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Schicksalsfäden

Beitritt
23.06.2021
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377
Zuletzt bearbeitet:

Schicksalsfäden

Zwei Stühle waren es, die das Schicksal nutzte.

Der erste ein schöner, handwerklich gelungen. Ein gefährlicher Stuhl. Die Rückenlehne und die geflochtene Sitzfläche hatten noch ausgesehen wie neu. Nur die Beine unter der Rückenlehne waren angebrochen, der Riss kaum zu sehen.

Es hatte doch eine Versöhnung werden sollen, nach dem furchtbaren Streit. Der Schreck über seine bösen Worte steckte ihm noch in den Knochen. Wackelige Knie, ein hohles Gefühl im Bauch. Angst davor, sie verloren zu haben. Für immer. Endgültig. Sie hatte klar gemacht, dass sie all das nicht mehr hinnehmen würde. Nie wieder.

Deshalb entschuldigte er sich. Der Kloß in seinem Hals deutlich hörbar. Sie reagierte nicht. Saß immer noch auf dem Stuhl, regungslos. Die Hände hingen kraftlos neben ihr, das Gesicht wie erstarrt. Endlich atmete sie aus. Ein langsamer, lautloser Seufzer. Schaute ihm in die Augen.

Er beugte sich vor, die Arme offen für eine Umarmung.

Ein Lächeln versuchte sich in ihrem Gesicht auszubreiten. Unsicher zuerst. Dann öffnete sie auch die Arme. Zog ihn zu sich. Er schmiegte sich zu ihr auf den Stuhl, streichelte ihr Haar.

In diesem Moment brachen die Stuhlbeine endgültig und sie fiel nach hinten. Schlug rücklings auf der Tischkante auf. Das Knacken ihres Genicks war kaum zu hören. Dennoch endgültig.

Den zweiten Stuhl stellte er kurz darauf in den Garten, legte die Wäscheleine um den selben Ast, von dem er vorher zwei Äpfel für sie gepflückt hatte. Den Henkersknoten kannte er noch aus seiner Jugend. Damals war es noch lustig gewesen und sie hatten sich wild gefühlt. Kleine Rebellen.

Jetzt stellte er sich auf den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und fühlte nichts. Nur noch Leere.

Als er den Stuhl umstieß, lächelten die Schicksalsgöttinen unter dem Weltenbaum.
Zwei Lebensfäden durchschnitten, zwei Schicksale erfüllt.

***

Eine Esche im Norden, heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum benetzt weißer Nebel;
Davon kommt der Tau, der in Täler fällt.
Immergrün verbindet er Oben und Unten;
Er trägt den Himmel, die Wurzeln tief.
Davon kommen Frauen, viel wissende.
Drei aus dem See, dort unterm Wipfel.
Sie schneiden Stäbe, sie legen Lose;
Sie weben die Fäden.
Das Leben bestimmten sie;
Den Geschlechtern der Menschen,
Das Schicksal verkündend,
Die Fäden zerschneidend,
Die Nornen.
(frei interpretiert nach der nordischen Edda)

 

Hallo @C. Gerald Gerdsen

Eine Kürzestgeschichte von Dir. Ein echt hartes Schicksal das die Protagonisten da ereilt. Ein Mann, eine Frau, sie hatten wohl eine heftige Auseinandersetzung. Er bereut seine Worte und will sich entschuldigen, bringt zwei frische Äpfel aus dem Garten mit. Das misslingt aber komplett, weil die Frau dabei stirbt. Danach hängt er sich selbst im Garten auf. Dies soweit die Story, das Gedicht am Ende sagt mir nix, aber das hat erstmal nichts zu bedeuten. Kenne mich mit Gedichten nicht aus und auch nicht mit der Edda. Will sagen, für mich hätte diese Flash Fiction auch ohne funktioniert. Aber Du hast dir bestimmt was dabei überlegt.

Als er den Stuhl umstieß, lächelten die Schicksalsgöttinen unter dem Weltenbaum.
Zwei Lebensfäden durchschnitten, zwei Schicksale erfüllt.
Das gibt ja so den "Vorgeschmack" auf das Gedicht.

