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Schlafende Philosophen

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12.12.2001
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Schlafende Philosophen

„Wann werden wir schlafende Logiker, schlafende Philosophen haben? […]Vielleicht setzt mein Traum der letzten Nacht den der vorhergehenden fort, und vielleicht erfährt er in der kommenden Nacht in löblicher Folgerichtigkeit seine Fortsetzung. Das ist gut möglich, heißt es. Und da es keineswegs erwiesen ist, daß auf diese Weise die ‚Realität’, die mich beschäftigt, im Traumzustand fortbesteht, daß sie nicht ins Unerinnerliche versinkt – warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nämlich, der für die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird. Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem täglich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen?“
-aus: André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus

Der Gang lag fast völlig im Dunkeln, erleuchtet nur von den nervös blinkenden Anzeigen an der Tür zum Konferenzraum. Die gelben und roten Leuchten flackerten ununterbrochen und verursachten einen wilden Tanz von Licht und Schatten an der metallenen Tür. Das leise Surren der zahlreichen Überwachungskameras, die an jeder Ecke des Ganges angebracht waren, war überdeutlich zu hören, nur ab und zu überdeckt von den Stimmen, die aus dem Konferenzraum drangen. Weit unheimlicher aber war der schwarze Schemen, der sich, von rechts, wo der Hangar lag, kommend, der verschlossenen Tür näherte. Er war deutlich zu erkennen, obwohl er aus nichts als völliger Schwärze zu bestehen schien und in der Dunkelheit des Ganges eigentlich hätte unsichtbar sein müssen. Auch keine Schritte waren zu hören und kein Atem und auch die Kameras surrten ruhig weiter vor sich hin ohne den Eindringling zu bemerken. Dieser schlich sich an die Tür, mehr schwebend als laufend, hielt dann plötzlich inne und schien zu lauschen.
„Ist es schon zu spät?“, hörte man eine tiefe Stimme langsam und skeptisch fragen.
„Nein, aber er befindet sich gefährlich nahe an der Traumgrenze. Es mag nur noch Tage dauern, bis die Grenzen verschwimmen. Wir müssen handeln.“, antwortete ein anderer Mann.
„Wir müssen Vorbereitungen treffen. Eine solche Operation verlangt einen gründlichen Plan und höchste Vorsicht.“, entgegnete die erste Stimme.
„Wir haben keine Zeit. Wir müssen handeln!“, sagte die zweite, jetzt schon energischer. „Ihr müßt sofort nach Wandyke I. Die Dringlichkeit unserer Sache duldet keinen weiteren Aufschub.“
„Ihr wißt, daß es gefährlich ist, vorschnell zu handeln. Das Traumgebiet in diesem abgelegenen Sektor ist noch nicht genügend erforscht. Wir wissen nicht, was…“
„Die Träumer auf Wandyke werden immer aktiver. Das Irreale wird von Tag zu Tag mächtiger und unsere Kommunikationsstationen können den Kontakt kaum noch halten, so stark sind die Interferenzen. Reist sofort ab. Weitere Instruktionen erhaltet ihr unterwegs.“, schloß der erste Sprecher mit ängstlicher, aber befehlender Stimme.
Dies gehört, zog sich der seltsame, schwarze Schemen von der Tür zurück und verschwand so plötzlich wie er gekommen war, ohne ein Geräusch von sich zu geben oder eine Spur zu hinterlassen.
Aus dem Konferenzraum waren schwere Schritte zu hören, die sich langsam der Türe näherten.
Von innen hörte man noch einmal die zweite, zittrige Stimme. „Wir halten sie auf dem Laufenden. Und sie melden sich umgehend, sobald sie auf Wandyke I gelandet sind!“
„Ja, Eminenz.“ Entgegnete der andere, der inzwischen an der Türe angekommen sein mußte.
„Macht eure Arbeit gut, Dominicus. Und vor allem – macht sie gründlich!“ rief der Zurückbleibende dem Mann an der Türe zu. Diesmal mit betont fester Stimme.
Dominicus schnaufte verächtlich und betätigte den Öffnungsmechanismus der Tür. Als diese völlig geräuschlos nach oben glitt, fielen die ersten Lichtstrahlen in den schmalen Gang und umrahmten den riesigen, breiten Schatten, den die Gestalt in der Türe auf das blanke Metall des Flures warf. Dominicus war ein großer Mann von imposanter Statur. Ein blutroter Umhang aus feinstem, glitzerndem Samt hing über seine breiten Schultern, die nahezu die ganze Breite der Tür ausfüllten. Darunter war ein schwarzes, elegantes Gewand zu erkennen, das über und über mit goldenen Ornamenten bestickt war. Die verschiedensten Orden und Abzeichen prangten auf seiner Brust und wiesen ihn als zielstrebigen und erfolgreichen Mann aus. Am beeindruckendsten aber war das silberne Schwert, das, von einem Feuerschweif umgeben an einer schweren Kette um seinen Hals hing und ihn als Großinquisitor des Ordo Technicus identifizierte. Sein Gesicht war in der tief hängenden Kapuze seines Umhangs verborgen, als müsse er selbst hier auf dem Heimatschiff seines Ordens unerkannt bleiben und sich vor den Überwachungsanlagen verstecken. Das einzig sichtbare war ein narbenbesetztes Kinn, umrahmt von einem sauber rasierten, weißen Bart. Sein Alter zu schätzen war so unmöglich, doch mußte eine solch hochgestellte Persönlichkeit schon einige Hundert Jahre im Amt gewesen sein, um zu solchen Würden zu gelangen.
Er wandte sich in dieselbe Richtung, in die kurz zuvor der Schatten verschwunden war. Seine Schritte hallten langsam im Gang wieder, als er sich von der Türe entfernte. Es war mehr ein Schleifen als ein Laufen, kaum lebendig, fast roboterhaft. Als Dominicus hinter der ersten Biegung des Flures verschwunden war, schloß sich die Tür und der Korridor lag wieder in Dunkelheit und Stille. Abgesehen von den blinkenden Lichtern und den surrenden Kameras, die ihre übliche Routine wieder aufnahmen.

