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Schimären
I don't know what it is
[Aerosmith]
Herr Meckbach hatte schon den ganzen Tag über Ohrenschmerzen gehabt. Die Tatsache, dass der Schuss, der das arme Fräulein Lemmerl getötet hatte, direkt neben seinem Ohr abgefeuert worden war, konnte demnach nicht Ursache für diese Ohrenschmerzen sein. Herr Meckbach starrte in das Plastikgesicht des Altkanzlers Helmut Kohl. Und Helmut Kohl bedrohte ihn mit einer matten Faustfeuerwaffe und, was Herr Meckbach in diesem Moment am meisten sorgte, Helmut Kohls Hand zitterte, so als wäre er einem Nervenzusammenbruch nahe. Die Waffe schlingerte vor Herrn Meckbachs Augen.
Die Ohrenschmerzen hatte er schon fast vergessen, da ein anderer Gedanke, ein kurzer nur, aber doch ein Gedanke, in seinem Kopf herumsirrte, von den Wänden seines Schädels wie ein Flummi abprallte, und ständig aufblitzte, Aufmerksamkeit forderte und sich alles in allem rüpelhaft benahm: „Ich hätte Polizist werden sollen.“
Aber seine Freundin war damals dagegen gewesen und er eigentlich auch. Seine Freundin hielt es für zu gefährlich. Sie bat ihn, sich doch vorzustellen, wie sie Nacht für Nacht im gemeinsamen Bett läge und um sein Leben bangte. Herr Meckbach erwog das durchaus, befand es aber nicht für einen ausreichenden Grund. Denn immerhin, Liebe hin oder her, es war seine Entscheidung. Doch schließlich wurde sie ihm abgenommen, diese Entscheidung.
Es waren damals die Sechziger Jahre. Ein seltsamer Herbst. Und Herr Meckbach verfolgte die Entwicklungen durchaus. Zwar sympathisierte er keinesfalls mit den Staatsfeinden, aber er war der Ansicht, dass es durchaus möglich wäre, dass er zu einem späteren Zeitpunkt mit ihnen sympathisieren könnte, denn Menschen veränderten sich stetig, das hatte Herr Meckbach früh erkannt, und er wollte nicht wider sein Gewissen handeln und seine Entscheidungsfreiheit verlieren, wie es in einer Dienst-Hierachie zwangsläufig geschehen wäre. Also hatte er sich entschlossen, doch nicht zur Polizei zu gehen. Aus moralischen Gründen.
An all das hatte Herr Meckbach seit Jahren nicht mehr gedacht. Seine damalige Freundin, die ihn daran erinnert hätte, hatte ihn schon bald verlassen. Ein gemeinsames Bett hatte es nie gegeben. Herr Meckbach hatte wirklich seit Jahren nicht mehr daran gedacht, bis ein zitternder Helmut Kohl in seine Bank marschierte und das liebe Fräulein Lemmerl erschoss. Aber jetzt dachte Herr Meckbach nur noch an eines: „Ich hätte Polizist werden sollen.“
Nervös. Von wegen. Denen würde er es noch zeigen. Nervös. Dass er nicht lachte. Die konnten ihn mal am Arsch lecken und zwar alle, von wegen nervös. Wenn hier einer nervös war, dann doch nicht er, sondern alle anderen.
Phillip nahm eine weitere Minzpastille und schaute aus dem Fenster. Alles lief irgendwie schneller ab und verwaschener. Eigentlich hätte er da am Steuer sitzen sollen und nicht dieser Affe von einem Aushilfsgangster. Aber auf einmal meinten ja alle, er wäre zu nervös! Nervös! Er! Dass er nicht lachte! Jeder hätte den Wagen abwürgen können. Auch dreimal. Was sollte das schon? Und jetzt musste er in die Scheiß-Bank und sich vielleicht abknallen lassen und Stefan fuhr den Scheiß-Fluchtwagen und Bonnie und Clyde auf der Rückbank fummelten schon rum. Und das alles nur, weil es hieß, er sei nervös!
Phillip nahm eine weitere Minzpastille, von irgendwoher kam ein stetiges Geräusch, das sich in dem viel zu kleinen Wagen viel zu laut anhörte und jedem auf die Nerven gehen konnte. Jedem würde das den Verstand rauben, nicht nur ihm.
Von der Rückbank hörte er das Schlabbern zweier Zungen. Widerlich, sich in aller Öffentlichkeit so zur Schau zu stellen, aber das Geräusch meinte er gar nicht. Stefan, dieser blasierte Affe, ignorierte das alles und fuhr nur den Wagen. Seinen Wagen!, verdammt noch mal. Schließlich war Phillips Geduld erschöpft und er verlangte entschieden zu wissen, woher dieses verdammte Geräusch käme. Das Geräusch, das ihn noch in den Wahnsinn trieb. Dieses verdammte Tapp-Tappen.
Phillip nahm eine weitere Minzpastille und Stefan, Mister Nicht-Nervös, schaute kurz auf, zu ihm herüber und zeigte mit einer Kopfbewegung auf den Fußraum unter Phillips Sitz, also dorthin, wo Phillip seine Beine hatte. Und eins dieser Beine tapp-tappte in schnellem Rhythmus gegen den Boden.
Phillip nahm eine weitere Minzpastille.
Stefan parkte den Wagen genau vor dem Eingang der Sparkasse, und setzte sich, im selben Moment, als der Wagen zum Stehen kam, auch schon die Helmut Kohl-Maske auf. Sie roch streng, nach Plastik, und fühlte sich unangenehm auf seiner Haut an. Aus den Geräuschen, die von der Rückbank kamen, folgerte er, dass Marion und Ulf erkannt hatten, dass es an der Zeit war, zumindest für eine Weile auf gegenseitige Zuneigungsbekundungen zu verzichten. Und als er sich umsah, erkannte Stefan, dass Ulf das Magazin aus seiner Maschinenpistole fahren ließ, nur um es erneut hineinzuschieben. Die Bewegungen waren fließend, wie einstudiert, so als hätte Ulf es wochenlang vor dem Spiegel geübt. Wahrscheinlich hatte er also die Wahrheit gesagt. Er war tatsächlich einmal bei der Bundeswehr gewesen. Neben ihm hörte Stefan, wie Fleisch gegen Glas schlug. Phillip hatte wohl vergessen, wie man eine Tür öffnet und sich einfach mit seinem Körpergewicht dagegen geworfen.
Ulf bekreuzigte sich, ließ das Magazin mit einem satten Schnappen in die Waffe schnellen und lud durch. Er atmete flach durch den Mund ein und durch die Nase aus. So wie er es gelernt hatte. Atme ein, atme aus, lass alle Gedanken raus.
Die Maske lag dicht auf seiner Haut, aber behinderte sein Sichtfeld nicht. Darauf hatte er geachtet. Ein letztes Mal ausatmen, und dann schaltete sein Leben einen Gang hoch.
Die Wagentür flog auf, rasche Schritte auf die Glastür zu, neben ihm eine alte Frau, die ihren Hund von einer Laterne losband. Vor ihm lief Phillip, unruhig, fast in Schlangenlinien. Hinter sich fühlte er Marion. Phillip erreichte die Tür, sie schob sich auf. Ulf folgte ihm und fasste die Maschinenpistole fester. Im Vorraum der Bank stand eine Frau an einem Bankautomaten und starrte auf das Bildschirmchen. Phillip lief an ihr vorbei in den Hauptgang und zog eine Pistole aus seinem Gürtelbund, seine Hand zitterte so, dass er zweimal nachfassen musste.
Die Frau am Bankautomat hatte lange, blonde Haare. Ulf packte sie an ihnen und griff fest zu. Sie wog fast nichts. Aber schrie, schrillte und kreischte wie eine Sirene. Ulf zog sie mit sich in Richtung Schalterhalle.
Phillip ging mit gezogener Waffe auf einen Schalter zu, hinter dem ein alter Mann und ein rothaariges Mädchen standen und sich unterhielten. Von dem Mädchen konnte man nur den Rücken sehen und die Haare. Feuerrote Haare.
Marion brüllte Befehle und schwang sich auf den gegenüberliegenden Tresen, so als gehörte der zu einer Strip-Bar und nicht zu einer Bank.
Das machte sie geil. Ulf wusste das. Die Waffe in der Hand, die Angst, der Nervenkitzel, das Leben pur. Kaum zu glauben, dass ihr Körper sie betrog. Darmkrebs, und jetzt saugte sie am Leben wie an einem -
Die Frau, die Ulf an den Haaren hielt, weinte und schrie. Ulf stieß sie gegen eine Zimmerpflanze direkt neben dem Eingang und postierte sich in der Mitte, vor dem Bankeingang.
Marion stolzierte auf dem Tresen herum und Ulf konnte ihre Beine sehen. Gott, was für Beine. Sie schrie: „Auf den Bauch, Hände hinter den Kopf!“ Ein Bankangestellter in mattblauem Zweireiher folgte ihrer Anweisung nicht. Er blieb stehen. Marion tänzelte auf ihn zu, hob ihren Fuß geschickt über einen Papierstapel, und trat ihm mit ihren Stiefeln gegen das Kinn. Er sackte zu Boden. Für einen Moment starrte Ulf sie an. Die schwarzen Stiefel, der kurze Rock, die perfekte Figur und darauf das unförmige Gesicht Helmut Kohls.
Ulf hörte einen Schuss. Dann war es still, bis Wimmern einsetzte. „Den Schlüssel. Besorg mir endlich den Schlüssel“, schrie Ulf.
Aus seiner Waffe hat sich ein Schuss gelöst! Das hätte jedem passieren können! Phillips Hand zitterte. Sein Magen war leer, sein Herz schlug schnell. Er hatte sich schon einmal so gefühlt, nur einmal. Das war ein Rave gewesen, in einem abgesperrten Straßentunnel. Er hatte Red Bull getrunken und ein paar „Hallo, wach!“ genommen. Und sein Magen war leer gewesen und er hatte diesen Geschmack im Mund gehabt. Da hatte er sich auch so gefühlt, und der Schuss hatte sich gelöst. Das hätte jedem passieren können.
Der Schweiß brannte in seinen Augen. Die verdammte Maske. Er wollte sie sich von seinem Kopf reißen.
