.
„Nein, bin ich nicht.“ Er konnte es nicht fassen. Wieso musste immer er in solche Situationen geraten? Er wusste es nicht, aber es gefiel ihm keineswegs.
„Dann wollen wir doch mal sehen. Umdrehen und Beine auseinander.“
Mike tat was ihm gesagt wurde. Der Polizist tastete ihn ab, von unten nach oben. An den Oberschenkeln stockte er und fuhr mit seiner Hand ganz langsam höher, griff zwischen Mikes Beine. Er hielt kurz inne, sah sich um und legte seine Hand auf Mikes Glied.
„Hey, sie pedofieler …“ Ein harter Schlag traf ihn von hinten. Er wurde ohnmächtig.
Immer ich, wieso immer ich?, fragte sich McFeight unglücklich. Immer muss ich es machen, alles was keiner machen will, muss ich machen. Wieso?
Er traf auf dem Gang auf Wilkes.
„Wie geht es Liza?“, fragte er ohne sie zu begrüßen.
Mürrisch antwortete sie: „Gut. Sie wollte unbedingt die Haare geschnitten haben, sieht meiner Meinung nach besser aus.“ Sie grinste und ging weiter.
„Liza“, begrüßte Alan sie mit einem traurigen Blick. Diese sprang vom Bett auf, sah ihn an und fiel ihm in die Arme, in dieser kurzen Zeit konnte er noch nicht einmal ihren neuen Haarschnitt sehen. „Zeig mal deine neue Frisur.“
Er lächelte nicht, drückte sie aber ein wenig von sich weg, um ihre Haare zu sehen.
„Was?“ er konnte nicht glauben was mit ihr geschehen war. Ihre Haarpracht war so wunderschön gewesen und jetzt? Jetzt hatte sie eine Glatze. Hinter dem Ohr war eine einzige Strähne am Leben geblieben.
Oh, mein Gott, dachte er und senkte den Kopf, um sich nicht anmerken zu lassen, was er dachte. Wie konntest du nur, kleines Mädchen?
Bitte, hol mich hier raus, flehte Liza in Gedanken, konnte es aber nicht aussprechen, aus Angst, Wilkes würde sie an ihrer Vagina mit dem Bügeleisen bearbeiten, wie sie ihr angedroht hatte, falls sie etwas darüber sagen wolle. Und Liza war sich sicher, dass diese irre Frau es tun würde.
Mike ist tot. Er wurde vergewaltigt und totgeschlagen, wollte McFeight sagen, hielt sich dann aber zurück und brachte es ihr schonender bei: „Dein Freund, Mike … Er wollte fliehen, wahrscheinlich zu dir kommen. Er ist auf einer Brücke gestolpert und … und über das Geländer gestürzt.“
Sie konnte nicht schreien. Bei jedem Wort schmerzte ihr Hals, als hätte ein Gnom in ihm ein Feuer gelegt. Sie begann nur zu weinen und umarmte den ihr völlig fremden Mann. Sie schluchzte, wimmerte und heulte, bis er gehen musste. Das Schicksal wollte es so, damit musste sie sich abfinden, das konnte sogar ein vierzehnjähriges Mädchen erkennen.
Schicksal.