„Vorsicht!“ zischte Folie und bedeutete seinen Begleitern mit einer energischen Handbewegung hinter der, vom Ruß schwarz gefärbten Hauswand in Deckung zu bleiben.
Die kleine Gruppe vermummter Gestalten, die Folie folgten, bestand aus vier Mann, alle, wie ihr Anführer, in dunkelgraue Gewänder gehüllt, die sie im Schatten der unter Tage liegenden Straße nahezu unsichtbar machten. Zwei der Männer trugen eine Bahre, auf der sich, unter einer Decke verborgen, die Umrisse eines weiteren Menschen abzeichneten. Die anderen beiden standen direkt hinter ihrem Führer an die Wand gepreßt und versuchten, um die Ecke zu spähen.
„Was…?“ keuchte der vordere der beiden im Flüsterton.
„Wächter!“ gab Folie zurück und lugte durch ein kleines Loch an der Ecke des Hauses, welches mehr an eine verlassene Ruine erinnerte, als an das Wohnhaus, das es eigentlich war. Durch einige Stellen der Fassade, an denen ganze Steine herausgebrochen waren, konnte Fir’hal sie Straße beobachten. Angespannt starrte er durch die Löcher und spähte nach einer Bewegung des Wachtrupps. Er konnte nur hoffen, daß sie nicht in Richtung Ausgang patrouillierten. Das würde ihre so schon gefährliche Mission um Stunden verzögern. Stunden, die den Träumenden das Leben kosten konnten. Und jede einzelne Minute in diesem düstren, stinkenden Moloch brachte ihnen, die sie wahre Natur gewohnt waren, unvorstellbare Schmerzen, sowohl physische wie seelische.
„Roboter?“ fragte sein Hintermann mit angehaltenem Atem.
Folie nickte.
„Verdammt!“ fluchte der andere mit zitternder Stimme, biß die Zähne zusammen und hämmerte seine Faust gegen die Mauer. Die Augen waren weit aufgerissen, sein Gesicht aufs unnatürlichste verzerrt, in Todesangst verkrampft. Die Wangenknochen traten bleich hervor und gaben seinem Antlitz ein beinahe leichenhaftes Aussehen. Er versuchte, sich zu zwingen, ruhig zu bleiben, doch es gelang ihm nicht. Statt dessen wurde sein Zittern immer heftiger.
„Drohnen?“ fragte er schließlich und schnappte dabei hysterisch nach Luft. Staub von den kaputten Fassaden und Ruß und Qualm, der in dieser herunter gekommenen Ebene überall in der Luft lag, drang in seine Lungen und schüttelte ihn in einem heftigen Hustenanfall.
„Verdammt, die Maske!“ fluchte Folie und preßte seine Hand auf den Mund seines Hintermannes, so daß dessen Kopf gegen die Wand prallte und ihn taumeln ließ. Der Zweite hatte derweil hastig eine graue, an manchen Stellen schon Rost ansetzende Maske von seinem Gürtel gelöst. Er fing seinen Kollegen auf, bevor dieser zu Boden ging und zwang ihn mit einiger Anstrengung in die Maske.
Folie wollte sich vergewissern, daß man sie nicht bemerkt hatte, doch als er sich vorsichtig wieder nach vorne beugte, um durch den Spalt zu spähen, drang ein leises, aber unüberhörbares Summen an sein Ohr. Sofort sprang er zurück und bedeutete seinen Begleitern hektisch zu verschwinden.
„Was…?“ stotterte es hinter ihm zum zweiten Mal. Diesmal war es der andere der beiden Männer, der ihn fragend, und mit vor Angst geweiteten Augen, anstarrte. „Die Drohnen?“
Vor Folies Füßen kauerte noch immer der andere Mann, stöhnend und schwach. Er trat ihm in die Seite, doch er rührte sich nicht, offensichtlich ohnmächtig oder diesem, hier unten, tödlichen Zustande zu nahe. „Verdammt!“ keuchte Folie, mit vor Zorn verzerrtem Gesicht. Ohne weitere Zeit zu verlieren, scheuchte er die übrigen zurück in die Schatten der riesigen Straßenschluchten. Die beiden, die die Bahre tragen mußten, wirbelten herum und rannten stolpernd los. Der Schlafende war viel zu schwer für eine überstürzte Flucht durch das schwarze Labyrinth der unteren Ebene, doch es stand zu viel auf dem Spiel.
Folie selbst sprang über den am Boden liegenden und drängte nach vorne ins Dunkel einer kleinen, zerfallenen Baracke. Dort angekommen drehte er sich noch einmal herum und zog eine kleine Nadelpistole hervor, zielte auf den Ohnmächtigen und drückte ab. Kein Laut drang aus der Waffe, doch sein Ziel zuckte kurz zusammen, bevor es aufhörte zu atmen.

Die halb zerfallenen Ruinen im Ostsektor der dritten Ebene lagen in einem pulsierenden blauen Licht. So weit unten lag diese Ebene der größten Makropole auf Wandyke, daß es keinerlei Möglichkeit gab, das Tageslicht zwischen die eng gebauten Gebäude dringen zu lassen. Selbst das grelle Blaulicht der Militärfahrzeuge vermochte kaum gegen die dichte Wand aus Schmutz und Rauch zu bestehen, so daß nur ein schwacher Schein übrig blieb. Das allerdings reichte aus, um unzählige kleine Drohnen durch die Straßen und Gassen huschen zu sehen. Sie flogen jeden noch so entlegenen Winkel des umliegenden Gebietes ab, und kreuzten dabei in wirren Bahnen immer wieder ihren Weg. Sobald ihre Wärmekameras etwas gefunden hatten, rückte eine Patrouille aus drei etwa menschengroßen Robotern an und kontrollierte die entdeckten Objekte. Roboter wurden in diesen Bereichen der Makropole häufig und in großer Zahl eingesetzt, da sie in solch lebensfeindlicher Umgebung dem Menschen in jeglicher Hinsicht überlegen waren. Sie störten sich nicht an der vergifteten Luft und hatten keinerlei Probleme mit Dunkelheit und Smogschleier. Und einem Elektronenhirn machte die Einsamkeit nichts aus – es arbeitete immer zuverlässig und verständig, selbst in einer Umgebung, die jedem Menschen in kürzester Zeit den Verstand rauben würde.
Der Aufruhr konzentrierte sich auf eine Stelle hinter einem verlassenen Haus. Dort lag ein Mann, mit verrosteter Atemmaske vor dem Gesicht, im Staub einer beklemmend engen und dunklen Passage. In der Maske war ein winziges Einschußloch zu sehen, doch Blut oder andere Anzeichen eines Kampfes waren nicht zu sehen.
„Ein vergiftetes Projektil, aus etwa 30 Metern Entfernung abgefeuert, schätze ich.“ Der Soldat, in diesem Falle aus Fleisch und Blut, der den Leichnam untersucht hatte, erhob sich wieder und deutete auf einen kleinen, aus groben Steinen und durchlöchertem Wellblech gefertigten Unterstand am anderen Ende der Gasse. „Dort kam der Schuß her, wenn ihr mich fragt. Präzise gezielt, nicht in Hektik abgefeuert, also kein Kampf. Eher eine Hinrichtung.“
Neben ihm stand die imposante Gestalt eines Inquisitors, verhüllt in einen schweren, scharlachroten Mantel, die Kapuze tief im Gesicht. Die leichten Bewegungen der letzteren verrieten, worauf sich seine Aufmerksamkeit konzentrierte. So schien er abwechselnd die verfallene Baracke und die Leiche zu mustern. Die Konturen des ehrfurchteinflößenden Mannes verschwammen undeutlich mit der umgebenden Schwärze, was den ohnehin überaus nervösen Soldaten noch ängstlicher machte.
Fragend, aber wortlos, blickte er den zitternden Mann an. Dieser wußte sofort, was man von ihm wollte und beeilte sich, zu versichern, daß man außer dem Gesagten nichts finden konnte.
„Keine Spuren, Eminenz. Es ist seltsam, wie der Mörder sich hier bewegen konnte, ohne irgendwelche Abdrücke im staubigen Boden zu hinterlassen. Auch vom Opfer lassen sich keinerlei Fußspuren finden.“
Der Soldat blickte sich langsam in alle Richtungen um, als prüfe er die Umgebung. Dann wandte er sich wieder an den Verhüllten. „Hier unten weht kein Wind - nicht der geringste Windhauch kann diesen Staub aufgewirbelt oder verweht haben. Es ist, als wäre nie jemand hier gewesen.“
„Aber jemand liegt tot vor uns im Staub.“ gab der Inquisitor kurz angebunden zur Antwort. „Ist es so?“
Verdutzt sah der andere ihn an, wischte sich mit hektischer Handbewegung den Schweiß von der Stirn. „Ja…“
Dominicus brachte ihn mit einer kaum wahrnehmbaren Geste zum Schweigen und beugte sich nun selbst über die Leiche. Er riß die Atemmaske nicht besonders vorsichtig und ohne große Rücksicht auf den Leichnam herunter, um dem Toten ins Gesicht schauen zu können. Der Bruchteil einer Sekunde genügte ihm vollauf, um zu wissen, mit wem er es hier zu tun hatte.
„Das Projektil muß ihn innerhalb von Sekunden getötet haben. Professionelle Arbeit.“ bemerkte der Soldat, der über die Schulter Dominicuss auf die Wunde blickte.
Diese Feststellung ignorierend, zerrte der Inquisitor an der Jacke der Leiche, ohne sich große Hoffnungen zu machen, irgend etwas Brauchbares zu finden. Seine Gegner waren zu raffiniert, um sich selbst zu verraten. Doch allein die Kleidung des Toten sagte ihm mehr als es seine Feinde wohl annehmen könnten. Der Mann, der vor ihm im Schmutz lag, kam nicht aus der Makropole, sondern aus den wilden Gebieten außerhalb. Ein Rebell, ein Träumer. Nur wer genau steckte dahinter?