Das rothaarige Ding lag da unten. Es roch nach verbranntem Fleisch. Wie bei einem Steak. Aber das bildete er sich nur ein. Er konnte die Wunde gar nicht sehen. Sie lag auf dem Bauch. Er konnte nur die Haare sehen und den Opa vor sich, mit den Geheimratsecken und dem getönten, schwarzen Haar, aber der Bart war schon grau. Und er murmelte etwas vor sich hin. Von Polizei, oder so. Die Rothaarige hatte die Hände unter dem Tresen gehabt. Und auf den stillen Alarm gedrückt! Er war ein Held. Er hatte das erkannt.
Und jetzt. Er schmeckte Pfefferminz-Geschmack. Sein Mund schmeckte danach, Minze. Den Hals runter, bis in seinen Magen, alles voll mit Minze und der Schuss hatte sich gelöst, aber das war gut so, denn sie hatte nach einem stummen Alarm gegriffen und der Opa murmelte von Polizei und lag noch immer nicht mit dem Bauch nach unten.
„Den Schlüssel! Besorg mir endlich den Schlüssel“, schrie Ulf.
Stefan klammerte sich an das Lenkrad. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, die Muskeln in seiner rechten Wade zuckten. Die Maske stank fürchterlich. Schweiß vermischte sich mit Plastik. Er sah aus dem Fenster. Alles ruhig. Man sah nichts und hörte auch nichts. Das war wahrscheinlich gut. Stefan starrte auf die Glastür, durch die eben Phillip, Ulf und Marion gegangen waren. Wie lange war das schon her?
Stefan schloss die Augen. Die Muskeln in seiner rechten Wade zuckten, so als wollten sie den Wagen alleine fahren, als wollten sie ihm sagen, dass er losrasen musste. Vielleicht war das ein Zeichen? Stefan griff mit spitzen Fingern in die Innentasche seiner Jacke und fand das Foto. Er führte es vor seine Augen, und da sah er es: Ein Baby mit blondem Flaum auf dem Kopf, das mit Bauklötzchen spielte auf einem flusigen Teppichboden. Das Baby hatte eine Pampers an.
„Fahr los! Mach schon, du Idiot. Fahr endlich los!“
Stefan ruckte hoch. Neben ihm Helmut Kohl, die Phillip-Ausgabe.
Stefan schaute nach hinten. Noch leer.
„Fahr los!“
„Was ist mit den anderen?“ Oh, Gott. Waren sie etwa – tot?
Die Tür hinten flog auf. Marion seufzte entzückt auf. Ulf wuchtete sich hinein. Stefan hörte Autos. Jetzt. Aber keine Sirenen.
Stefans Wadenmuskel zuckte. Dann fuhr er los.
Vier junge Leute fuhren in einem schwarzen Ford über eine Landstraße. Der Wagen war eigentlich zu klein für die vier. Vor allem für den wuchtigen Mann mit kahlgeschorenem Schädel, der hinten saß, und der gut und gerne seine zwei Zentner wog. Gerade war er damit beschäftigt, Geld zu zählen, aus einer weißen Plastiktüte heraus. Die Frau neben ihm, ein dürres Ding, strich ihm dabei über seinen Schädel und gelegentlich zuckte ihre Zungenspitze in sein Ohr. Der Fahrer nagte derweil auf der Unterlippe herum und massierte sich mit seiner rechten Hand, wenn er nicht gerade schalten musste, die Wade.
In dem Wagen war bis auf das Geld in der Plastiktüte nichts Auffälliges. Wenn, nehmen wir einmal an, eine Polizeistreife sie angehalten hätte, um, sagen wir mal, nach Helmut-Kohl-Masken, Maschinenpistolen oder Ähnlichem zu suchen, so wäre sie nicht fündig geworden.
Phillip sagte: „Ich meine, schaut euch doch mal diese neue GEZ-Werbung an, mit dieser Tussi da. Diese Scheiß-Blondine, wo man nicht weiß, wie alt die ist. Ich meine, wie alt ist die? Jetzt mal ehrlich. Zwölf? Vierundzwanzig? Die kann doch alles sein und dann sagt die doch so: Hier, wenn ich Brötchen kaufe, bezahl ich doch auch. Wäre ja sonst peinlich! Ich meine, wie entsteht so was? Das frag ich mich echt. Sitzen da so Typen in ihrem Glasbüro und machen ein Brainstorming und dann sagt einer: Ich glaube, wir müssen da mal ein Bewusstsein schaffen! Und das Schlimmste ist ja das Ende. Unabhängige Medien!“
Phillip lachte.
„Unabhängige Medien! Die braucht ja schließlich jeder! GEZ! Unabhängige Medien!“
Stefan sah zu ihm herüber und sagte: „Wir müssen uns bald trennen.“
„Ich meine, wer sitzt denn in dem Scheiß-Aufsichtsrat von den Radio- und Fernsehsachen? Hat sich da mal einer die Mühe gemacht, das nachzuschauen? Alles Politiker, Mann. Scheiß-Politiker. Unabhängige Medien. Die kann doch mal ihr Scheiß-Maul halten, also das regt mich echt auf.“
„Achtundvierzig Tausend“, sagte Ulf von hinten.
Marion seufzte entzückt auf. Dann begann der Motor zu stottern.
Stefan schaute Phillip an.
„Bewusstsein schaffen. Ach, leckt mich doch alle am Arsch. Echt!“
Ulf ließ die Motorhaube nach unten krachen. „Kolbenfresser“, sagte er. „Wohl von vorhin noch, als du den Motor dreimal abgewürgt hast.“
Phillip sah auf seine Schuhspitzen. Stefan hielt die Plastiktüte mit dem Geld in seinem Arm und schaute nachdenklich in den Himmel. Die Dämmerung zog auf und sie waren hier mitten im Nichts, auf einer Landstraße. Nur ein paar Bäume standen am Straßenrand und dahinter lagen wahrscheinlich Felder.
„Langweilig“, sagte Marion.
Ulf fuhr mit dem Handrücken unter seiner Nase entlang. „Wir müssen den Wagen hierlassen.“
„Scheiße, Mann“, sagte Phillip. „Das kannst du voll vergessen, wir müssen ihn umlackieren.“
„Wir sollten uns trennen“, sagte Stefan.
„Alter, raffst du es nicht. Wir müssen den Wagen umlackieren. Sonst geht mal gar nichts. Wenn den einer findet, der kann doch unten auf dem Scheiß-Motorblock nachsehen und dann sieht er doch, dass der zu mir gehört und ich sag euch eins, wenn ich dran bin, dann seid ihr alle dran.“
„Mach, was du willst. Ich nehm mir meine zwölf Tausend und bin weg.“
Ulf schüttelte gemächlich den Kopf. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. „Wir trennen uns nach dem Debriefing und keine Sekunde vorher. Und zwölf Tausend kriegst du nie im Leben raus. Du vergisst die Kosten. Die Waffen, die Masken und das alles.“
„Laaaaaaaaangweilig“, sagte Marion.
„Hallo? Hallo, Echo?“ Phillip wieder. „Was ist mit der Karre? Wir können ja wohl kaum den Scheiß-ADAC anrufen.“
Ulf sah die Straße hinauf und hinab. „Helft mir schieben, wir schieben ihn in das Wäldchen da drüben. Ich ruf nen Kumpel an von früher. Der kriegt das Ding schon wieder flott.“
Stefan zog ein Mobiltelefon aus seiner Jacke. „Kein Empfang.“
„War ja klar“, sagte Phillip. „War scheiß-klar.“
„Los, ihr starken Mannen“, sagte Marion und setzte sich ins Auto. „Wir möchten in unserer Kutsche in den Schatten geführt werden.“
Ulf schob in der Mitte, Stefan links und Phillip rechts von ihm. Und Stefan hörte Ulf leise sagen: „Raubmord, nur weil du so ein Idiot bist, haben wir einen Raubmord am Arsch.“
Stefan fühlte, wie seine vorderen Hirnlappen gegen den Schädel drückten. Eine fürchterliche Migräne kündigte sich an. „Wir sollten uns trennen.“
„Nein“, sagte Ulf. „Wir sollten schieben.“
Derweil hupte Marion die Melodie von „Let it be.“
Marion tanzte wie eine Elfe vor ihnen her. Eine seltsame Elfe aus einem Rambo-Film entsprungen, mit ihrem kurzen Rock und den schwarzen Stiefeln.
Phillip nahm eine weitere Minzpastille und versuchte nicht nachzudenken. Seit Stunden, so kam es ihm vor, liefen sie die Straße entlang und warteten auf einen Wagen. Aber keiner kam.
Seine Füße taten schon weh, wahrscheinlich bekam er eine Scheiß-Blase und jeden Moment würde es endgültig dunkel werden. Dann konnte er hier in der Scheiß-Dunkelheit rum rennen, mitten im Nichts. Mit dem blasierten Affen und dem Pärchen aus Natural Born Killers. Klasse.
Die tanzende Elfe blieb stehen, Phillip und die anderen schlossen zu ihr auf.
„Da geht ein Weg lang“, sagte Marion und zeigte in eine Richtung, links vom Straßenrand.
Phillip sah in die Richtung, konnte aber nichts erkennen. Er nahm eine weitere Minzpastille.
Dann stapfte er den anderen nach.
„Ich habe echt kein gutes Gefühl dabei“, sagte Stefan. Eine riesige Villa, mitten im Nichts. Kerzenschein hinter den Fenstern. Petroleumlampen und Skulpturen im Garten. Ein schwarzer, hüfthoher Zaun, mit einem Gartentürchen.
„Das ist wie in einem Scheiß-Film“, sagte Phillip.
„Wenigstens nicht langweilig“, sagte Marion, öffnete die Gartentür und hüpfte auf den Eingang der Villa zu. Ulf ging hinter ihr her und auch Phillip folgte.
Als Stefan die Gartentür hinter sich schloss, hatte er für einen Moment, zwischen dem Gedanken an das Baby auf dem Foto und den fürchterlichen Kopfschmerzen, nur für einen kurzen Moment also, hatte er eine Ahnung. Aber Marion war schon an der Tür.
Stefan hielt sich etwas abseits. Als er die Tür erreichte, redete Marion bereits mit einer Dame, einer richtigen Dame. Hochgestecktes Haar, dezent geschminkt, schwarzes Kleid. Und Ulf lachte künstlich, über irgendetwas. Phillip starrte auf seine Schuhspitzen und nahm eine weitere Minzpastille. So richtig verstand Stefan nicht, über was Marion mit der Dame des Hauses zwischen Tür und Angel redete.
