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Schicksalsfäden
Zwei Stühle waren es, die das Schicksal nutzte.
Der erste ein schöner, handwerklich gelungen. Ein gefährlicher Stuhl. Die Rückenlehne und die geflochtene Sitzfläche hatten noch ausgesehen wie neu. Nur die Beine unter der Rückenlehne waren angebrochen, der Riss kaum zu sehen.
Es hatte doch eine Versöhnung werden sollen, nach dem furchtbaren Streit. Der Schreck über seine bösen Worte steckte ihm noch in den Knochen. Wackelige Knie, ein hohles Gefühl im Bauch. Angst davor, sie verloren zu haben. Für immer. Endgültig. Sie hatte klar gemacht, dass sie all das nicht mehr hinnehmen würde. Nie wieder.
Deshalb entschuldigte er sich. Der Kloß in seinem Hals deutlich hörbar. Sie reagierte nicht. Saß immer noch auf dem Stuhl, regungslos. Die Hände hingen kraftlos neben ihr, das Gesicht wie erstarrt. Endlich atmete sie aus. Ein langsamer, lautloser Seufzer. Schaute ihm in die Augen.
Er beugte sich vor, die Arme offen für eine Umarmung.
Ein Lächeln versuchte sich in ihrem Gesicht auszubreiten. Unsicher zuerst. Dann öffnete sie auch die Arme. Zog ihn zu sich. Er schmiegte sich zu ihr auf den Stuhl, streichelte ihr Haar.
In diesem Moment brachen die Stuhlbeine endgültig und sie fiel nach hinten. Schlug rücklings auf der Tischkante auf. Das Knacken ihres Genicks war kaum zu hören. Dennoch endgültig.
Den zweiten Stuhl stellte er kurz darauf in den Garten, legte die Wäscheleine um den selben Ast, von dem er vorher zwei Äpfel für sie gepflückt hatte. Den Henkersknoten kannte er noch aus seiner Jugend. Damals war es noch lustig gewesen und sie hatten sich wild gefühlt. Kleine Rebellen.
Jetzt stellte er sich auf den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und fühlte nichts. Nur noch Leere.
Als er den Stuhl umstieß, lächelten die Schicksalsgöttinen unter dem Weltenbaum.
Zwei Lebensfäden durchschnitten, zwei Schicksale erfüllt.
***
Eine Esche im Norden, heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum benetzt weißer Nebel;
Davon kommt der Tau, der in Täler fällt.
Immergrün verbindet er Oben und Unten;
Er trägt den Himmel, die Wurzeln tief.
Davon kommen Frauen, viel wissende.
Drei aus dem See, dort unterm Wipfel.
Sie schneiden Stäbe, sie legen Lose;
Sie weben die Fäden.
Das Leben bestimmten sie;
Den Geschlechtern der Menschen,
Das Schicksal verkündend,
Die Fäden zerschneidend,
Die Nornen.
(frei interpretiert nach der nordischen Edda)