Das Land, das die Makropole umgab, war dichtbewaldet, wild und unübersichtlich, ganz ähnlich dem Inneren der Stadt, nur, daß statt Häuserschluchten und Straßenzügen, Hügel und Waldgebiete vor sich hin verwesten – das Grün der wenigen gesunden Baumkronen verbarg sich hinter dem dichten Geäst laubloser, längst abgestorbener Bäume. Dazwischen standen an manchen Stellen ganze Baumreihen, die komplett ineinander verwachsen schienen und offenbar von einer Hülle aus Schimmel und anderen großen, in seltsamen Farben schimmernden Pilzen zusammengehalten wurden. Diese grotesken Gebilde waren in der Hauptsache entlang der verseuchten Bäche zu finden, die sich von Wandyke aus in alle Himmelsrichtungen schlängelten und diesen fahlen Schein von Tod und Verwesung entlang ihrer Läufe trugen, der von der giftiggrünen Farbe des Wassers ausging.
Die Sonne kam hier nur äußerst selten zum Vorschein – und meist schimmerten nur einige verkümmerte Lichtstrahlen durch die dichte, rote Wolkendecke. Die Abgase und der Industrieschmutz der Metropole durchsetzten die Luft mit tödlichen Gasen und gaben der Wolkendecke so einen zusätzlichen Schrecken. Manchmal verfärbte sich eine Nebelwand in den ekelhaftesten Farbtönen, waberte dann in eitrigem Grün oder schimmelndem Braun. Bisweilen, wenn die Wolken ganz tief hingen, sah es so aus, als sei die ganze Landschaft, mitsamt Bäumen und Sträuchern, dem Rost zum Opfer gefallen. Dieses ekelhafte Farbenspiel allein war genug, einen Menschen, der sich hier heraus verirrt hatte, in den Wahnsinn zu treiben und so war es gut, so war es tatsächlich begrüßenswert, daß sich das Feuerrund so selten zeigte und die ätzende Szenerie statt dessen im Düstren ließ.
Folie aber stand auf einer kleinen Anhöhe inmitten dieser trostlosen, toten Landschaft und spähte angestrengt nach Süden. Dort lag, in wenigen Kilometern Entfernung, wie ein schwarzer Schatten inmitten der Nebelschleier die Makropole Wandyke, die sich, gleich einem dunklen Moloch von titanischen Ausmaßen, in alle Richtungen weiter erstreckte, als man sehen, oder es auch nur erahnen konnte. Unzählige Türme und Fabrikschlote ragten aus den oben gelegenen Plattformen und waren so das einzige Detail, das inmitten der gesichtslosen Züge zu erkennen war. Nur erahnen konnte man, wie viele Ebenen hoch sich Wandyke erstrecken mochte oder wie viele Lüftungsschächte und Lecks in der Außenhülle an die giftige Atmosphäre ragten.
Sie mußten die Leiche schon vor einiger Zeit gefunden haben und Folie zweifelte nicht daran, daß man schon Trupps auf ihre Fährte geschickt hatte, um sie noch vor Einbruch der Nacht zu stellen. Nicht, daß der Sonnenuntergang Folie und seiner kleinen Truppe einen nennenswerten Vorteil gebracht hätte, schließlich war die Sonne auf diesem Planeten ohnehin nur von den obersten Ebenen der Makropolen aus dauerhaft zu sehen. Aber die Menschen Wandykes wagten nicht, nächtens die verfluchten Wälder zu betreten und die Robotersoldaten und Drohnen kamen zwischen den wechselnden Farben der Nebel und den giftfarbenen Bäumen und Bächen kaum vorwärts. Die Umgebung mußte irritierend wirken auf jemanden, der nur das triste Grau der Stadt gewohnt war.

Quintus beugte sich über den verkrüppelten Baumstamm und entleerte seinen spärlichen Mageninhalt in das eiterfarbene Gras dahinter. Dem toten Boden und dem mutierten Ungeziefer würde es schmecken. Wieder und wieder übergab er sich, bis sich sein Bauch so verkrampfte, daß er vor Schmerzen aufschreiend zur Seite kippte. Seine Kameraden trauten sich nicht, ihm auf die Beine zu helfen, denn schon kam der wütende Truppführer auf ihn zugestürzt. Quintus versuchte, alleine aufzustehen, um dem schlimmsten zu entgehen, doch fiel er nur wieder zu Boden. Sein Vorgesetzter versetzte ihm einen Schlag mit seinem Gewehrkolben und riß ihn auf die Beine. Dann prügelte er ihn in seine Atemschutzmaske, seine verzweifelten Abwehrversuche ignorierend, und trieb ihn vor sich her an die Spitze des Trupps. Er mußte sich beherrschen, um sich nicht wieder die Maske abreißen zu müssen und so hoffte er, das Innere seines Körpers schon völlig ausgekotzt zu haben, denn dieses war ersetzbar, sein Leben jedoch nicht. Für ihn selbst jedenfalls nicht.
Hier draußen im verrottenden Umland nach Wahnsinnigen suchen zu müssen, war nicht nur Unsinn, sondern reiner Selbstmord. Quintus konnte sich kaum vorstellen, welche Mutationen einen Menschen entstellen mußten, damit er diese feindliche Welt zu überleben im Stande war. Diese Wesen, denn anders waren sie kaum zu bezeichnen, lebten hier wie er in der Makropole. Sie atmeten das die Lungen verätzende Gift als wäre es gefilterte, saubere Luft wie in den obersten Ebenen Wandykes. Selbst Quintus und seine Begleiter, für die Abgase und rußiger Qualm Alltag waren, konnten hier mit Schutzmaske nur unter beißenden Schmerzen Luft holen.
Um so schwerer fiel es Quintus, mit seinem Truppführer Schritt zu halten, der angesichts seiner Strafe im Falle des Versagens übermenschliche Kräfte zu mobilisieren schien. Er hatte auch nichts zu verlieren. Mit starrem Blick und unablässigen Schlägen peitschte er seine Leute weiter in das Dickicht aus morschen Bäumen, kahlen Ästen und verwesenden Tierkadavern. Spuren waren schon seit geraumer Zeit keine mehr zu sehen und so stolperten sie einfach blindlings ins Nichts hinein, nur der Todesangst ihres Kommandierenden folgend.
Irgendwann, nachdem man sich stundenlang ohne Rast weitergequält hatte, kam Quintus doch noch zu einer Pause. Der Truppführer gab urplötzlich ein lautes Stöhnen von sich und sackte kurz darauf leblos in sich zusammen. Nach einiger Zeit untätigen Herumstehens, während der sich die Soldaten nur ohnmächtig und ungläubig anschauten, wagte es einer, seinen Körper wieder unter seine Kontrolle zu zwingen. So kniete er sich neben den Gefallenen, lehnte sich über dessen Kopf und nahm ihm vorsichtig die Maske ab, nur um erschrocken zurückzuspringen und sich selbst der seinigen zu entledigen, um seinen Krämpfen nachgeben zu können.
Tot lag der Kommandierende zwischen schimmligen Pilzen und widerwärtigem Gestrüpp. Giftgrüner Schaum bedeckte seinen Mund und seine Gesichtszüge waren von eitrigen Beulen entstellt, zwischen denen Blut hinablief.
Während sich zwei Kameraden um den anderen, zu Boden gegangenen, kümmerten, stand Quintus noch immer unschlüssig da. Dann fielen Schüsse und die drei gebeugten Männer vor ihm fielen vollends zu Boden und rührten sich nicht mehr. ihre Todesschreie nahm er nicht mehr wahr, als ihn etwas am Kopf traf und taumeln ließ. Um ihn herum zerfetzte es die Körper der anderen Soldaten, die alle nicht dazu in der Lage waren, in Deckung zu springen oder anderes zu tun als sich erschießen zu lassen. Dann brach es aus den Bäumen und den Nebelschleiern und Quintus verlor das Bewußtsein.
„Die Verbindung ist abgebrochen, Eminenz“ sagte der rotgekleidete Inquisitionssoldat mit zittriger Stimme und duckte sich instinktiv, als erwarte er, daß seines Obersten Zorn ihn am Schädel träfe.
Dominicus’ Augenlider verengten sich zusehends und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als er auf die Anzeige blickte, die zu dem Trupp gehörte, der nun verschwunden war.
„Ich weiß nicht, wieso der Leutnant nicht geantwortet…“versuchte sich der Funker zu rechtfertigen, doch der Inquisitor schnitt ihm mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. Dann wandte er sich ab und verschwand ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Nur noch das majestätische Wallen des Samtumhangs bekam der Soldat zu sehen, als er sich verdutzt umdrehte.