Aber schließlich drehte Marion sich zu ihnen um und sagte: „Ich gehe erstmal kurz mit rein, wir haben nur was zu klären. Wartet doch kurz hier draußen.“ Dann verschwand sie in das Haus.
Phillip sagte: „Scheiß-Lesben.“
Und Ulf zog hörbar seine Nase hoch.
„’tschuldigung.“
„An ihrer Stelle würde ich auch keine drei wildfremden Männer in mein Haus lassen“, sagte Ulf.
Und dann warteten sie schweigend und Stefan sah sich die Skulpturen im Schein der Petroleumlampen an. Er bekam eine Gänsehaut dabei. Bei Skulpturen musste er immer an die Medusa denken, die Menschen mit ihrem Blick zu Stein werden lassen konnte.
„Also“, sagte Marion. Die Tür stand hinter ihr noch auf. „Sie hat leider kein Telefon und auch kein Auto. Aber morgen Mittag kommt der Postbote, mit dem können wir in die Stadt fahren. Sie möchte mit uns essen und dann können wir auch hier übernachten.“
Leiser setzte sie fort: „Ihr Mann ist wohl ein ziemlicher Loser, oder so. Kein Telefon, kein Fernsehen und nix. Sie hat mich ständig gefragt, was in der Welt so los ist. Also bitte, seid nett zu ihr. Ich glaube, sie will sich einfach mal unterhalten.“
„Scheiße, wer bist’n jetzt? Scheiß Mutter Theresa, oder was?“
„Ulf, würdest du bitte …“
„Aber gerne“, sagte Ulf, packte Phillip am Nacken und zwang ihn mit Leichtigkeit nach unten. Ulf brachte seinen Mund dicht an sein Ohr und flüsterte: „Hör mal zu, du kleiner Pisser. Du benimmst dich ab sofort, du wirst brav deine Suppe essen, nicht rumfluchen, nicht widersprechen, keine Leute umlegen, dich nicht auffällig benehmen und dann wirst du morgen dein Geld bekommen und wir werden uns nie wieder sehen. Alles klar?“
„Klar“, keuchte Phillip. „So was von klar. Klar wie Kloßbrühe.“
„Gut, ich wollte nur etwas Bewusstsein schaffen.“
Es gab keine Suppe und in Phillip brodelte es. Es war sein Wagen gewesen verdammt! Und sein Plan! Helmut-Kohl-Masken; darauf musste man erstmal kommen! Und jetzt wurde er rumgeschubst wie ein Handlanger in seinem eigenen Plan!
Marions glockenhelles Lachen kam vom Kopf des Tisches. Phillip gegenüber saß Stefan und massierte seine Schläfen. Sein Steak, oder was immer es war, hatte er nicht angerührt. Auch Phillip starrte auf den fladenförmigen Batzen Fleisch vor sich.
„Ja, da macht man sich auf den Jakobsweg und kommt nicht mal bis nach Madrid“, sagte Ulf.
Phillip schaute hoch.
„Schmeckt es Ihnen denn nicht?“ Die Stimme der Frau klang gedämpft.
„Oh, doch, doch, nur Probleme mit dem Magen“, antwortete Phillip. Doch als er wieder an den Kopf des Tisches schaute, erkannte er, dass die Frage nicht ihm gegolten hatte. Die Dame des Hauses schaute Stefan an.
Phillip schnitt ein Stück Fleisch ab, tunkte es in den Haferbrei und schob es sich in den Mund. Er kaute einige Male lustlos darauf herum und würgte es runter. Schmeckte nach Hühnchen. Mit einer widerlichen Minznote.
Phillip lag in Unterwäsche im Doppelbett und konnte einfach nicht einschlafen. Wenn er anfing, Schafe zu zählen, hatten sie plötzlich rotes Fell. Und außerdem lag Stefan neben ihm, und das war wahrscheinlich der Hauptgrund. Bei solchen blasierten Typen konnte man nie wissen. Die waren ja alle schwul. Wusste jeder. Phillip starrte in die Dunkelheit. In seinem Kopf tauchten Bilder auf, sein Magen fühlte sich ganz grün an. Er musste aufstoßen und husten. Er konnte ja noch nicht einmal zur Entspannung den Lurch würgen, weil Stefan neben ihm lag.
In der Dunkelheit entwickelte Phillip ein ganz seltsames Körpergefühl, fuhr sich mit der Zunge die Innenseite seiner Zähne entlang, überlegte, wie kompliziert das eigentlich alles war, dass die Zähne so aufeinanderlagen und dass sie sich ja nie berühren durften, die beiden Zahnreihen, wegen Abnutzung. Und dass er nur den Rücken der rothaarigen Frau gesehen hatte und dass er sie in den Rücken geschossen hatte und dass sie vielleicht gar nicht …
„Verdammte Scheiße.“
„Ja?“, fragte Stefan.
„Alder, ich kann einfach nicht schlafen. Du schnarchst!“
„Ich hab nicht geschlafen.“
„Egal, ich geh mir erstmal ein bisschen die Beine vertreten.“
„Bleib doch einfach hier“, sagte Stefan. „Du kennst dich hier nicht aus, und es ist sehr unhöflich in einem fremden Haus rumzuschnüffeln.“
„Ich mache, was ich will. Vielen Dank.“
Stefan drehte sich zur anderen Seite und zog ein weiteres Kopfkissen heran, es roch staubig. Er hielt es über sein Ohr, um die Geräusche nicht zu hören, die Phillip machte, während er sich im Dunkeln anzog.
Im Schein der Kerzen konnte Ulf ihre Brüste sehen. Aber viel wichtiger war ihr weicher Schoß. Sie saß auf ihm und zerfloss geradezu. Ulf hielt sie an ihren Pobacken, hob sie ein wenig nach oben und pumpte in sie hinein. Sie stöhnte und ritt ihn wilder als sonst, drückte richtig zu, klemmte ihn ein.
Ulf keuchte, drückte ihre Pobacken auseinander, damit er noch tiefer hineinkam, sich ganz in sie hineinwerfen konnte, mit all seiner Kraft.
Marion lachte auf, ihre Hände, die bisher auf Ulfs Brust gelegen hatten, lösten sich von ihm. Marion richtete sich auf ihm auf und tastete hinter sich. Ulf sah, dass sie nach der Plastiktüte gegriffen hatte. Jetzt zog sie ein Bündel Scheine heraus. „Mach’s mir damit“, sagte sie.
Ulf löste seine Hände von ihrem Po, griff nach den Scheinen, diesen realen, nicht-fleischigen Dingern, nahm ein paar in jede Hand und strich mit ihnen über Marions Brüste.
Phillip schlich über den Korridor. Das Ganze hier kam ihm doch äußerst seltsam vor. So ein Prachtbau mitten im Nichts und dann zwei Gästezimmer und das alles. Und der Mann angeblich auf Reisen. Ha! Vampire!
Die Frau da. Schwarzes Kleid und so. Wahrscheinlich kein Spiegelbild. Und er hatte nicht darauf geachtet. Und dann dieses Fleisch. Hühnchen! Ha! Wusste doch jeder, dass Menschenfleisch nach Hühnchen schmeckte. Hatte er neulich erst gehört. In diesem Film. Also Vampire, klar. Und sie hatte sie in ihr Haus geladen. Also schutzlos. Diese Frau sah eh aus wie aus dem 18.Jahrhundert. Und kein Fernsehen da und nichts.
Phillip leckte über seine Lippen und schaute unruhig nach links und rechts. Im Korridor war es dunkel. Er würde sich die Tussi jetzt vorknöpfen. Sie hatte noch gesagt: „Wenn ich einen Wunsch äußern dürfte, halten Sie sich doch bitte vom Kellertrakt fern.“ Dort schlief sie mit ihrer Brut!
Phillip hatte das erkannt. Er fühlte sich wohl. Er war der Held hier.
Eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte, dass er nur den Rücken der rothaarigen Frau gesehen habe und dass Vampire tagsüber schliefen und nicht nachts und dass es keine Vampire gäbe. Aber die Stimme war sehr leise und roch nach Pfefferminz.
Stefan hatte die Hände hinter seinem Kopf verschränkt und dachte an das Baby auf dem Foto. Mit den Bauklötzen auf dem flusigen Teppich. Und er dachte an Weiß. Alles um das Baby herum war Weiß. Er kannte das Zimmer nicht, nur den Teppich und die Bauklötzchen und die Pampers. Stefan atmete durch die Nase ein, die Kopfschmerzen waren ein wenig schwächer geworden, vor allem wenn er an weiß dachte. Das ging ohne Probleme, er musste nicht die Augen zusammenpressen, um an etwas konzentriert zu denken. Konzentriert denken, das hieß Kopfschmerzen.
Die Tür knarrte, er roch einen schweren, lilafarbenen Lavendelduft.
Jemand legte sich auf ihn. Ihre Haut war kühl. Stefan streichelte über ihren Rücken. Ein kühler Rücken, weiße Kühle. Sie stupste mit ihrer Nase gegen seine und griff nach seinem Schwanz.
Ulf war das hintere Löffelchen. So wie immer. Mit einer Hand rieb er Marions kleinen Bauch. Er wusste, dass sie es hasste. Aber diesmal blieb sie ruhig.
„Du“, sagte Ulf. „Ich liebe dich.“
„Nicht“, sagte sie. „Du hast es versprochen.“
„Bitte, wir haben jetzt Geld. Vielleicht gibt es eine Operation.“
„Nicht“, sagte sie. „Du hast geschworen.“
„Ich meine doch nur.“
„Noch ein Wort“, sagte sie ganz leise. „Und ich bin weg.“
Ulf schwieg.
Phillip schlich nach unten, es waren anscheinend Betontreppen. Sie knirschten nicht. Phillip griff in seine Hosentasche und fand ein Feuerzeug neben den Pfefferminzpastillen. Sein Daumen kratzte über den Zündstein des Feuerzeugs. Ein kalter Gang mit einigen Türen. Das Licht des Feuerzeugs flackerte.