Zum Textlichen ist mir nur eine Stelle ins Auge gesprungen:

Ein Lächeln versuchte, sich in ihrem Gesicht auszubreiten.
Das Komma da kannst Du streichen.

Dann noch eine generelle Anmerkung:

In diesem Moment brachen die Stuhlbeine endgültig und Sandra fiel nach hinten.
Der Mann bleibt namenlos, die Frau bis auf diese Stelle auch. Brauchst Du hier wirklich ihren Namen zu nennen? Ich hätte ihn weggelassen.

Hab das gerne gelesen, wenn man das bei dem Thema denn so sagen kann.

BG
d-m

 

Hi @C. Gerald Gerdsen,

ich bin mir nicht ganz sicher, wohin du mit der Geschichte willst. Für mich liest es sich ein wenig so, als ob du einen bestimmten Stil ausprobieren wolltest, der mir etwas tellig und poetisch angehaucht erscheint. Der Stil hat mir auf jeden Fall gefallen.

Bei der Story selbst bin ich etwas unschlüssig. Scheint ja eine bewusste Entscheidung gewesen zu sein, die Ereignisse knapp zu halten und eben keine Szenen einzubauen, wo der Mann auf den Tod seiner Frau reagiert usw.

In diesem Moment brachen die Stuhlbeine endgültig und Sandra fiel nach hinten. Schlug rücklings auf der Tischkante auf. Das Knacken ihres Genicks war kaum zu hören. Dennoch endgültig.
Hier wird der Tod der Frau ja in zwei Zeilen abgehandelt, ohne zu zeigen, wie der Mann darauf direkt reagiert. Führt bei mir zumindest dazu, dass ich auch selbst beim Lesen keine emotionale Reaktion darauf habe.

Auch aus dem Teil zur nordischen Mythologie werde ich nicht ganz schlau, weil es ein bisschen hinten dran geklebt erscheint. Ist das als Pointe für die Geschichte gemeint? Wenn nicht würde ich vielleicht im ersten Satz etwas erwähnen, das dieses Mythologiethema eröffnet.

LG
Klamm

 

Hallo @deserted-monkey,

danke für das Feedback. Das freut mich. Deine Zusammenfassung stimmt genau.

Den Namen der Frau und das Komma habe ich mal gestrichen.

Hallo @Klamm,

ja, ich habe - als Anregung auf die Wörter Schicksal & Stuhl - versucht ein sehr kurzes Textstück zu schreiben. Den Verweis auf die Edda habe ich eingebaut, weil ich vermute, dass viele Menschen das Konzept der drei Nornen aka Schicksalsgöttinnen nicht kennen.

Die eine legt bei der Geburt die Anzahl deiner Atemzüge fest, die zweite zählt sie und die dritte schneidet den Lebensfaden ab, wenn die Zahl erfüllt ist. Ist aber eventuell überflüssig.

Für Euch beide gilt, dass der Text scheinbar wenig berührt. Ich wollte etwas fatalistisches schreiben, aber so richtig scheint es nicht zu funktionieren.

Auf jeden Fall schon mal Danke für das Feedback. Ich werde mal überlegen, ob der Text noch besser werden kann, oder ob ich das Experiment zur Seite lege.

Liebe Grüße,
Gerald

 

Hallo @deserted-monkey, hallo @Klamm,

ich habe mal versucht, den Text um eine Reaktion des Mannes zu ergänzen, aber ich bekomme es irgendwie nicht hin.

Also lasse ich das Ganze jetzt mal als Experiment hier so stehen, hat nicht so richtig geklappt.

Danke für Eure Kommentare,
Gerald

 

Moin @C. Gerald Gerdsen,

das ist so ein Plot, den ich - aus meiner Sicht - 1. in die Gegenwart brächte und 2. ausbauen würde. Dann täte ich die Nornen killen. Denn sie haben ja nicht nur die Atemzüge der Frau gezählt. Und nicht nur seine Atemzüge gezählt, sondern beide kamen auch noch zusammen. Ganz schön viel Schicksal. Wenn du die Nornen behalten willst, dann kannste noch einen draufsetzen, indem du die zwei von einem Nachbarn finden lässt, ein Kommissar kommt, der alles rekonstruiert, Leben, Streit, Todesablauf und auf der Heimfahrt selbst seinen letzten Atemzug hat. Und dann die Edda in Teile gliedern und zwischen die Abschnitte packen, die Nornen fantasymäßig schwadronieren lassen.