Langsam klärte sich Quintus Blick und sein Verstand begann sich wieder seiner zu bemächtigen. Und ebenso kehrten die Schmerzen wieder zurück auf den Schultern seines Bewußtseins. So kroch der ekelhafte Geschmack, die brennenden Wunden, die sein Leben nur mehr ausmachten, wieder in seinen schwachen Körper. Als er seine Augen schließlich ganz öffnen und durch den Nebelschleier blicken konnte, wurde er sich schlagartig wieder seiner bedrohlichen Lage gewahr. Sofort fing sein Herz wild an zu schlagen und die Angst trieb ihn in entsetzte Panik, die ihn fast seine rasenden Schmerzen vergessen ließen.
Seine nervösen Blicke wanderten über kalten Stein und feuchte Erde. Über ihm war kein Himmel, sondern eine grobe Decke aus massivem Fels. Nur ein schwacher, geisterhafter Schimmer erhellte die Höhle ein wenig und ließ ihn die schaurige Umgebung sehen. Das Licht kam von einem Punkt hinter ihm, so daß er dessen Quelle in seiner Lage nicht ausmachen konnte. Als er versuchte, sich herum zu drehen, bemerkte er erst die Fesseln an seinen Fuß- und Handgelenken, die offenbar für seine Schmerzen verantwortlich waren. Aus rostigem Metall waren sie gemacht, eng angelegt, so daß sie sich ins Fleisch rieben, welches sich schon entzündet hatte. Ebensowenig zu eventuellen Fluchtgedanken trug die schwere, ebenfalls rostbedeckte Kette bei, die seine Fußfesseln mit kleineren, aber doch zu schweren Felsen hinter ihm verbanden. So war es ihm völlig unmöglich, sich zu bewegen oder zu drehen, um die Lichtquelle erkennen zu können. Aber eine Flucht dort hinaus war nun ohnehin nicht möglich.
Als nächstes kehrte sein Hörsinn wieder und er bemerkte das Geräusch schwerer Schritte, die hinter seinem Rücken auf ihn zu zukommen schienen. Drei oder vier Menschen mußten es sein, die, in behäbigem Gang, ganz ohne Eile zu ihm hinunterkamen. Im nächsten Moment, die unbekannten Männer noch in einiger Entfernung, fiel sein ängstlich suchender Blick auf die kahle Wand vor ihm, die durch die kaum wahrnehmbaren Lichtstrahlen in einen unwirklichen Schimmer getaucht war. Erst sah er ein schwaches Funkeln an manchen Stellen, so als wäre das Gestein mit Glas oder Diamanten übersäht. Dann weiteten sich seine Augen und die Furcht, die ihn packte, ließ sein Gesicht so in grotesker Miene erstarren. Schwachgraue Schatten wirbelten vor ihm auf den Felsen entlang, huschten in stets sich verändernder Geschwindigkeit über die unheimliche Szene. Undeutliche Umrisse, Schemen in nie gleichbleibender Form, grausige Konturen, bewegten sich in diabolischem Tanze vor seinen Augen. Nur langsam gaben sich die Schattengestalten als Menschen… vielmehr als deren verzerrte Abbilder, Blasphemien voll des Grotesken und Häßlichen, zu erkennen.
Quintus trockener Kehle entfuhr ein hilfloses Keuschen, als er von einem seltsamen Zwang getrieben, auf diese Versammlung von Abscheulichkeiten starrte. So seltsam diese Schattenbilder in ihrem bizarren Aussehen und ihren Bewegungen auch waren – sie mußten die Umrisse derer sein, die sich ihm näherten, denn das Licht kam aus dem Gang hinter ihm, von wo auch die lauter werdenden Schritte zu ihm hinüber hallten und so konnte kein Zweifel daran sein, daß solche buckligen Monstrositäten, wie er sie quälend vor sich schauen mußte, es auf ihn abgesehen hatten. Quintus kauerte sich noch weiter, noch größere Gefahr fürchtend, zusammen, soweit es ihm seine beengte Lage erlaubte, und versuchte verzweifelt, seine Augen zu bedecken oder wenigstens sich zum Schließen derselben zu zwingen, um die realen Vorbilder solcher Schatten nicht erblicken zu müssen. Doch vergebens – seine Lider gehorchten ihm nicht, zogen es vor, ihn allen Schrecknissen auszusetzen. Und seine Hände konnte er ob der engen wie schweren Fesselung nicht vor sein Gesicht heben, so sehr er sich auch mühte.
Sich noch die grausigsten Bilder ausmalend, wurde er erst durch einen nicht besonders festen, aber unsanften Tritt in die Seite darauf aufmerksam, daß die Verursacher der Schritte – und der Schatten – schon neben ihm standen. Erschrocken fuhr er zusammen und wandte instinktiv sein Gesicht in die, den Neuankömmlingen abgewandte Richtung. Auf das Spiel aus Licht und Schwarz und Grau, das sich ihm weiterhin auf der Felswand darbot achtete er kaum mehr, vor Furcht und Schrecken, die realen Vorbilder desselben erblicken zu müssen. Ebendiese standen nun scheinbar regungslos neben ihrem Gefangen, ohne daß ein Laut an Quintus Ohren drang. Dies tat sein übriges dazu, seine verkümmerte Phantasie immer weiter aufblühen zu lassen, so daß er Szenen vor seinem geistigen Auge zu schauen gezwungen war, die etwas durch und durch verbotenes, blasphemisches an sich hatten.
„In deinem traumtoten Reich gibt es solche Bilder nicht, was?“ fragte eine kräftige und überlegen ruhige Stimme hinter ihm. Quintus erstarrte augenblicklich, selbst sein Zittern erfror und er konzentrierte sich unwillentlich auf des Sprechers Worte.
„Es ist ungewohnt für dich, oder? Neu für dein roboterartiges Denken?“ hörte er weiter und ihm wurde die Absicht des Mannes schlagartig bewußt. So drehte er sich langsam um und währenddessen fing sein Körper wieder an zu zittern und Schwäche überkam ihn.
„Nicht im Traume kennt man solche Seltsamkeit, so heißt es, doch du kennst nicht einmal das Träumen. Nur deshalb vermag dich die harmlose Umgebung so zu quälen.“ sagte der Mann, und Zynismus und Bitterkeit, die in seinen Sätzen mitschwangen, waren nicht zu überhören.
Keine Bestien waren es, die Quintus erblickte, keine Monstrositäten, die den Schatten entsprochen hätten, sondern vier Männer – ein Mann und drei in farblose, bleiche Umhänge gehüllte Gestalten. Der, der ihn angesprochen hatte, trug ein in allen Farben schimmerndes Gewand, das ihn wie in einen Regenbogen gehüllt aussehen ließ und trotz der Ungewöhnlichkeit und Abstrusität dieses Anblickes erfüllte die ganze Erscheinung des Fremden Quintus mit Ehrfurcht und ließ ihn ein weiteres Mal erschaudern.
„Farben! Was müssen sie dein Auge blenden, was müssen sie deinen Geist verwirren, wo du doch nichts als grau und schwarz gewöhnt bist. Schmerzt es dich schon? Zerreißt es dich?“ spottete der so seltsam Gekleidete über Quintus Benommenheit.
„Nein!“ entgegnete er, mit schwacher Stimme, aber mit aller ihm möglichen Bestimmtheit.
„Dann war es eine gute Entscheidung, dich mitzunehmen, anstatt dich in der giftigen Ödnis verenden zu lassen.“ lautete die überraschende Antwort, die in ebenso unerwartet beruhigendem Ton gesprochen worden war.
Es war nur die halbe Wahrheit gewesen – die Farben schmerzten Quintus nicht, aber sehr wohl ließen sie ihn weiter schwindeln und seinen Blick den Fremden meiden. Ungewohnt war es wirklich – es stimmte, daß er nie etwas so leuchtendes, buntes gesehen hatte, das der normalen Farblosigkeit so widersprochen hätte. Normalität war allerdings keines der Worte, die Quintus durch den Kopf gingen, denn dieses hatten ihm die Schattenmonster schon verboten – sehr wohl aber war es ein Wort, daß aus seinem Unterbewußtsein gegen sein Bewußtsein hämmerte, um auf sich aufmerksam zu machen, wie als wolle es ihn aufwachen lassen aus einem abnormalen Traum.