Phillip ging auf eine Tür zu und öffnete sie. Fast meinte er, nun müssten ihm Fledermäuse um die Ohren fliegen. Kleine, kreischende, schwarze Dinger, die nur aus Zähnen und Mäulern bestanden, aber nichts. Es roch wie in einem Krankenhaus, aber auch nach Rauch. Pfeifentabak, oder so. Rauchten Vampire?
Das Licht des Feuerzeugs erlosch. Phillip griff neben die Tür nach einem Lichtschalter, aber da war nichts. Die Wand fühlte sich organisch an. Fast wie Menschenhaut. Oh, Gott, vielleicht hing da ein Scheiß Vampir an der Wand.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
„Scheiße, scheiße, scheiße.“
Sein Daumen kratzte über den Feuerstein, nichts. Seine Hände schwitzten. Atmen, ausatmen. Vampire! Scheiß Vampire. Er brauchte das Feuerzeug.
Er hielt es in der linken Hand und mit der rechten hatte er die Vampirwand berührt.
Er kratzte mit dem Daumen erneut über den Zündstein, und die Flamme ging an und jetzt sah er die Vampirwand. Es war eine Pinnwand, Zeitungsartikel waren daran befestigt. Graue Schnipsel mit schwarzen, fetten Überschriften: „Erstes Universalgenie nach Lessing“, „Durchbruch in der Genetik?“, „Der größte Moment seit Watson und Crick?“
Ein Vampir-Professor?
Die Feuerzeugflamme sengte Phillips Daumen an. Er schrie auf, ließ das Feuerzeug fallen und es war wieder dunkel. Phillip ging auf die Knie und suchte am Boden danach. Die Tür knarrte hinter ihm. Ein Lichtstrahl fiel auf den Boden. Phillip spürte einen stechenden Schmerz in seinem Nacken. Dann verlor er das Bewusstsein.
Stefan hatte Mühe, hart zu bleiben. Sie fickte ihn auch ganz behutsam, hatte er das Gefühl, eigentlich gar nicht. Sie lag nur auf ihm und hielt ihn in sich. Stefan hatte seine Hände um ihre Hüfte gelegt und massierte sie dort leicht. Es war nicht sehr leidenschaftlich, aber doch intim. Viel intimer als man in so einer Situation erwarten würde. Er konnte sich gar nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Hatte ja eigentlich kaum darauf geachtet. Während des Essens nur diesen Batzen Fleisch angesehen und versucht, nicht konzentriert zu denken. Aber sie war bestimmt sein Typ. Und eigentlich war es jetzt egal.
Sie beugte sich zu ihm herunter, roch lila, nach Lavendel, und küsste ihn auf den Mund. Als sie sich wieder hoch drückte, blieb eines ihrer langen Haare in Stefans Mund hängen und er musste husten.
Plötzlich flog die Tür auf. Licht.
„Oh, Nein“, schrie sie.
Ein kleiner, dicker Mann stand in der Tür und hatte ein Holzding an seine Lippen gepresst.
Die Frau auf Stefan war sehr schön. Das konnte er jetzt sehen. Alabasterhaut, die Haare wild und ungezügelt und sehr runde, weibliche Formen. Und ein Hals, in den man beißen möchte.
Sie brach auf ihm zusammen und fiel auf ihn hernieder.
Stefan wollte sie wegdrücken. Er hörte die Schritte auf dem Dielenboden und sah in das rundliche Gesicht des Mannes, der diese Holzpfeife im Mund hatte. Stefan bekam die Frau einfach nicht weg, er drückte und strampelte.
Der Mann nahm das Blasrohr von seinem Mund und sagte: „Jentzsch mein Name. Angenehm. Ich bin der Mann von der Frau, die Sie gerade bestiegen hat.“
Dann setzte er das Blasrohr erneut an.
Noch bevor Phillip die Augen aufschlug, murmelte er: „Was war das für ein Scheiß-Zeug?“
„Namibisches Kung-Pfeilgift“, hörte er eine sonore Stimme antworten. „Es gibt leider keinen präziseren Namen, die Kung nennen es …“ Der Mann rülpste eine komplexe Folge von Schnalz- und Schmatzlauten hinaus. „Verzeihung, sie nennen es einfach Gift, die kennen wohl kein anderes. Ziemlich einfältiges Völkchen. Aber sie sind glücklich. Nehme ich mal an, die brauchen kein Fernsehen und kein Park-Avenue-Abonnement und keinen Gute-Nacht-Fick mit einem Wildfremden, um glücklich zu sein.“
„Was zum Teufel?“ Nun schlug Phillip die Augen auf und stellte fest, dass er bereits stand und auf einen kleinen, dicken Mann starrte, der die Hände hinter seinem Rücken verschränkt hatte. Er stand zwischen einigen Petroleumlampen, also musste das hier der Garten der Villa sein, aber warum erkannte Phillip hinter ihm eine riesige ägyptische Pyramide?
Stefan konnte seinen Kopf nicht bewegen, zwar die Augen und den Mund – das wusste er, denn er hatte geschrien, aber den Kopf nicht. Vom Rest des Körpers ganz zu schweigen.
Im äußersten peripheren Blickwinkel, zu seiner Linken, erkannte er die Frau, mit der er geschlafen hatte. Sie stand nackt dort auf der Wiese. Auf den ersten Blick wirkte sie ganz gefasst. Was, so erkannte Stefan, wohl daran lag, dass auch sie gelähmt war. Und in gelähmtem Zustand wirkte man nun einmal gefasst. Ob Tränen ihre Wangen hinunter rannen, oder nicht.
„Bitte, ich hab doch etwas Besseres verdient. Denk dran, wie ich dir damals die Uni bezahlt habe und du hattest doch auch deine Affären, ich hab nie etwas gesagt. Diese chinesische Doktorandin, dachtest du etwa, ich wüsste das nicht? Du hast sie zwei Monate lang jeden Tag gevögelt und als das mit ihr fertig war, hat sie mich angerufen und mir alles erzählt. Und mich lässt du jeden Abend allein. Wann warst du denn das letzte Mal zärtlich zu mir?“
Der kleine, dicke Mann, der vor ihnen stand, mit der Pyramide im Hintergrund, wurde etwas rot.
„Bitte, wir können doch noch mal ganz von vorne anfangen. Töte ihn von mir aus, er bedeutet mir nichts! Ich helfe dir dabei, wir vergraben sie hier an Ort und Stelle.“
Stefan zog die Augenbrauen hoch.
„Bitte!“, jetzt schrie sie. „Bitte, ich tu alles, was du willst. Aber lass es doch nicht so enden.“
„Gleich fängt die Fotze noch an zu singen“, knurrte Phillip von irgendwo hinter ihnen.
Marion lachte hysterisch auf.
Der kleine, dicke Mann – Jentzsch, erinnerte sich Stefan – räusperte sich.
„Stimmt“, sagte er. „Du hast wirklich etwas Besseres verdient. Komm schon, komm zu mir.“
Stefans Augen begannen zu schmerzen, weil er sie so stark verdrehen musste, nur um diese Frau zu sehen, deren Namen er nicht einmal wusste und die dort starr wie ein Medusenopfer stand. Doch nun bewegte sie sich. Zuerst ihr linker Fuß, dann ihr rechter. Sie lief. Stefan konnte ihre nackten Fersen sehen, ihr Po wackelte, während sie lief, und ihr Busen wogte.
„Du hast sie gefickt und wir gehen deshalb drauf. Toll gemacht, ehrlich. Ich sag dir nur, wenn ich hier rauskomme, dann werde ich eine Riesenarmee von Vampiren aufbauen und Jagd auf dich machen, du blasierter Arsch. Du wirst zu Staub zerfallen.“
Jentzsch breitete die Arme aus. Seine Frau war noch einige Meter von ihm entfernt und stolperte nun mehr, als dass sie lief. Rote Rosen erblühten links und rechts von ihr, säumten den ganzen Weg bis zu ihrem Mann, wuchsen in alle Richtungen, wuchsen auch nach innen, wuchsen auf ihn zu.
„Vorsicht“, schrie Stefan. Doch eine Rosenliane hatte sich bereits um ihre Füße geschlängelt, glitt ihr Bein nach oben, floss über ihren Po, weiter den Rücken hoch.
Sie lachte, streckte einen Arm aus und die Rosen rankten sich um ihren Arm. Ein anderer Strang wuchs von der Seite auf sie zu, umhüllte ihre Brüste. Sie stöhnte auf, drehte sich zu Stefan um, wie um sich zu präsentieren.
Ein dritter Strang ging aufs Ganze, wuchs auf ihre Scham zu. Sie war dort kahl. Stefan war das vorher gar nicht aufgefallen.
„Das ist widernatürlich“, schrie Ulf.
Über und über mit Rosen bedeckt wand sich die Frau in Ekstase. Sie schrie und stöhnte, ihre Augen drehten sich nach oben, so dass man nur noch das Weiße sehen konnte. Ein Liebhaber mit tausend sanften Fingern und Knospen.
Dann begann sie zu bluten.
Erst an den Knöcheln, ein kleiner Rinnsal nur. Stefan sah es zwischen den Ranken hindurch. Dann zogen sich die Rosen von ihrem ausgestreckten Arm zurück und Blut schoss heraus, aus tausend kleinen Wunden. Sie stöhnte immer noch vor Lust, keuchte dem x-ten Orgasmus entgegen.
„Scheiße, die sprudelt ja wie ne defekte Wasserleitung!“
Wohl durch Phillips Schrei aufgeweckt öffnete sie ihre Augen. Die Rosen wogten bis zu ihrem Kinn.
Der kleine, dicke Mann hatte sich von ihr abgewandt und schaute auf die Pyramide oder hatte die Augen geschlossen. Stefan wusste es nicht.
Die Frau starrte auf ihren blutenden Arm und schrie, sie riss ihre Augen auf. Stefan sah, wie die Rosen, die sie eben noch beglückt hatten, nun immer weiter in sie vordrangen. Sich in sie schoben, zwischen ihren Beinen verschwanden.
Sie streckte den blutenden Arm aus, zeigte auf ihn, auf Stefan. Und schrie: „Hilf mir, hilf mir doch.“ Tiergleich, nichts Menschliches war mehr in ihrer Stimme.