Na ja, da geht wieder mal mein Gaul durch ...

Also bleibe ich bei: Nornen raus. In der Gegenwart schreiben, dann wird es unmittelbarer, direkter. Warum streiten sie überhaupt? Seit 30 Jahren verheiratet und Streit gehört nun mal dazu? Ebenso wie Versöhnung? Oder ist DIESER Streit ein Kipppunkt? Da stecken noch viele offene Enden drin ...

... die mir sagen, du wolltest die Edda in den Mittelpunkt rücken. Was die Nornen so machen. Kein Problem, aber dann würde ich ihnen mehr Raum geben/schaffen.

Ich bin also hin und her gerissen ... und sehe das Potential in dem Plot.

Wäscheleine ist übrigens ganz schön dehnungsfähig. Als Johanniter kam ich mal zu so nem Kerl, der Wäscheleine nahm. Bevor er starb, hatte sie sich so gedehnt, dass er wieder mit den Füßen auf dem Küchenboden stand. Aber das ist ne andere Geschichte ...

Grüße
Morphin

 

Hallo @Morphin,

ja, das stimmt. Der Text bietet viel Raum für eine Überarbeitung. Vielleicht greife ich das noch einmal auf und mache 'was draus.

Dann müsste ich entweder die Geschichte der beiden Charaktere ausbauen oder tatsächlich den Fokus auf die Nornen setzen. Und damit die Frage nach Schicksal und Determinismus.

Ist unser Schicksal vorherbestimmt? Ich mag die Idee aus der Edda (und den Veden), dass die Anzahl unserer Atemzüge festgelegt ist, wir aber durch die Art, wie wir atmen, die Länge unseres Lebens durchaus beeinflussen können. Schöne Metapher.

Vielen Dank für die Anregungen,
Gerald

 

Hallo @C. Gerald Gerdsen,

im Nachbardorf ist vor Kurzem eine Frau an Krebs gestorben, einen Tag nach der Beerdigung warf sich ihr Mann vor den Zug.
Schicksal? Es bleiben viele Fragen, ebenso wie in deiner Geschichte. Für mich ist sie zu kurz, der Plot nicht genügend ausgereift.
Soll heißen, ich würde mich über eine längere Version freuen.

Schönes Wochenende.
Liebe Grüße CoK

 

Hallo @CoK ,

ja, das sehe ich inzwischen auch so. Der Plot ist eigentlich keiner, nur eine Momentaufnahme, eher das Fragment einer Geschichte.

Im Moment komme ich nicht dazu, die Geschichte auszuarbeiten, aber auch @Morphin hat ja schon angeregt, das ich aus dem Text mehr machen soll.

Vielen Dank und
liebe Grüße, Gerald

 

Hallo @C. Gerald Gerdsen

Ich kann mich mit der Geschichte auch nicht anfreunden. Sie wirkt leblos, ich weiß, dass dieser knappe, kalte Erzählstil gewünscht ist, aber normalerweise wendet man so etwas doch an, wenn man noch eine andere Wirkung erzielen will, als nur lapidar zu klingen. Und genau diese andere Wirkung hat dein Text nicht auf mich. Ich finde ihn im Grunde nicht einmal tragisch. Hmmm... das mag unter Umständen auch an der Pointe liegen. Die Schicksalsgöttinen einzubauen und so den Eindruck zu erwecken, das sei nun einmal der vorherbestimmte Lebensweg der Beiden gewesen, ist nichts das mich berühren würde. Aber da, am Ende, bei der Pointe, könntest du die Geschichte doch drehen, dann müsstest du sie nicht einmal groß ausbauen. Mir will auf die Schnelle aber nichts passendes einfallen. Schwierig ...

LG
Patrick

 

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