Dominicus streifte verfaulendes Blattwerk von seinem Umhang, als er aus dem Wald trat. Um ihn schwirrten kleine Drohnen, die wie körperlose, metallene Köpfe aussahen, komplett mit ebenso tiefen wie leeren Augenhöhlen und grotesken Auswüchsen, die an Mund und Nase eines Menschen erinnerten. Als er weiter nach vorne schritt, tauchten hinter ihm einige Soldaten in Gasmasken und Schutzanzügen auf, die Waffen im Anschlag. Sie hatten Mühe, sich in ihren schweren Anzügen zu bewegen und wenn ihre Masken nicht verraten hätten, daß sie sich vor der Atmosphäre schützen mußten, hätte man glauben können, es seien Roboter. Nur dem Inquisitor schien die Luft nichts auszumachen, denn eine Gasmaske war unter seiner Kapuze nicht zu erkennen.
Die Männer machten schon nach kurzer Strecke halt, da sich vor ihnen eine undurchdringliche Nebelwand erhob, die von solcher Dichte war, daß es den Anschein hatte, man könne sie förmlich durchschneiden. Mit einigem Respekt blieben so auch die Soldaten dem seltsamen Nebel fern, um nicht von ihm verschlungen zu werden, und die unsicheren Blicke, die sie sich unter ihren Schutzmasken zuwarfen, waren, wenngleich nicht zu sehen, doch deutlich zu spüren. Dominicus aber ging auf die Knie und faltete seine Hände in stoischer Ruhe zu einem Gebet. Völlig unbeeindruckt von den dichten Wolken und der todbringenden Umgebung, intonierte er Psalme in einer den umstehenden unverständlichen Sprache. Gerade so, als würden sie direkt auf die sakralen Worte ihres Meister reagieren, formierten sich die Drohnen in einem Kreuz hinter Dominicus, mit dem, was an Gesichter gemahnte, nach vorne auf die Wolkenwand gerichtet. Mehrere Minuten verweilte der Inquisitor so ohne jede Regung und seine Männer standen verunsichert, aber erwartungsvoll einige Schritte näher am Waldrand.
Der Nebel lichtete sich jedoch nicht – statt dessen zuckten aus den Augenhöhlen der Drohnen schwarze Blitze über Dominicus hinweg durch die graue Wand, die sie zu zerfetzen schienen. Erschrocken fuhren die Soldaten zurück, um hinter morschen Stümpfen und abgestorbenen Stämmen Deckung zu suchen. Doch bevor sie diese erreicht hatten, fuhr einer der dunklen Blitze in den zuvorderst stehenden Mann und streckte ihn in einem Bruchteil einer Sekunde zu Boden. Ein gewaltiges Gewitter brach um die Drohnen und über den Köpfen der Verlorenen los und jagte einen Energiestoß nach dem anderen in ihre Schädel. Durch den ersten Schock gelähmt kamen sie nicht mehr von der Stelle, sondern starrten auf ihre verbrannten Kameraden, um sich ihnen nach und nach anzuschließen. Grell blendendes Schwarz zerfetzte ihr Fleisch mit der gleichen Leichtigkeit wie den Nebel, und als kein Mann mehr stand, war auch die Wolkenwand verschwunden, von lebenden Blitzen vernichtet. Dahinter tat sich ein gigantischer Höhleneingang auf, der von solchen Ausmaßen war, daß man annehmen mußte, er sei einst von Titanen gefertigt worden und diene Göttern als Portal ihrer Wohnstätte.
Einige Dutzend verkohlte Leichen lagen nun zwischen den Bäumen, die vor dem Sturm zurückgewichen waren und der Stelle, an der Dominicus niederkniete. Der Geruch verbrannten Fleisches und siedenden Blutes vermochte ihn aber ebenso wenig aus der Ruhe zu bringen wie all die anderen Unnatürlichkeiten um ihn herum. Und so stand er mit fast andächtiger Bewegung auf und klopfte sich den Staub von seiner Kleidung. Ein Lächeln blitzte im Schatten unter seiner Kapuze auf, dann ging er bedächtigen Schrittes und ohne einen Blick nach hinten zu werfen, auf die Höhle zu. Die Drohnen lösten ihre Formation auf und schwebten, ebenso unbekümmert von den Ereignissen, ihrem Meister hinterher.

Ein faustgroßer Stein traf Quintus am Kopf und riß eine riesige Wunde, die ihn benommen zu Boden gehen ließ. Bruchteile einer Sekunde später schleuderte ihn eine gewaltige Druckwelle gegen eine Felswand und nahm ihm den Atem. Explosion um Explosion zerschmetterte das Gestein und legte den Gang, dessen Verlauf sie gefolgt waren in Schutt und Asche. Schmerzen schossen durch Quintus Leib, als der erste, lähmende Schock dem Bewußtsein über die tödlichen Wunden wich. Er sah an sich hinab und konnte zwischen Tränen, Blut und Eiter, zwar verschwommen, aber nicht minder erschreckend erkennen, daß ihm ein Fuß fehlte und das andere Bein in grotesker Verrenkung in einer Blutlache lag. Sein Herz raste, sein ganzer Leib zitterte und zuckte und er würgte eitrigen Schleim hoch, an dem er zu ersticken drohte – und doch schien der Tod kein Erbarmen mit ihm zu haben und ließ ihn wider jede Logik am Leben.
Als er dann seinen Blick wieder nach vorne in den Gang richtete, schien es ihm als führe die Qual aus all seinen Gliedern, der Lärm des Infernos erstarb und er wurde plötzlich seltsam ruhig, wie in einem Halbschlaf, in dem man weder schläft noch wacht, sondern nur wahrnimmt, ohne zu fühlen. In solcher Lage als distanzierter Beobachter sah er, wie sich in der Ferne – denn so kam es ihm vor – eine flammende Gestalt schwebend auf ihn zu bewegte. Dabei schleuderte sie mit unzähligen, in ständiger Bewegung befindlichen Gliedern in allen Rot- und Orangetönen flackernde Feuerbälle zu allen Seiten, wo sie in grellgelben Lichtblitzen an den Felswänden explodierten und in diese metertiefe Löcher schlugen, in denen sich danach schwarze Feuer einnisteten.
Und gerade als es ihm schien, als würde der Flammenmensch ihn mit feurigem Blicke fixieren, nahm er aus den Augenwinkeln einen dunklen Schemen wahr, der aus einem der schwarz brennenden Einbuchtungen huschte.
Weiterhin wie in Trance und ohne recht zu wissen, was er tat, taumelte er auf den Schatten zu und folgte ihm schließlich in einen engen und noch vielmehr dunklen Gang, über dessen Richtung oder Ziel er sich ebenso im Unklaren war wie über die grausige Absurdität der ganzen Situation. Denn gerade als er hinter dem Schwarzen in dem Gange verschwunden war, krachte hinter ihm unter dem Einschlag eines Feuerballes ein Teil der Höhlendecke herab und begrub den Platz, an dem er zuvor gekauert, unter einer meterhohen Wand massiven Gesteins.

