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Schiffe versenken
SCHIFFE VERSENKEN
Vorbereitung
Herr Torben Gleisenau öffnete die mit Kratzern verzierte Schranktür und holte den Messerkasten hervor. Nacheinander legte er verschiedene Messer vor sich auf die Küchenplatte. Dann nahm er etwas Putzmittel, griff nach dem Geschirrtuch und leise vor sich hinsummend säuberte er gewissenhaft die Klingen. Tagsüber hatte er den gut bezahlten, aber langweiligen Job eines Buchhalters bei einer größeren Versicherung. Er war stets pünktlich, freundlich zu den Kollegen, kriecherisch zu den Kunden und unterwürfig zu seinem Vorgesetzten. Ihm war klar, dass er dadurch nie die Karriereleiter nach oben klettern würde, aber er hatte sich damit abgefunden. Als Ausgleich zu seinem tristen Leben hatte er sich vor gut einem halben Jahr, in einem Akt von Spontanität, einen Computer geleistet. Obwohl technisch ein Versager auf der ganzen Linie, verschaffte er sich nach relativ kurzer Zeit Zugang in die Welt des Internets. Als ob es schon immer irgendwo in seinem Kopf war und nur darauf gewartet hatte freizukommen, suchte und fand er bestimmte Seiten, die Dinge darstellten und anboten, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Anfangs hatte Gleisenau nur geschaut, doch schon bald war er mutig genug gewesen, selbst eine Bestellung abzugeben. Mittlerweile war er ein geschätzter Kunde, da er schnell zahlte und äußerst diskret mit der Sache umging. Harmlose Gespräche über dies, über jenes und über Möglichkeiten von Datenverschlüsselung im Internet mit dem Auszubildenen in seiner Büroetage verschafften ihm zusätzliches Wissen, sich bestimmte Geräte zu besorgen, die nötig waren, um seine Spuren soweit zu verwischen, dass es praktisch unmöglich war, im Fall der Fälle ihm irgendetwas anhängen zu können. Torben Gleisenau lebte allein in einem Einfamilienhaus, in einer kleinen, schmucken Siedlung in der Nähe von Köln. Eine Siedlung, wo jeder über jeden alles wußte, doch Gleisenau verstand es geschickt, sein Leben den anderen als das zu offenbaren, was die Nachbarn für einen wie ihn auch annahmen: Langweilig und eintönig.
„Autsch!“ Ruhig legte er das Messer hin und betrachtete erstaunt den dünnen Rinnsal aus Blut, der an seinem Daumen herablief. Er hatte sich geschnitten. Das war ihm noch nie passiert. Kopfschüttelnd steckte sich Gleisenau den Daumen in den Mund und ging ins Bad. Auf dem Weg dorthin hob er ein Stück Papier auf und pinnte es neben die vielen anderen Zeitungsartikel an das Korkbrett neben der Wohnungstür. Im Bad holte er ein Pflaster aus dem Schränkchen und klebte es auf den Daumen. Es fühlte sich merkwürdig an, das Pflaster auf der Haut zu haben, fremdartig irgendwie, fast wie eine zweite, unempfindlichere Haut... Gleisenau wischte den Gedanken mit einem verächtlichem Schnaufen weg. Als er zurück in die Küche ging, sah er kurz zu dem Korkbrett. Einundfünfzig Schnipsel hingen da. Manche größer, manche kleiner, aber sie alle hatten eine schwarze, dicke Linie als Umrandung. Eine Stunde später hatte Gleisenau alle Messer penibel gesäubert und zurück in den Kasten gesteckt. Draußen konnte er hören, wie Vögel anfingen, den Tag zu begrüßen. Er sah auf die Funkuhr über dem schmalen Esstisch. „So spät schon...“ In zwei Stunden mußte er zur Arbeit.
Büro
Püntklich hatte er mit der Arbeit angefangen. Während auf der linken Seite des Schreibtisches der Eingangskorb leerer wurde, füllte sich der Korb der bearbeiteten Vorgänge zu seiner rechten Seite sehr schnell. Gleisenau fragte nicht so wie die anderen, warum bei vielen die Eingangskörbe leer blieben. Auf der Toilette hatte er mitbekommen, dass eine größere Kündigungswelle bevorstand. Ihm war klar, dass auch er von dieser Welle weggeschwemmt werden würde. Graue Mäuse wie er waren immer die ersten, die es traf. Er klagte nicht, hatte sich damit abgefunden. Pünktlich machte er nach einem ansonsten ereignislosen Bürotag Feierabend und fuhr zum alten Fabrikgelände.
Fabrikgelände
Er parkte den blaufarbenen Opel Astra in einer Seitenstraße und ging den Rest des Weges zu Fuß. Der Drahtzaun, der das Gelände umgab, war früher einmal gelb gewesen, nun hatte er die typische Farbe von verrostetem Metall. Obwohl für den Tag Regen angekündigt wurde, war es drückend heiß. Gleisenau nestelte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn weg. Er hatte schon immer Probleme mit den Drüsen gehabt, fing schnell an zu schwitzen. Auch dies war nur einer von vielen Punkten, die ihn zu einem Einzelgänger werden ließen. In seiner Kindheit von der inzwischen verstorbenen Mutter verhätschelt. Unfähig, sein Innerstes einem Fremden preiszugeben. Schon gar keiner Frau. Während seiner Ausbildung hatte er sich eine Zeit lang in einschlägigen Lokals herumgetrieben, aber selbst Männern gegenüber blieb er zurückhaltend. Letztendlich hatte er es akzeptiert, für eine Beziehung nicht geschaffen zu sein. Und letztendlich war er damit auch zufrieden.