Stefan wollte sich abwenden, wollte die Augen schließen, doch er konnte nicht. Und so musste er mit ansehen, wie Rosen, wunderschöne, rotweinrote Rosen aus ihrem Mund schossen. Und Stefan konnte hören, wie ein Gemisch aus Blut, Gedärmen und Rosen auf die Wiese klatschte.
Sie selbst fiel nicht um, die Rosen hatten gnädig ihr Gesicht bedeckt, füllten sie nun ganz aus, von innen und außen. Und dann, dann verblühten sie. Verloren erst das Bordeauxrot und dann jegliches Rot, wandelten sich zu Grau, verdorrten noch an ihrem Körper und fielen von ihr ab. Und als der Kokon aus Rosen tot und grau zu Boden fiel, da blickte Stefan auf die blutleere Hülle einer Frau, blickte auf eine Mumie, die mit knöcherner Hand auf ihn zeigte. Stefan blickte auf den Tod. Die Leiche kippte nach vorne über, in Richtung des ausgestreckten Arms, und zerbarst in tausend Teile.
„Okay, das war echt eklig“, murmelte Phillip. Das erste Geräusch seit … Ulf wusste es nicht, seit Stunden. Er saß mit dem Rücken an einer Wand, soviel konnte er fühlen. Und Marion lag in seinen Armen, auch das konnte er fühlen. Aber ansonsten war es finster. Zumindest konnten sie sich bewegen. Der Raum war niedrig, vielleicht eine Vorkammer, wenn sie wirklich in dieser Pyramide waren. Vor einiger Zeit war Ulf auf allen Vieren herumgekrabbelt und hatte die Kammer abgetastet. Sie war nicht sehr groß, vielleicht vier mal vier Meter und achtzig Zentimeter hoch und es gab keine Einkerbungen an den Wänden und gar nichts. Der Boden war kalt und fugenlos. Die Decke ebenso.
„Was hast du eigentlich die ganze Zeit mit diesen Vampiren gehabt?“, fragte Stefan.
Die Worte verhallten unbeantwortet in der Dunkelheit.
Wieder Stille. Ulf konnte Marion fühlen. Sie lag still und atmete flach. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Ulf fuhr durch ihre Haare, ein paar Kutzel hatten sich gebildet und sie ächzte auf, als er sich in einem dieser Haarknäuel verfing.
„Das Geld ist auch weg, oder?“, fragte Phillip.
Das konnte alles nicht sein. Das war einfach Wahnsinn. Eine Pyramide und diese Sache mit den Rosen. Wer war dieser Typ überhaupt? Phillip hatte etwas von Zeitungsartikeln erzählt und Stefan hatte gesagt, dass er Jentzsch hieße, aber wo zum Teufel war diese Pyramide hergekommen? Und wie zum Geier hatte er das mit den Rosen gemacht? Irgendwelche Drogen? Scheiße, Ulf hatte während seiner Zeit beim Bund von so was gehört. Gehirnwäsche und halluzinogene Drogen, psychologische Kriegsführung, aber davon hatte er nur gehört. Von Leuten, die im Kosovo waren. Die hatten erzählt, dass manchmal Leute einfach ausrasteten. In diesen Camps, wo es nichts gab außer Alkohol und wo die Leute immer mit ihren Pistolen im Halfter rumliefen und Briefe lasen von ihren Ehefrauen, die ihnen sagten, dass sie mit ihren Yoga-Lehrern im Bett gewesen waren. Aber das war wahrscheinlich keine psychologische Kriegsführung und hatte hiermit nichts zu tun.
Was zum Teufel hatte dieser Jentzsch mit ihnen vor?
„Primzahlen“, sagte Phillip. „Ich hab das mal in einem Film gesehen, irgendwie sind hier lauter Fallen und es dreht sich. Wir sind wohl im Weltraum, oder so. Ist einer von euch eigentlich so wie dieser Rainman?“
Ulf fragte sich, ob wohl genug Luft in dem Raum war. Es roch stickig und muffig. Vier Leute hätten den Sauerstoff aus so einer Kammer schon lange aufgebraucht. Also musste es irgendwo eine Luftzufuhr geben. Oder vielleicht auch nicht. Dann konnten zwei Leute länger überleben. Er musste sich konzentrieren und handeln. Ganz pragmatisch denken. Er hatte die Verantwortung.
„Wir werden doch bald alle sterben“, murmelte Phillip. „Es ist doch eigentlich Tradition, dass man da einen letzten Wunsch bekommt, oder? Also Marion, wenn es dir nichts ausmacht …“
Ulf nahm Marions Kopf von seinem Bauch und legte sie sanft gegen die Wand, dann krabbelte er auf allen Vieren, so schnell er konnte, auf Phillips Stimme zu, legte beide Hände um dessen Hals und drückte zu. Er schloss die Augen dabei, obwohl es ohnehin finster war. Er spürte Schläge gegen seine Brust, Fingernägel, die ihn kratzten, strampelnde Beine. Und er spürte den dürren Hals, den Kehlkopf und den Adamsapfel und er spürte, wie alles unter dem Druck seiner Hände nachgab.
Stefan wachte von Vogelgezwitscher, Sonnenstrahlen und Kampfgeräuschen auf. Als er die Augen öffnete, sah er, dass Ulf gerade auf Phillip hockte und seine Pranken um dessen Hals gelegt hatte. Phillip war blau angelaufen.
„Nicht, Ulf“, schrie Stefan.
Und auch in Marion kam nun Bewegung. „Lass, Ulf. Lass.“
Doch Ulf würgte weiter.
Stefan rappelte sich auf, seine Beine waren eingeschlafen, und er lief über die taunasse Wiese – was für eine Wiese? – auf die beiden zu, warf sich auf Ulf und riss ihn um. Doch der würgte Phillip weiter, nun im Liegen. Stefan rüttelte ihm, zog und zerrte, doch Ulf war wie von Sinnen. Er zischte, auf seiner Glatze zeichneten sich blau Äderchen ab.
„Lass doch. Lass doch“, rief Marion.
Stefan bekam Ulfs Hände zu fassen, drückte in die Kuhle zwischen Daumen und Zeigefinger und Ulfs Griff lockerte sich ein wenig.
„Ulf! Ich liebe dich.“ Marions Stimme war näher gekommen. Ulf schnaufte wie eine Lokomotive und endlich, endlich öffnete er die Augen und ließ von Phillip ab.
Der röchelte und spuckte Schleim aus.
„Fuck, du bist doch mal echt total durchgeknallt, du Scheiß Ossi-Wichser.“
Stefan rollte sich von Ulf herunter und ließ sich auf die Wiese fallen. Das Gras war nass, er spürte es an seinem Hinterkopf. Er sah an den Himmel, blau und wolkenlos, und eine riesige Sonne brannte auf sie herab. Wie im Schwimmbad, dachte Stefan. Bloß ohne Mücken. Und es roch auch nicht nach Autan und Chlor.
„Das Paradies“, sagte Marion. „Schaut doch, es ist das Paradies.“
„Kaum“, sagte Ulf und zeigte auf den röchelnden Phillip. „Der da ist noch hier.“
Und das Baby mit dem Bauklötzchen auf dem flusigen Teppich nicht, dachte Stefan.
Er schaute sich um. Die Wiese reichte bis zum Horizont. Ein paar Bäume waren zu sehen, ein Wäldchen. An den Bäumen hingen dunkelblaue Früchte.
„Haltet euch von den Bäumen fern“, sagte Ulf. „Denkt an die Rosen.“
Stefan war es recht. Er hielt sich von allem fern. Lag auf dem Boden, ließ sich die Sonne auf die Haut scheinen und wühlte mit den Händen im nassen Gras. Und irgendwie hätte er jetzt gerne wieder angefangen zu rauchen. Ihm war danach.
Phillip massierte seinen Hals und spuckte weiter auf den Boden. Dieser bekackte Irre. Erst machte er einen auf Mister Hyde und dann stellte er sich hin, Arm in Arm mit Vampirella, und starrte auf ein Scheiß-Wäldchen, mit der Scheiß-Sonne im Rücken. Und dieser blasierte Affe lag vor ihnen auf dem Boden und summte irgendwas vor sich hin.
Er konnte ja ein Scheiß-Foto von ihnen machen, dann konnten sie es ihren Scheiß-Freunden zu Scheiß-Weihnachten als Scheiß-Feiertagskarte schicken.
Ulf wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Wann es hier wohl dunkel wurde? Ob es dann kalt wurde? Ob es hier regnete, wilde Tiere gab, Eingeborene? Vielleicht sollten sie eine kleine Hütte bauen oder ein Baumhaus zumindest. Aber dazu mussten sie zu den Bäumen gehen. Und Ulf hatte die Sache mit den Rosen nicht vergessen.
Phillip würgte noch hinter ihnen, murmelte ständig etwas von „Scheiß-Postkarten“. Ulf drehte sich zu ihm um und streckte ihm die Hand entgegen.
Phillip schaute ihn misstrauisch an, er kniff dabei ein Auge zu.
„Komm schon, nichts für ungut, wir müssen hier aufeinander aufpassen.“
Phillip griff nach der Hand und Ulf fühlte nun seine Hand. Sie war kalt und schlaff, wie ein Bündel zu weich gekochter Spaghetti. Ulf zog Phillip hoch, klopfte ihm kräftig auf die Schulter und sagte: „Geh doch mal in das Wäldchen da drüben und schau, ob du was Essbares findest, wir warten hier auf dich.“
Phillip schwieg ihn an.
„Na, komm schon“, sagte Ulf und lächelte dabei. „Die Früchte da sehen doch gut aus, wie Melonen, oder? Sind bestimmt richtig saftig.“ Sanft drückte er ihn mit einer Hand in den Rücken, in Richtung des Wäldchens.
Phillip bewegte sich nicht vom Fleck, aber er sprach. Sprach leise und wohl artikuliert: „Ich denke ja gar nicht daran. Wenn du für dich und deine Nutte was zu fressen haben möchtest, dann bewege deinen fetten Arsch doch selbst in den Forst und lass dir von den beschissenen Killerbäumen eine Darmspülung verpassen.“
Ulf schob seine Hand nach oben, von Phillips Rücken in Phillips Nacken.
„Okay, okay, okay. Du willst, dass ich in den Scheiß-Wald gehe. Ich gehe in den Scheiß-Wald.“
Und unter „Ja, Meister. Danke, Meister. Was soll ich in die andere Hand nehmen, Meister?“-Murmeln stapfte Phillip auf das Wäldchen zu.