Folie hatte gleich nach dem Hereinbrechen des Infernos die Besinnung verloren als er von herum geschleuderten Felsbrocken getroffen worden war. Er bekam nicht mehr mit, wie ein weiter Teil des Tunnels, durch den sie sich bewegt hatten, in sich zusammen gefallen war, ihn völlig unter solchen Gesteinsschichten begrabend, denen Quintus wenig später durch so seltsames Glück entweichen konnte.
Als er wieder zu sich kam, lag er mit verrenkten, zerquetschten und gebrochenen Gliedern dahin gestreckt unter tonnenschwerem Fels. Sein Blick war starr auf einen fast quaderförmigen Stein gerichtet, der direkt vor seinem Gesichte in der Düsternis lag. Dem Felsbrocken lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als die Augenlider des Totgeglaubten sich hoben und den Blick auf wirr tanzende Pupillen auf flammend rotem Grund freigaben. Es sah aus wie Sünder, die sich auf dem Scheiterhaufen krümmten, vor Qual wie von einem Dämon besessen ihre Gliedmaßen sinn- und ziellos in alle Richtungen streckend, soweit es ihre sichere Fesselung zuließ. Doch waren diese Sünder, die in den Augenhöhlen Folies ihren Veitstanz aufführten eigentlich schon tot, denn der Todeskampf auf dem Scheiterhaufen mußte ihnen eigentlich von der tonnenschweren Last auf ihres Eigentümers Körper genommen worden sein. Wohl war es deshalb, daß der Felsen von schierem Schrecken gepackt wurde und zu Vibrieren begann. Denn wo jedwedes Lebewesen vor Schreck erstarrt, da fängt das Gestein zu zucken an - so auch dieses - zu beben und schließlich zu tanzen, in dem Takte, den die Verbrennenden im Auge des Wahnsinns ihm vorgaben.
Nur wenige Todesschreie später hatte die Furcht vor so unnatürlichem Geschehen auf das umliegende Gestein übergegriffen, denn dem Lodern in Folies Blicken konnte sich selbst das Unbelebte nicht entziehen. Und so zitterte der Berg massiven Felsens als sei er ein einziger großer Körper, dessen Gliedmaßen sich hinter den anderen Gliedmaßen vor dem Geschwür in ihrer Mitte zu verstecken suchten. Doch dieses war zu gerissen und zu frei von Wirklichkeit, als daß man ihm entkommen könnte – und die brennenden Tänzer bewegten sich auf die bebende Erde zu, tanzten aus den Augen des Mannes, der tot sein sollte heraus, und tausend Funken stieben in alle Richtungen, winzige Flammenzungen leckten über den Stein, und schrill tönendes Kreischen fuhr durch alle Zwischenräume. Von solchem Schauspiel verzaubert, warfen sich die ersten Steine vor Schrecken nach hinten, weg von den Feuertänzern, bevor sie versengt werden konnten, den beißenden Geruch schon spürend, und die Nachfolgenden, den Teufeln plötzlich auf den Leib gerückt, taten es ihnen gleich, so daß das Geröll in einer gewaltigen Explosion zu allen Seiten barst und in seiner Mitte den brennend umtanzten Folie freigab.

Die Erde bebte und die Wände an denen Quintus sich entlangtastete zitterten unter seinen Händen, als wollten sie ihn noch weiter verwirren. In der Ferne, aus der Richtung aus der er kam, hörte er ein Donnergrollen, das langsam zu einem explosionsartigen Toben wuchs, was ihn annehmen ließ, daß dort noch immer ein Kampf tobe, und ihn gleichzeitig motivierte, sich immer mehr der Dunkelheit anzuvertrauen und den Gedanken an Umkehr, dem Licht entgegen, zu begraben. Die düstere Umgebung bot ihm Schutz – welch Ironie, war sie doch noch trister als die grauen Straßen Wandykes.
In völliger Finsternis einem Schatten zu folgen, ist unter normalen Umständen eine Unmöglichkeit, doch mit Grausen hatte Quintus feststellen müssen, daß es hier, an diesem mysteriösen Ort, für den die Gesetze der Physik nicht zu gelten schienen, in der Tat möglich war. Egal, wie schwarz die Umgebung auch war, der Schemen, der ihm in einiger Entfernung, die aufgrund der Beschaffenheit – oder Unbeschaffenheit? - des Objektes nicht genau auszumachen war, den Weg vorgab, war stets noch schwärzer, noch dunkler, so daß sich Quintus nach ihm richten konnte. Und umgekehrt schien der Schatten auf ihn zu warten, denn wie langsam Quintus auch einen Fuß vor den anderen setzte, aus Angst auf ein unsichtbares Hindernis zu stoßen, sein gesichtsloser Führer blieb immer in seinem Blickfeld. Ganz unnatürlich schien es ihm, daß er durch dieses Verhalten keine Angst spürte, und als er in einer kurzen Pause, die dadurch entstand, daß er einen Felsvorsprung, der einer riesigen Treppenstufe gleich den Tunnel durchmaß – und den der Schemen ohne weiteres, ohne Unterbrechung überwunden hatte – hinauf klettern mußte, für wenige Sekunden zum ernsthaften Nachsinnen kam – das erste Mal langen Stunden – erschrak er darüber, daß er diesem Schattenwesen überhaupt folgte, ja, folgen mußte. Es erschien ihm grotesk, so sehr, daß er Sekunden später schon wieder all seine Konzentration auf seinen Weg verwendete und kein konkreter Gedanke mehr in seinem Kopf spukte, als habe er Angst vor den Konsequenzen – welchen Konsequenzen?
Nach wiederum endlosem Vorantasten und elend langsamen Schritten weiter in die Tiefen des Tunnels, bemerkte Quintus mit einiger Beunruhigung eine Veränderung an den Wänden, über die er mit seinen teilweise schon tauben Fingern strich. Es war, als würden sie sich immer weiter abschrägen, nach oben von ihm und dem Weg weglaufend. Zuerst lief er weiter, glaubend, seine Sinne täuschten ihn, doch als die Wand immer schiefer, bald senkrecht lag, streckte er seine Hand zur Kontrolle in die entgegengesetzte Richtung, ob der Tunnel oben tatsächlich immer breiter wurde oder die Verwirrung ihn narrte. Sich wieder etwas beruhigend stellte er fest, daß die zwei Felswände zu seiner linken und zu seiner rechten noch immer parallel verliefen. Doch wich die Erleichterung während seiner nächsten Schritte wieder ebenso schlagartig wie sie gekommen war, denn es war ihm plötzlich klar, daß beide Wände sich verschrägten, so als hätte jemand den ganzen Tunnel um einige Grad seitwärts gedreht und, was das eigentliche Grauen hervorrief, die Schwerkraft gleich mit gekippt, so daß Quintus sich selbst schräg zum eigentlichen Gerade durch den Gang laufen fühlte. Er kam nicht dazu, sich darüber weiter den Kopf zu zermartern oder sich gar zu fragen, wie solches möglich war – denn je weiter er ging – und er ging weiter, ohne weitere Verzögerung, dem Schemen folgend, von dem er nicht mehr sagen konnte, ob er nun aufrecht oder schräg vor ihm herlief – desto mehr fühlte er sich wie in einer Spirale, so daß es ihm bald vorkam, als ginge er waagerecht durch den Tunnel, auf dem Boden, der nun die Wand war, und noch später, als liefe er auf dem Kopf stehend auf dem Boden, der nun die Decke war.
Und wenn er bisher intuitiv vermieden hatte, dem Wahnsinn völlig anheim zu fallen und seinen Geist zu verlieren, so war es nun sein Körper, der ihm entglitt, der Dinge tat, die er nicht empfinden konnte, und der sich in größter Verwirrung verdrehte, auf den Kopf stellte, wie um dem Geist zu zeigen, daß es auch in seiner Macht stehe, den Verstand umzukehren, wenn dieser es nicht selbst tat.