Die große Gußtür knarrte ein wenig, als er sie öffnete. In der verlassenen Fabrik war es angenehm kühl. Zielstrebig ging Gleisenau zu einer Leiter und kletterte rauf zur ersten Etage. Es war eine riesige Halle, in der zu besseren Zeiten einmal gewaltige Maschinen standen, die Kartons herstellten. Jetzt bedeckte nur noch eine zentimeterdicke Schicht Staub den alten Holzboden. Ganz hinten in der halbdunklen Halle stand ein kleiner Holzverschlag. Gleisenau ging zu ihm, folgte seinen bisherigen Fußspuren, die er im Staub hinterlassen hatte. Der Verschlag war einen Meter hoch und zwei Meter breit. Ein Mensch konnte darin unmöglich stehen, aber bequem liegen und sitzen. Im Dach waren kleine Luftlöcher. Die massive Tür war von außen mit einem Schloss verriegelt. Gleisenau besaß den Schlüssel. Er holte einen zerknitterten Zettel aus seiner Hosentasche. „Hallo?“ Er klopfte auf das Dach. „Hallo?“ Gleisenau glättete den Zettel etwas und sagte: „B4.“ Er bekam keine Antwort. „Treffer...“ Zufrieden lächelte Gleisenau. „Weiter... B5.“ Er wartete einen Moment und lächelte erneut. „Treffer... Versunken. Ich hab alle erwischt!“ Dann steckte er den Zettel wieder weg und holte den Schlüssel hervor. Behutsam steckte er ihn in das Schloss und drehte seine Hand nach links. Klack... Es roch nicht, Maden waren auch keine zu sehen. Nur viele Fliegen, aber die gab es woanders auch. Und vor allem zahlreicher. Gleisenau kroch in den kleinen Verschlag. Er konnte kaum was erkennen. Nur fühlen. Lederne Haut... Knochen... Stofffetzen... Haare... Der Mann war seit Monaten tot, verwest, fast mumienartig. So kam es Gleisenau vor. „Das wars, Unbekannter...“, flüsterte er leise und kroch wieder heraus. Den Mann umzubringen, war keine große Sache gewesen. In Köln gab es viele Obdachlose. Warum er den alten Mann erschlug, wußte er nicht mehr genau. Was aber für immer in ihm selbst blieb, war die Angst. Der pure Horror, mitten in der Nacht schweißgebadet aufzuwachen, wegen einem unbedeutenden Geräusch. Könnte sich ja um die Polizei handeln. Die Angst hatte sich inzwischen etwas gelegt, sie war schwächer geworden, aber immer noch da. Sie würde wohl immer präsent sein. Auf die Idee mit dem Verschlag war er gekommen, als er ziellos mit dem Opel und der Leiche hinten im Kofferraum durch Köln gefahren war und schließlich das verlassene Fabrikgelände entdeckt hatte.
Gleisenau, ein dicklicher Typ, der bevorzugt unauffällige Kleidung trug, stand vor dem Verschlag. „Auf Wiedersehen, Unbekannter“, murmelte er stirnrunzelnd. Wieder einmal gestand er sich ein, verrückt zu sein. Nur Verrückte spielten mit Toten ‚Schiffe versenken‘... Wieder einmal richtete er seine Krawatte. „Ich bin nicht verrückt. Die anderen sind nur nicht normal.“ Als er in seinen Opel stieg, sah er noch einmal zu der Fabrik. Mittlerweile war es fast dunkel. Der Komplex wirkte bedrohlich. Gleisenau war froh, das Gelände nie mehr betreten zu müssen. Den toten Mann hatte er im Verschlag gelassen. Dann fuhr er nach Hause.
Daheim
Er saß mit einem Teller angebrannter Nudelsuppe vor dem Computer und überprüfte seinen elektronischen Posteingang. Keine wichtigen Sachen. Dieses Mal dauerte es wohl etwas länger, aber er hatte auch wirklich etwas besonderes geordert. Die blank polierten Messer in der Küche warteten nur darauf, benutzt zu werden. Unten im Keller, ordentlich in Regalen aufgestellt, befanden sich inzwischen acht Skelette exotischer, vom Aussterben bedrohter Vogelarten. Gleisenau schaltete den Computer aus. Er war müde. Auf dem Weg ins Bad, um sich die Zähne zu putzen, fiel sein Blick wieder auf das Korkbrett mit den vielen Artikeln, die er fein säuberlich mit einer Schere aus den Zeitungen ausgeschnitten hatte. Todesanzeigen. Er pinnte nicht jede an das Brett. Es mußte sich schon um Selbstmord handeln. Da stand er irgendwie drauf. Im Grunde genommen war es nur wichtig, den Anschein zu wahren. Herr Torben Gleisenau erfüllte perfekt die Vorraussetzungen, um die Nachbarn annehmen zu lassen, dass einer wie er irgendwann einmal ausrasten würde. Doch Gleisenau war den umgekehrten Weg gegangen. Angefangen mit dem Extremen arbeitete er zielstrebig darauf hin, in absehbarer Zukunft endlich richtig normal zu werden. Er schaltete im Untergeschoss das Licht aus und ging dann nach oben. Er ging nicht in das Schlafzimmer. Seine Mutter war dort. Die hatte er eigentlich schon längst entsorgen wollen. „Morgen...“, sagte er leise. An das Summen der Fliegen hatte er sich längst gewöhnt. „Morgen mach ich es, versprochen!“ Er legte sich auf das kleine Bett in seinem ehemaligen Kinderzimmer und zog die Beine an. Nicht er war verrückt, ermahnte er sich und gähnte. Dann war er eingeschlafen und träumte von Vögeln aus dem Regenwald, die in waghalsigen Flugmanövern bunt schillernd durch den dichten Wald flogen.
ENDE
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27.04.2003