Ulf sah zu Marion, die sich auf den Boden hinter ihnen gelegt hatte, und zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte zurück.
Ach, Scheiß drauf. Wenn er schon draufging, dann würde ihm vorher wenigstens ordentlich einer abgehen. Phillip hatte das mit den Rosen nicht vergessen. Die Tussi hatte so ausgesehen, als ob es ihr ordentlich Spaß gemacht hatte. Natürlich nur, bis jedes Tröpfchen Blut aus ihr herausgepresst worden war und diese Dinger in ihre Muschi geschlüpft waren und durch ihren …
Phillip begann zu pfeifen und verlangsamte seine Schritte.
„Nicht einschlafen, du Pfeife“, hörte er Ulf hinter sich rufen.
Phillip bemühte sich, an die roten Haare der Frau zu denken und an ihren Rücken. Hatte eigentlich ganz gut ausgesehen. Ein praller Arsch in diesen Jeans. Wenn das stimmte, dass die Menschen, die man im Diesseits erschoss zu Sklaven im Jenseits wurden – und Phillip wollte, dass das stimmte – dann war das vielleicht alles gar nicht so schlecht. Vielleicht hätte er noch Marion umlegen sollen und seine Mathe-Lehrerin aus der Neunten, aber die war jetzt wahrscheinlich schon fünfzig.
So langsam er auch lief, er kam dem Wäldchen immer näher. Und die dunkelblauen Früchte, die an den Bäumen hingen, öffneten zu keiner Zeit ihre Augen und flatterten auf ihn zu, um ihm das Blut auszusaugen oder so. Scheiße, wenn das hier so war, dass die Phantasien real wurden, dann sollte er dringend an etwas anderes denken als an Reißzähne, längliche Blutabsaugrüssel, schleimiges Zahngift, darmspülende Baumranken und viel mehr an … hm, nichts tat sich. Jetzt stand er schon fast vor einem der Bäume, brauchte nur noch ein paar Schritte zu machen und die Hand nach einer Frucht auszustrecken und dann …
Dann hörte er Geräusche. Ein Knacken und Schreien. Etwas galoppierte aus dem Wald auf ihn zu. Brach aus dem Gebüsch.
Phillip drehte sich um und rannte um sein Leben.
Stefan sah Phillip auf sich zuhetzen, er rannte kerzengerade. Seine Arme schleuderten wild an seinem Körper, so als wolle er mehr schlecht als recht einen Kurzstreckenläufer imitieren.
Stefan drückte sich vom taunassen Gras hoch. Ulf hatte sich schützend vor Marion gestellt und schrie: „Nicht zu uns, nicht zu uns!“
Aber was immer da auch hinter Phillip her war, Stefan konnte es nicht sehen. Phillip verdeckte es. Jetzt geriet er ins Straucheln. Phillip stolperte, nur wenige Meter vor ihnen, und fiel der Länge nach hin und hinter ihm sah Stefan ein weißes Wollknäuel. Ein kniehohes, galoppierendes weißes Wollbaby, das mit zwei Händen und zwei Hufen über den ausgestreckten Körper Phillips galoppierte, noch einige Meter herumtapste, sich vor Stefan aufbaute und ihm mit einem gewaltigen Hopser in die Arme sprang.
Stefan packte instinktiv zu, so als hätte ihm jemand einen Ball zugeworfen, und nun hielt er es in den Armen, das Baby mit den Bauklötzchen auf dem flusigen Teppich. Aber mit Wolle bedeckt und mit Schafsohren und mit zwei hornüberzogenen, verkrümmten Händen. Die Finger waren ganz verkümmert. Stefan merkte es, als er seinen Zeigefinger hinhielt und das Wollbaby versuchte, nach ihm zu greifen.
„Gott, ist das süß“, sagte Marion. „Lass mich es doch auch mal halten.“
„Weg“, zischte Ulf und hielt Marion an der Hüfte fest.
Stefan wollte an dem Wollbaby riechen, hielt es vor sein Gesicht und nahm einen tiefen Zug vom wollbabylichen Schopf. Es roch nach einem karamellisierten, frisch gewaschenen Wollpullover. Und – mit rauer Zunge leckte ihm das Baby über seine Wange.
„Sodomie ist strafbar“, knirschte Phillip.
„Ich glaube“, sagte Stefan, während ihm das Gesicht abgeschleckt wurde, „du hattest Recht. Das ist wirklich das Paradies.“
Dann sah er den riesigen Werwolf, der auf sie zu rannte.
Widernatürlich, dachte Ulf. Das hier war alles widernatürlich. Das Wesen, das schmutzig-schwarze Etwas, dieses Bündel aus Knochen, Zähnen und Fell, das mit der Geschwindigkeit eines ICEs auf sie zuraste, dieses Wesen war kein Geschöpf Gottes.
Geifer spritzte aus seinem Maul, es jagte auf allen Vieren. Ulf hielt Marion fest, presste sie an sich.
„Das Viech“, schrie Phillip. „Er will das weiße Viech. Das ist ein Test! Wirf ihm das Ding zu, scheiße, das ist ein Test. Das ist alles ein Test.“
Stefan hielt das Wollding mit beiden Armen und der Wolfsmensch hetzte auf ihn zu.
Ulf sah, dass Stefan sich nicht bewegen würde. Er spürte, Marion in seinem Griff, spürte, wie sie verschwand und er starrte, starrte, starrte auf die unheilige Kreatur aus Zähnen, Klauen und Mordlust.
Der Wolf kam immer näher, aber er würde das Baby nicht bekommen. Niemals. Stefan drückte es fester an sich, ging leicht in die Knie. Niemals. Der Wolf war jetzt dicht vor ihnen. Stefan konnte ihn riechen, er stank nach Blut und Urin. Sein Fell war verfilzt und an manchen Stellen konnte er borstige, gelbliche Haut sehen. Aber egal, er würde sein Baby nie bekommen.
Dann spürte er einen Schlag gegen seinen Unterarm und er sah, wie das Wollbaby, das Baby mit den Bauklötzchen auf dem flusigen Teppich, durch die Luft segelte, auf den Wolf zu, und er sah, den Wolf hochschnellen. Stefan schloss die Augen. Aber er hörte die Schreie und das Mäh-Mäh des Babys und das Knirschen und Schmatzen und Knacken.
Phillip stand knietief in einem Sumpf und fragte sich, was zum Teufel jetzt schon wieder war. Eben hatte er noch gesehen, wie Marion auf Stefan eingeredet hatte, mit dieser ewigen „Tut mir leid, tut mir leid“-Nummer. Und er hatte noch gesehen, wie sich der Werwolf wieder ins Gebüsch verzogen hatte und er hatte sich überlegt, dass die Früchte wohl nun sicher waren, bis das Vieh wieder Hunger bekäme und jetzt stand er knietief in einem Sumpf.
„Keiner bewegt sich“, sagte Ulf.
„Hatte ich auch nicht vor, o großer Anführer. Geh du doch diesmal und such irgendwas Essbares“, sagte Phillip. Aber nur ganz leise.
Stefan rieb seine Schläfen und murmelte „Nicht real, nicht real, nicht real.“
Und Marion sah sich um und fragte dann: „Was meinst du damit, dass das ein Test ist?“
„Oh“, sagte Phillip, zeigte mit einem Finger auf sich und fragte: „Du meinst mich? Du willst meine Meinung hören?“
„Sag schon.“
„Nun, ich habe alles Unmögliche ausgeschlossen und die letzte Option, die bleibt, so unwahrscheinlich sie uns auch erscheinen mag, muss folglich die einzig Richtige sein. Das ist alles nur ein Test.“
„Und wozu?“
Phillip zuckte die Schultern. „So weit bin ich noch nicht.“
„Wenn das hier ein Test ist“, sagte Ulf, „dann haben wir versagt. Wenn es darum ging, ob wir in die Hölle oder in den Himmel kommen, dann haben wir die falsche Entscheidung getroffen.“
„Mmh“, sagte Marion.
Phillip starrte Ulf an. Paradies? So welche wie sie kamen nicht ins Paradies.
„Überlegt doch mal, man kommt sicher nicht in den Himmel, wenn man einem Wolf Schafe hinwirft.“
Phillip hörte Platschen. Als er sich umdrehte, sah er, dass Marion umherwatete, auf einen flachen Stein zu. Wahrscheinlich wollte sie sich setzen, um Ulfs Bergpredigt in gebührender Position lauschen zu können.
„Wir sollten einfach beten und versuchen, uns möglichst richtig zu verhalten. Dann haben wir noch eine Chance. Mitgefühl, Nächstenliebe, Aufopferungsbereitschaft, die Kardinalstugenden eben. Helft mir mal, wir müssen die sieben zusammenkriegen.“
Marion hatte den flachen Stein nun erreicht und der Stein sprang hoch. Phillip sah nur noch Zähne, riesige Zähne, jeder so lang wie ein Ellenbogen. Ein Krokodil, dachte er, ein riesiges Krokodil. Die Zähne klappten auseinander, so als tue sich der Schlund zur Hölle auf. Das Krokodil schoss nach vorne, riss das Maul auf und als sich Marions Kopf genau zwischen den beiden gewaltigen Zahnreihen befand, da schnappten die Kiefer zu.
Stefan hatte es gesehen, es hatte nur einen Lidschlag lang gedauert. Er spürte noch das Wasser in seinen Schuhen und plötzlich stand er in einem Dschungel. Mit hochhaushohen Dschungelbäumen. Und Lianen, die nach unten wuchsen und es war heiß und schwül und musste bald regnen.
Ulf schrie wie von Sinnen.
„Nicht real“, flüsterte Stefan. „Nicht real.“ Marions Leiche war weg. Marion war weg. Als hätte sie nie existiert.
„Scheiße, scheiße, der rastet völlig aus“, brüllte Phillip.
Ulf sprang nach vorne, machte einfach einen Satz. Seine Glatze pulsierte, seine Muskeln traten an seinen Armen hervor. So muss ein wütender Gott aussehen, dachte Stefan. Ein zorniger, wütender Gott.
Ulf tobte, tat wahllos einen Schritt nach vorne, sank auf die Knie, rappelte sich zornig auf, machte einen Satz auf Phillip zu. Der wich zurück. Doch ohne Grund, denn Ulf hatte nicht ihn im Sinn, hatte gar nichts mehr Sinn, war nicht mehr er selbst. Stefan sah das.