Der Schatten hatte ihn da, wo er ihn haben wollte. Sowohl räumlich als auch seinen Zustand betreffend. Ein letztes Mal schaute er sich um: Da stand eine traurige Gestalt, halb verbrannt, von Wunden übersät, blutverkrustet und eine gefährliche Mischung aus Verwirrung und Verzweiflung im Gesicht und dahinter. Man sah seine Unsicherheit, sein in mehrfachem Sinne gebrochenes Inneres, wie er da angehalten hatte und starrte, den Atem anhaltend, wartend ohne so recht zu wissen, worauf. Perfekt. Der Schemen bewegte sich langsam zur Seite, nur wenige Schritte, auf ein Loch zu, das das Felsgestein an dieser Stelle in gewaltiger Tiefe unterbrach. Ein mitleidiges Lächeln noch, das sich auf mehr bezog als bloß das zerfetzte Antlitz dieses Mannes, und dann verließ er ihn.

Minuten dauerte es, bis sich Quintus sicher war, daß der schwarze Umriß, dem er gefolgt war, aus dem Gang verschwunden war. Die Kontrolle über seine Sinne war ihm fast völlig abhanden gekommen – noch immer war er sich über seine Position, über oben und unten, nicht im mindesten im Klaren – und so verstrichen viele weitere Augenblicke, bis er realisiert hatte, wohin der Schatten verschwunden war. Nur zögerlich, zwischen der Angst vor dem, was hinter der Öffnung und vor dem, was hinter ihm lag, hin und her gerissen, schlich er auf den Punkt zu, an dem ein schwacher, und von seinen wirren Sinnen kaum fixierbarer Lichtschein in die Dunkelheit des Ganges fiel. Fast schien es, als sei er vom hellen Schimmer, der unablässig vor seinen betrügerischen Augen tanzte, aufflackerte und wieder erlosch, hypnotisert und so gemahnten seine Bewegungen an einen in Trance gefangenen. So mag es auch nicht verwundern, daß Quintus erschrak, als er durch die Öffnung lugte, nicht, aufgrund dessen,w as sich dahinter tat, sondern nur aufgrund des Lichtes, das ihm im ersten Moment die Augen auszubrennen schien.
Zwei Gestalten in zerfetzten Umhängen knieten neben dem Lager, auf das der Schlafende gebettet war, und schienen zu beten, wortlos, aber bestimmt, mit starrem Blick auf dem Gesicht des vor ihnen Liegenden ruhend und mit gefalteten Händen. Der Mann auf der Bettstatt lag völlig regungslos – nicht mal der Brustkorb hob sich und so sah es aus als sei er tot. Dieser Eindruck bestärkte sich noch durch die Leichenbläße, die an den freiliegenden Gliedern, Arme, Füße und Gesicht, deutlich zu erkennen war, und besonders durch die andächtige Haltung der zwei anderen. Doch Quintus wußte, daß der Eindruck täuschte, nein, daß die Realität, die er vor sich sah, nämlich den toten Körper des Mannes, nicht der Wahrheit entsprach. Er wußte es, nicht warum, aber daß.

Narr, flüsterte es, Narr! Komm und erlöse dich. Schluß mit Narretei und Verblendung, Schluß mit Logik und Träumerei. Komm!

Aus einer Türe, die vorher nicht dagewesen, trat plötzlich eine Gestalt in den Raum, die einen ebenso geschundenen Anblick bot wie Quintus selbst und sich trotzdem aufrecht und ohne Anzeichen von Schwäche zeigte. Zwischen Blut und Eiter erkannte er das Antlitz Folies, verzerrt, aber nicht von Schmerz, sondern von einer Entschlossenheit, die man, alle Umstände kennend, mit Recht hätte als Mut der Verzweiflung bezeichnen können.
„Sind sie hier?“ fragte einer der beiden anderen, die sich erhoben hatten und mit weit aufgerissenen Augen auf Folies Gesicht starrten.
„Er ist hier.“ gab dieser zur Antwort, die in einem kurzen, aber blutigen Hustenanfall endete.
Während sich der erste Sprecher mit versteinerter Miene wieder dem Liegenden zuwendete, trat der zweite Mann auf Folie zu. „Wir können durch das Tunnelsystem weiter ins Innere. Wenn wir...“ fing er zu sprechen an, wurde jedoch sofort durch eine Handbewegung Folies zum Schweigen gebracht.
Dieser ging in eine völlig im Finsteren liegenden Ecke des Raumes, die Quintus nicht einsehen konnte. „Es ist sinnlos, noch weiter zu fliehen. Er findet uns.“ hörte er ihn mit heißerer Stimme sagen. Als er zurück in Quintus' Blickfeld trat, hatte er drei Pistolen, offensichtlich Schrott von veralteter Bauart, dabei, von denen er zwei an seine Begleiter verteilte und die dritte selbst in seinem Umhang, der kaum mehr als solcher zu erkennen war, versteckte.
So verharrten sie eine Zeit lang schweigend, bis aus einiger Entfernung ein dumpfes Wummern zu vernehmen war, das Quintus und, wie es ihre erbleichenden Gesichter zeigten, auch den Männern im Raum sogleich bekannt vor kam.
„Wir können nicht mehr hoffen, unserer Sache noch zum Sieg zu verhelfen, wenn wir erst mal entdeckt sind.“ sprach Folie, wie im Wachtraum, denn er schaute dabei mit verklärtem Blick nicht auf seine Mitstreiter, sondern auf den Schlafenden – Toten? „Und an unserer Entdeckung zu zweifeln ist nun unmöglich. Unsere Feinde sind ebenso unaufhaltsam wie gnadenlos. So gnadenlos gegenüber unseresgleichen, wie es ihnen ihr toter Gott gebietet, der, in seinem künstlichen Hass und seiner Unlebendigkeit so erst von ihrer nach Halt suchenden Hand geschaffen wurde.“ Das Licht flackerte, als seine Stimme sich zu entfernen schien und er in eine Predigt verfiel, deren Adressaten, so es überhaupt welche gab, keinen Sinn mehr für Worte hatten. „Eine Hand, die um Ordnung bemüht war, die den Verstand zum Gebieter machte, auf den Thron hob und vergötterte – wir, die wir um dessen Mängel wissen, um die Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes und um die Geheimnisse des Irrationalen, wie können wir glauben, dieser falsche Gott könne uns Gnade gewähren?“
Aus der Angst vor Entdeckung war in wenigen Sätzen Sinnieren über Gnade, Bestimmtheit über das Unmöglich-Sein des Verbergens geworden und um Folie nicht Lügen zu strafen, barst im selben Moment, da er zu sprechen aufgehört hatte, die unsichtbare Tür, durch die er selbst zuvor gekommen war, und dahinter, von Staub und umherfliegenden Trümmern umgeben, schritt eine gewaltige Gestalt auf die Männer zu, deren Umriße in schwarz lodernden Flammen zu stehen schienen.

