Mitglied
- Beitritt
- 07.08.2025
- Beiträge
- 1
Schlüssel
Als sie mich auf der obersten Treppenstufe im vierten Stock vor ihrer Wohnungstür bemerkt, bleibt sie kurz stehen und hält inne. Ihrem Gesichtsausdruck merke ich an, dass ihre Gedanken gerade noch ganz woanders waren. Vielleicht dachte sie an einen besonders schwierigen Patienten, der sie seit Tagen beschäftigt, vielleicht an den Einkauf, vielleicht an den heutigen Abend, an dem sie – nein, jetzt nicht spekulieren. Nun sieht sie mich und ich sie. Sie hat sich ihre Haare wieder rot gefärbt. „Was machst du hier?“, fragt sie, wobei sich ihre Stimme leicht überschlägt. Ich spüre etwas zwischen uns, eine unsichtbare Verbindung. Dieser Moment ist für sie ebenso bewegend wie für mich. Freut sie sich möglicherweise auch ein bisschen? „Ich hab mich zu Hause ausgesperrt. Du hast noch meinen Ersatzschlüssel.“, erwider ich. „Oh, okay.“ Sie drängt sich an mir vorbei und schließt ihre Wohnungstür auf. Ist sie enttäuscht, dass das der Grund für unser Wiedersehen ist? Nicht mein unbändiges Verlangen nach ihrer Nähe, nicht das Loch, das sie in meinem Leben hinterlassen hat, nicht die Tatsache, dass ich mittlerweile häufiger als nicht mit dem Gedanken aufstehe, dass nicht der Gang aus der Haustür, sondern der Sprung vom Balkon die leichtere Lösung wäre?
„Willst du kurz reinkommen?“ Die Frage reißt mich aus meiner Gedankenspirale, und bevor ich darüber nachdenken kann, bejahe ich und trete ein. Reflexartig möchte ich die Schuhe wie hunderte Male zuvor im Eingangsbereich ausziehen, doch ich halte mich selbst auf. Ich bleibe nicht lange. „Wie hast du das denn hinbekommen?“, fragt sie aus der Küche heraus, wo sie ihren Rucksack abstellt und darin herumkramt, während ich noch im Flur stehe. Ich unterdrücke gerade noch rechtzeitig den Impuls, mein Unverständnis ihrer Frage auszudrücken, als mir wieder einfällt, weshalb ich hier bin. „Ach so, der Paketbote war da, und als ich das Paket angenommen habe, ist meine Wohnungstür durch den Luftzug zugefallen.“, rezitiere ich. „Ach Schnubbi.“ Das Loch in mir füllt sich mit einem vertrauten Gefühl der Geborgenheit. Wie lange habe ich diesen Kosenamen nicht mehr gehört? Wie tollpatschig, wie dumm ich auch immer war, ein Wort von ihr brachte all das in Ordnung.
Ich sammle mich. Aus dem Flur heraus bemerke ich, wie viel sich in ihrer Wohnung verändert hat. Sie hatte damals versucht, die Wände im Badezimmer zu streichen, was in einem Fiasko endete. Überall abgerissene Tapete und übermalte Flächen. Nun erstrahlt das Badezimmer in hellstem Blau, ihre Lieblingsfarbe. Keine Schmierereien, keine Unsauberkeiten, einfach nur vollendet schön. Wie hat sie das geschafft? Ich wage mich weiter in ihre Wohnung hinein. Der Schrank im Wohnzimmer, den wir gemeinsam aufgebaut hatten, steht immer noch, ein Wunder. Mittlerweile gehen die Türen ganz zu. Was auch immer wir versucht hatten, die Türen hingen und waren nicht bündig. Nun, wo ich weg bin, passt alles ineinander.
„Hier ist er.“, mit diesen Worten reißt sie mich aus meinen Gedanken heraus und hält mir den Schlüssel hin. „Es sieht schön aus hier.“, spreche ich leise. „Danke, ich musste einiges in Ordnung bringen.“ - „Wie geht’s dir?“, frage ich. Sie atmet durch. „Es ist wechselhaft, aber ich sehe mittlerweile immer deutlicher, was ich im Leben möchte.“ Ich fühle nichts mehr und schaue sie an. Ich beiße mir auf die Lippen, jetzt nicht nachfragen. Bitte sag noch etwas. Führ den Gedanken zu Ende. Ich versuche, die Tränen zu unterdrücken und sehe in ihr Gesicht. Ich erkenne es nicht wieder. Sie sieht glücklich aus, und trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich dieses Gesicht noch nie zuvor gesehen habe. „Dein Schlüssel.“, sagt sie mit Nachdruck und einem leichten Lächeln auf ihren Lippen. Ich nehme ihn an mich und greife wie im Autopilot nach meinem Schlüsselbund. Er klimpert in der Hosentasche. Geistesgegenwärtig halte ich inne, lass ihn los und schau sie an. Sie schaut mich vielsagend an und schließt die Augen. „Danke, ich gehe jetzt. Pass auf dich auf.“ Ohne uns nochmal anzusehen, gehe ich zur Wohnungstür, öffne sie und gehe zurück ins Treppenhaus. Auf dem Weg die Treppen herunter höre ich das bekannte Geräusch ihrer Klingel. Ich möchte nichts mehr hören. Als ich im Erdgeschoss ankomme, kommt mir ein Mann entgegen. Ich schaue vom Boden herauf und mustere ihn kurz. Er sieht mir ähnlich, nur ist seine Nase nicht so schief, sein Gesicht ist symmetrischer.
Ich gehe durch die Haustür. Die Sonne ist herausgekommen. Ein Abend, den man auf dem Balkon verbringen könnte.