Ulf war nicht mehr.
„Wir müssen ihn irgendwie festhalten, verdammte Scheiße. Der bringt uns noch alle um.“
Plötzlich raste ein Schatten aus den Bäumen über ihnen herab, fiel auf den tobenden Ulf und begrub ihn unter seinem Gewicht.
„Scheiße, was ist das schon wieder?“
Eine Schlange, dachte Stefan. Eine Scheiß-Schlange.
Jedes Fitzelchen Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, Tonnen von Gewicht lasteten auf seinen Rippen und Ulf sah in die wunderschönen, tigergrünen Augen Marions und die wunderschöne, gespaltene, rosige Zunge Marions glitt über sein Gesicht. Die Augen bestanden aus tausend, kleinen Ringen, in denen Ulf sich verlor. Und mit jedem Atemzug, den er tat, kam er ihr näher, wurde er eins mit ihr und mit ihrer Kraft.
„Wehr dich doch, Mann. Scheiße, wehr dich doch. Reiß ihr den Kopf ab, oder so“, hörte er eine Stimme. Von jenseits des Vorhangs. Doch für ihn gab es nur Marion, Marions Augen und ihre Zunge und ihren Leib.
„Lass dich nicht von dem Scheiß-Vieh hypnotisieren, Mann. Mach Gulasch aus dem Ding.“
Ulf hörte das wohlige Knacken seiner Rippen, spürte Wonne, als sich splitternde Knochen in seine Organe trieben und er sah in die Augen, sah in diese wunderschönen, tigergrünen Augen. Hatte Marion nicht braune Augen gehabt?
„Tja, gibt nur noch uns beide. Dich und mich, Baby“, flüsterte Phillip.
Stefan spürte die Fäden des riesigen Spinnennetzes überall an seiner Haut, am Hinterkopf, an seinen Armen, am Rücken, an den Füßen, überall.
„Beruhigende Vorstellung“, zischte Stefan zurück. „Was ist mit deinem Plan und dem Test? Hast noch eine Theorie auf Lager?“
„Vielleicht liegt es an den Kontinenten“, sagte Phillip ganz leise. „Europa, Südamerika, Nordamerika haben wir jetzt schon durch. Also noch Australien, Afrika und Asien. Pandabären, Elefanten und Giftspinnen. Sind wohl gerade bei den Giftspinnen. Wenn wir das durchhaben, kann’s nicht mehr so schlimm werden.“
„Vergiss die Antarktis nicht.“
„Oh, ja. Killerpinguine. Ich mach mir gleich in die Hose.“
„Ich dachte mehr an Eisbären.“
Phillip schluckte.
„Still, ich höre was.“
Ein Vibrieren lief durch das Netz und Chitin raschelte aneinander. Ein widerliches, viel zu lautes Rascheln. Phillip atmete flach. Er hatte gleich gesagt, wenn man sich nicht bewegte und es da keine Vibrationen gab, dann war das kein Problem, man konnte das einfach aussitzen. Man musste einfach schlauer sein als so eine blöde Mücke, die um ihr Leben strampelte. Man musste seinen Intellekt einsetzen und die dämliche Natur austricksen.
Das Rascheln kam näher. Phillip kniff die Augen zusammen, obwohl es ohnehin stockduster war. Er konnte nichts sehen, nur hören, das Rascheln des Chitins, und fühlen, die Vibrationen des Netzes. Jetzt vibrierte es stärker, das Viech, Scheiße, es konnte eine Tonne wiegen, krabbelte auf ihn zu. Mit wahnwitziger Geschwindigkeit, bereit ihm die Schnappkiefer hinein zu jagen und Gift in ihn zu pumpen. Phillip zappelte, bewegte sich. Ein Panikanfall. Scheiße, das war ein Panikanfall.
„Ruhig, verdammt. Bleib ruhig.“
Zappelte immer schneller, ruderte mit den Armen, drückte seinen Po gegen das Netz.
Stefan summte. Phillip zappelte.
Das Lied, was summte er da? Phillip schloss die Augen, ließ sich vom Lied ergreifen, öffnete sich dem Lied, der Melodie und …
Phillip beruhigte sich.
Stefan ließ etwas Sand durch seine Hand rieseln. Phillip pisste neben ihm in die Wüste.
„Gott, tut das gut. Wie lange hingen wir da?“
Stefan schwieg.
„Und was hast du da gesummt?“
„Schlafe, mein Kindchen.“
„Hm“, machte Phillip. So langsam gewöhnte er sich daran. „Was meinst du, was jetzt kommt?“
„Keine Ahnung. Wüste, was gibt es hier? Schlangen, Elefanten, Kamele?“
„Jo“, sagte Phillip. „Vielleicht ertrinkst du ja in einer Spuckfontäne. Würde zu dir passen.“
Stefan wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Oder wir verdursten hier beide.“
„Jo“, sagte Phillip. „Oder so.“
„Sandstürme wären noch eine Möglichkeit, aber nach deinem Pissstrahl zu urteilen, ist es ja eher windstill.“
„Jo“, sagte Phillip und starrte an den Himmel.
„Hoffentlich ist es bald vorbei, wir hätten uns fressen lassen sollen.“
„Jo“, sagte Phillip. „Hätten wir.“
Stefan saß im Sand, Seite an Seite mit Phillip und beide starrten in Nichts. Die Hände hatten sie hinter ihrem Rücken und stützten sich damit ab.
„Enie van de Meiklokjes ist ganz schön dick geworden“, sagte Phillip.
„Wie kommst du jetzt darauf?“
„Keine Ahnung, musste gerade daran denken.“
„Ja, aber wieso?“
„Ich weiß nicht, an irgendwas muss man ja denken, oder?“
„Nein“, sagte Stefan. „Ich glaube nicht.“
Eine Weile starrten sie noch in den Sand, dann sagte Phillip: „Am meisten stinkt mir, dass das alles umsonst war. Der Plan und der Banküberfall und so.“
„Hast du wirklich jemanden erschossen?“
„Ja“, sagte Phillip.
„Und, wie fühlst du dich dabei?“
„Weiß nicht.“
Und beide hingen ihren Gedanken nach, während sie auf den Tod warteten.
„Ein Sandwurm“, sagte Phillip.
„Wo?“
„Dort drüben, da wo der Sand so aufgewühlt wird.“
„Da ist nichts und so was wie einen Sandwurm gibt es doch gar nicht.“
„Gibt auch keine Riesenschlangen mit hypnotischem Blick.“
„Ja, ja.“
„Gibt auch keine Riesenspinnen.“
„Schon verstanden“, sagte Stefan.
Aber da war wirklich nichts. Dort war einfach nur Sand. Überall war nur Sand. Sand und Sonne. So weit das Auge reichte. Stefans Mund fühlte sich ausgedörrt an. Wenn sie noch lange saßen, musste kein Kamel kommen und sie zu Tode spucken, auch kein seltsamer Wer-Elefant, der über sie drüberstampfte, auch den brauchte es nicht. Sie würden schlicht und einfach verdursten. Stefan starrte auf die Wüste. Nichts. Ob man sandblind werden konnte?
„Da, da“, schrie Phillip mit brechender Stimme. „Dort ist was im Sand.“
Und tatsächlich, dort ragte irgendwas aus dem Sand, ein Funkmast oder so etwas und kam rasch auf sie zu.
„Was ist das?“, fragte Stefan. „Ein Sandhai? Gibt es so was?“
Doch die Antwort blieb aus.
Stefan drehte sich nach hinten um, noch im Sitzen, und sah nur noch Phillips Rücken. Er stapfte von ihm weg.
„Klar“, sagte Stefan, rappelte sich hoch und klopfte sich den Sand von der Hose. Der Fernsehmast kam näher. Stefan legte seinen Kopf in den Nacken und kreiste damit, machte sich locker. Versuchte es zumindest. Dann rieb er seine Hände aneinander und ließ die Fingerknochen knacksen.
„Na, komm schon, du Sandhai. Friss mich doch.“
Stefan dachte nichts, während der Fernsehmast auf ihn zu glitt. Er fürchtete sich auch nicht. Wahrscheinlich war er dafür einfach zu müde und zu durstig und zu leer. Und so sah er nur den Fernsehmast, ein armdickes Ding, das zum Ende hin spitz zu lief. Wie zu einem Stachel, und vor diesem Fernsehmast wurde tatsächlich der Sand aufgewühlt. Und umso näher der Stachel kam, umso deutlicher sah Stefan ihn. Kleine Schüppchen bildeten den Stachel. Schwarz-rote Schüppchen, sie überlappten sich wie Dachziegel. Und da erkannte Stefan es: „Ein Skorpion, na toll. Wenigstens werde ich von meinem Sternzeichen umgebracht.“
Der Skorpion war immer noch im Sand eingegraben. Aber er bewegte sich, hatte Stefan längst erreicht, aber griff noch nicht an. Er umkreiste ihn. Stefan sah nur auf den Stachel, ignorierte den gewaltigen Skorpionleib, der sich unter dem Sand abzeichnete. Der Stachel, dachte er, nur der tötet. Mit dem Rest frisst er dich nur auf.
Was wusste er über Skorpione? Sie waren gepanzert, giftig, verdammt giftig und angriffslustig. Es gab sogar Skorpionkämpfe. Und das Gift war wirklich übel. Ein handtellergroßer Skorpion konnte einen ausgewachsenen Menschen nur mit seinem Gift töten. Und das Viech hier war so groß wie ein Kleinwagen. „Na, vielen Dank.“
Phillip kraxelte eine Düne hoch. Wenn er das alles richtig verstand, dann war er sicher. Die Dinger hatten bisher immer nur einen getötet und danach war’s weitergegangen. Und zwei hatten gar keinen erwischt, also konnte es nicht mehr ewig dauern. Wie viele kranke Szenarien konnte es denn noch geben?
Phillip hatte die Düne erklommen und sah nach unten. Dort stand Stefan und ein riesiger Skorpion hatte sich vor ihm aufgebaut.
„Scheiße, bin ich im Kreis gelaufen?“
Phillip sah nach hinten und auch dort: Stefan und ein riesiger schwarz-roter Skorpion.