„Wie Recht ihr habt.“ drang eine tiefe, bedrohliche Stimme aus dem Nebel der Explosion. „Wie Recht ihr habt.“
Quintus, der zu erschöpft und entrückt war, um auf umherfliegende Felsen und Trümmerteile reagieren zu können, starrte direkt in die Augen des Inquisitors, der ihm, obgleich er ihn sicher gesehen hatte, keinerlei Beachtung schenkte. Tatsächlich stand der Körper dieses ohnehin furchteinflößenden Mannes in Flammen, so daß er mehr aussah wie ein Dämon denn wie ein Mensch, mehr wie das, was er jagte denn das was er war. Die Luft um ihn verschwamm völlig, ja, schien fast zu glühen, als wolle sie selbst Feuer fangen. Quintus rann der Schweiß über die Stirn, an Blasen vorbei, die aus der unerträglichen Hitze resultierten, die immer näher kam. Noch während der Inquisitor ruhig an einer Stelle stand und mit grausiger Ruhe, die mit seinem Äußeren nicht vereinbar war, die zitternden Männer musterte, bemerkte Quintus mit Ekel den Geruch verbrannter Haare und siedenden Blutes und als er sich erbrach, fing sein Gesicht, daß dem in Schwärze Brennenden ob seiner Lage am Nächsten war, Feuer, das sich in sekundenschnelle seines ganzen Körpers bemächtigte. Doch starb er nicht und die Qual hatte ihn so betäubt, daß er sie selbst kaum mehr wahrnahm.
Mit einer Bewegung von solcher Langsamkeit, daß sie kaum zu sehen war, deutete Dominicus auf die beiden Männer, die, von der Druckwelle der zerberstenden Türe von den Füßen geschleudert und von des Inquisitors brennendem Hass versengt worden waren. Als dessen ausgestreckte Hand auf sie deutete, verwandelten sie sich, jeder für den Bruchteil einer Sekunde einer riesigen Stichflamme gleichend, in Asche, ohne Zeit auch nur für einen Todesschrei zu haben.
Ein höhnisches Grinsen zeigte sich zwischen den düster züngelnden Flammen als sich Dominicus' Arm auf den noch immer stehenden Folie zu bewegte. Regungslos stand dieser an Ort und Stelle, sein Schicksal erwartend, der alles verglühenden Hitze aber auf unnatürliche Weise trotzend. Und gerade als der Finger des Inquisitors auf ihn deutete, verschwand Folies Körper, so daß stattdessen die Luft in Flammen aufging und zu Staub zerfiel.
„Zu berechenbar, Dominicus.“ Der Raum erbebte, als Folies Stimme wie aus weiter Ferne, gedämpft und verzerrt selbigen erfüllte. „Ihr werdet ihn nicht kriegen. Nicht verderben.“
„Narr!“ entgegnete der Inquisitor, sein Gesicht einer Maske purer Verachtung gleichend. „Wacht auf, Folie, und rechnet. Rechnet und ihr werdet euren Irrtum erkennen.“ Lakonisch, als würde ihn die bedrohliche Szenerie nicht im geringsten beeindrucken, sprach Dominicus, doch seine durch den von schwarzem Feuer nunmehr zur Gänze erfüllten Raum kreisenden Augen verrieten, daß auch er nun unsicher war und die Initiative und die Überlegenheit aus seinen Händen gleiten sah.
„Träumt, Dominicus, träumt und ihr werdet den euren erkennen.“ entgegnete die plötzlich zu gewaltiger Lautstärke angewachsene Stimme, die die Wände wieder, aber diesmal ob des ohrenbetäubenden Halls, erzittern ließ. „Auch er träumt nun und er muß, denn er ist Mensch, und es wird sich alles zum Guten wenden. Die Welt wird heilen und den Menschen ihr Glück wieder bringen.“
„Träumerei, ihr sagt es ja selbst. Bloße Narretei, Hirngespinste. Ihr werft uns zurück in die Dunkelheit und erkennt es nicht einmal, geblendet von eurer falschen Sonne. Er muß aufwachen! Er muß denken! So will es der Lauf der Zeit, den ihr nicht aufhalten könnt.“ entgegnete Dominicus und schritt langsam, fast schwebend auf den Liegenden zu.
„Die Zeit nicht, aber euch. Euch und eure Unmenschlichkeit. Genug Menschenleben kostete die Kälte eures Denkens, eures Erwachens. Wie vielen Elenden habt ihr ihre Träume geraubt, wie viele Hoffnungen habt ihr zerstört?“ Ein schrilles Kreischen war Folies Stimme geworden, das den Inquisitor in die Knie zu zwingen schien. „Es ist genug! Genug Träumer starben unter der Herrschaft eurer Vernunft. Nun ist es an ihr zu sterben!“
Dominicus fiel vor dem Schlafenden in die Knie und die Flammenzungen, die ihn umgeben hatten waren erloschen. Ein grimmiges Lachen stieß er hervor, die Augen aufgerissen und die Zähne fletschend, als wäre er im Begriff das zu verlieren, was zu verteidigen er gekommen war. Doch gab er nicht auf und unter Schmerzen, die jeden anderen sofort getötet hätten, hob er seine Hand, um den Träumer zu berühren, ihn zu wecken.

Komm!

Im selben Moment tat es einen Schlag, als etwas, das noch vor Minuten Quintus gewesen war, mehr aus der Öffnung fiel als sprang. Der Inquisitor erstarrte und während die Zeit stillzustehen schien, kroch die verkohlte Leiche in unmöglicher Geschwindigkeit auf eine der Waffen zu, die die zu Asche Verwandelten fallen gelassen hatten, hob sie auf richtete den Lauf auf den Liegenden.
Apokalyptischer Lärm hub an, als sich der Knall des Schußes, das Schreien des Inquisitors und das Kreischen Folies mit dem Untergang der Realität vermischten. Als das Projektil den Schädel des Schlafenden traf und sein Träumen beendete, hörte die Wirklichkeit auf zu existieren. Quintus' Schmerzen erloschen als die Existenz ins Nichts stürzte, ins Nichts, nichts als unendliche Leere, als unaufhörliches, erlösendes Nichts.


„Que sais-je?“
-Montaigne

 

Hallo Falk

Oh mann, hab zwei ansätze gebraucht, bis ich die geschichte durch hatte. Leider hat sie sich mir nicht gänzlich erschlossen, aber ich glaube ein zweites Mal werd ich ihn vorerst nicht lesen :)
Was nicht an deinem Stil liegt, neben bei gesagt. Den fand ich ziemlich gut: Düster, reich an Metaphern und alten Stilwendungen. Er hat mich überhaupt veranlasst soweit zulesen.

Zum Inhalt:
Die Welt wird beherrscht von einer Art religiösen Sekte bestehend aus Rationalisten/Logikern. Diese werden durch die Träumer bekämpft, die sich zum Teil außerhalb der Realität bewegen können. Der Normalbürger (in diesem Fall dein Prot Quintus) ist derjenige, um den gestritten wird, wobei jener mittlerweile an eine graue monotone Welt gewöhnt ist, in dem Farbe und Fantasie als störend empfunden wird.
Am Ende wird Quintus auf eine Art Odysse geführt, die ihn zu einer Art Zweiteilung seiner selbst führt: den Schlafenden und den Wachen. Und er löst den Konflikt der zwei Parteien mit einem Selbstmord.
Hab ich das im groben so richtig verstanden?
Eine Frage: Verliert Quintus beim Höhleneinsturz nicht sein Bein? Wie kann er dann weiterlaufen? Oder ist er da schon auf seiner metaphysischen Reise?

Im Endeffekt eine spannend aber sehr ausführlich geschriebene Geschichte, die sicherlich wert wäre, sie zu diskutieren.


mfg Hagen

 

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