Wieder nach vorne: Stefan und ein Skorpion.
Und noch während Phillip sich fragen konnte, wie klein die Erde sein musste, damit so was drin war, gab die Düne unter ihm nach.
Stefan pendelte nach links und der Skorpionsschwanz zischte an ihm vorbei, schnappte aber auf dem Rückweg, wie ein Bumerang, nach seinen Füßen. Stefan, der den Schwanz im Blick behalten hatte, hüpfte über diesen Fußfeger hinweg. Und dann hob der Skorpion seinen Kopf aus dem Sand. Die Parodie eines menschlichen Gesichts, entstellt, dort wo eigentlich der Mund war, sah er nur zwei riesige Schnappfänge und die Augen waren Schlitze wie Schießscharten, mit stahlschwarzen Augen.
Es rumpelte hinter dem Skorpionmenschen. Und jemand schrie: „Verdammte Scheiße.“
Der Skorpion ruckte herum, der Schwanz peitschte durch die Luft. Stefan stürmte nach vorne, unterlief den wildschwingenden Stachelschwanz und rammte mit der Schulter voran gegen das Hinterteil des Skorpions, gegen den steinharten Panzer.
Seine Schulter brannte wie Feuer, aber der Aufprall. Irgendetwas hatte nachgegeben.
„Schieb! Gott, schieb!“, schrie Phillip.
Und Stefan schob und tatsächlich, auf dem rutschigen Sand, irgendetwas gab nach. Stefan hörte das Klappern der Fänge und schrilles, menschliches Kreischen und dann gab der Widerstand an seiner Schulter weiter nach und als Stefan endlich die Augen öffnete, stand er auf dem weichen Bauch des Skorpionmenschen. Auf dem butterweichen Bauch des Skorpionmenschen, der mit allen Gliedmaßen um sich strampelte. Stefan trat zu, in den Bauch hinein, in die Eingeweide. Grünliches Sekret spritze nach oben und schleimte ihn voll. Und die kalten Skorpionsaugen, die ihn anstarrten, schlossen sich. Und die Skorpionfänge, die wild zuckten, erstarrten. Stefan sprang hoch, so als wolle er sich von einem Sprungbrett im Schwimmbad hochfedern. Und wie beim Eintauchen in ein Schwimmbecken hielt er beide Füße dicht beisammen.
Stefan stand knietief im Bauch des Skorpions. Hoffentlich war das Zeug nicht ätzend, dachte er.
„Scheiße, Alter, du hast es ja echt geschafft. Wie hast’n das gemacht?“
Stefan schwieg.
„Geh mal weg da, ich will auch mal.“
Stefan sah Phillip müde an. Sein Haar war voller Sand. Eigentlich alles an ihm. So als wäre er frisch einer Sanddusche entstiegen und tropfte nun noch ab. Stefan schüttelte den Kopf, hob erst das eine und dann das andere Bein aus dem Skorpion-Bauch und sah, wie der Glibber, der von ihm abtropfte, den Sand benässte.
„Schau mal“, sagte Phillip. „Herkules!“
Stefan schaute hoch. Phillip hatte sich mit dem rechten Fuß auf den Unterleib des Skorpions gestellt und beide Arme triumphierend nach oben gereckt. Sein Gesicht strahlte eine ansteckende Freude aus und Stefan ertappte sich dabei zu lächeln. Nur ein Hauch eines Lächelns. Aber Phillip hatte schon recht, das war was.
Phillip warf sich in Pose, präsentierte Bizeps und Trizeps, so als wäre er auf einer Bodybuilding-Show. Stefan schüttelte den Kopf, dieser Affe, wirklich.
„Ich bin der Kööööööönig der Weeeeeeeeeelt.“
Phillip erstarrte in der Bewegung. Sein Blick senkte sich ungläubig nach unten und brach. Noch bevor er den gewaltigen Skorpionsstachel sehen konnte, der sich von hinten durch seinen Hals gebohrt hatte.
Stefan schrie mit der letzten Kraft, die er noch zur Verfügung hatte. Dann schwappte gnädige Dunkelheit in ihn.
Stimmen.
„Dachte nicht, dass die soweit kommen.“
Schwarz.
Stimmen.
„Schade, dass der T-Rex noch nicht fertig war.“
Stimmen.
„Das hat die Forschung um Jahre nach vorne gebracht. Oh, Sie sind ja wach. Ich grüße Sie und bedanke mich bei Ihnen im Namen der Wissenschaft.“
Stefan starrte in das blasse Gesicht des kleinen, dicken Mannes. Er konnte seinen Körper nicht fühlen.
„Wirklich beeindruckend, dass mit dem Skorpion. Und diese ganze Bandbreite menschlicher Emotionen. Faszinierend, wirklich. Meinen herzlichen Dank. Sie wissen ja gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe, dass so etwas passiert. Stimmt’s nicht, Schatz?“
Das Gesicht des dicken Mannes verschwand aus seinem Blickfeld. Stefan fühlte sich, als läge er in einem Zahnarztsessel. Nun tauchte das Gesicht der Dame auf, mit der er geschlafen hatte … vor Jahren schien es ihm … und die von den Rosen getötet worden war.
„Tut mir leid“, flüsterte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Stefan versuchte etwas zu sagen, doch seine Stimmbänder verweigerten den Dienst. Er konnte nur krächzen: „Ein Test?“
„Komm doch mal, er möchte was fragen?“
Wieder das bleiche Mondgesicht. „Ja?“
„Test?“
„Oh, ja. Eine Testreihe, um genau zu sein. Sie wissen ja gar nicht, wie schwer das ist, diese ganzen Äskulapsachen und so. Da können Sie zahlen, was Sie wollen. Findet sich einfach keiner. Wo wir gerade vom Geld reden, danke für die Spende.“
„Und ich“, fragte Stefan, „ich habe bestanden?“
„Oh“, sagte der Mann. „Sie haben alle bestanden. Schauen Sie doch nur, ach so, verzeihen Sie, können Sie ja gar nicht. Karo, würdest du bitte?“
Stefans Blickfeld veränderte sich, wurde nach links geschoben und er sah Ulf, Marion und Phillip, jeder auf einem Bett angeschnallt. Sie lagen still, piepsende Geräte und Schläuche waren an sie angeschlossen.
„Ich glaube, das reicht ihm.“
Und das Gesicht des dicken, kleinen Mannes wurde wieder zu Stefans Universum.
„Kann ich gehen?“, fragte er. „Ist es vorbei?“
„Ja und nein“, sagte der Mann. „Wissen Sie, ich wollte nur die Gelegenheit nutzen, mich noch mal im Namen der Menschheit bei ihnen zu bedanken. Wirklich, eine tolle Leistung, ganz ehrlich. Sie haben die virtuelle Realität um Jahre nach vorne gebracht. Aber die eigentliche Arbeit fängt ja jetzt erst an.“
Dann verschwand der kleine, dicke Mann aus Stefans Blickfeld.
„Kann ich … meine Tochter wiedersehen?“
Doch die letzte Frage, die Stefan in seinem wirklichen Leben mit seinem wirklichen Mund stellte, blieb unbeantwortet.
Herr Meckbachs Hand zitterte. Gelegentlich nur, so erzählte er es Freunden. „Es kommt und geht“, sagte er, wenn man ihn danach fragte. Und wenn die Nachbarn, das wusste er, hinter seinem Rücken über ihn tuschelten: Warum er schon in Rente war, sie arbeiteten ja auch noch, und dass er wohl simuliere, so hörte Herr Meckbach weg.
Wenn er nachts aufwachte und den kalten Schweiß auf seiner Stirn spürte und sich an jede Sekunde an jenem verfluchten Tag vor drei Jahren erinnern konnte, was er gegessen hatte, was er im Radio auf dem Weg zur Arbeit gehört hatte, über was er mit Fräulein Lemmerl geplaudert hatte, als dieser Irre in der Maske sie von hinten erschoss, wenn Herr Meckbach also nicht schlafen konnte und das Fernsehen einschaltete und stundenlang ins Nichts starrte und einer Frauenstimme zuhörte, die ihn aufforderte sie anzurufen, wenn das geschah, dann dachte Herr Meckbach, dass es schlimmer hätte kommen können. Wenn Herr Meckbach Bücher las über posttraumatischen Stress, und wenn Herr Meckbach mit einem Therapeuten redete über Traumabewältigung, dann dachte er manchmal daran, dass er eigentlich Polizist hätte werden wollen.
Und wenn er so wie jetzt im Warteraum saß und auf die Zeiger einer Uhr starrte, und wenn die Menschen um ihm herum sich langsamer bewegten, so als ob sie in einer zähflüssigen Masse trieben, und wenn er darauf wartete, aufgerufen zu werden, dann dachte er, dass er normal sei und dass es schon ginge. Irgendwie, dachte er, geht es schon immer. Weiter eben. So schlimm war es auch nicht. Nur die Hand zitterte. Aber das kam und ging.
„Kommen Sie doch“, sagte die Frau mit den roten Haaren und Herr Meckbachs Herz ballte sich zu einer Faust. Sie musste ihm aufhelfen, musste ihn fragen, ob es ihm denn gut gehe, ob alles in Ordnung sei.
„Sicher“, sagte Herr Meckbach. „Es ist alles in Ordnung. Es kommt und es geht.“
Die Frau mit den roten Haaren führte ihn ins Büro des Arztes. Herr Meckbachs Beine zitterten leicht und wackelten. Aber das kam und ging. Die Frau mit den roten Haaren setzte ihn in einen Lehnstuhl, in einen sehr bequemen Lehnstuhl. Das Leder schmiegte sich an seine Unterarme und fühlte sich weich und kühl an.
„Ich habe gute Neuigkeiten für Sie“, sagte der Arzt ihm gegenüber. Er hatte einen weißen Bart und eine Brille mit hellem Rand. „Es gibt eine ganz neue Behandlungsmethode. Frisch zugelassen.“
„Keine Medikamente mehr“, sagte Herr Meckbach. Denn Herr Meckbach hatte manchmal das Gefühl, nicht er selbst zu sein, wenn er sie nahm.
„Nein, nein“, sagte der Arzt. „Etwas ganz Bahnbrechendes. Virtuelle Realität, Herr Meckbach. Das ist die Zukunft in der Behandlung von posttraumatischem Stress. Virtuelle Realität.“