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Schleier
Die Ampel wollte nicht grün werden. Es war ein verschwommener Anblick von schnellen, lauten, doch lautlosen Strichen, die meine Haare vor meine Augen wehten. Der wirkungslose Kampf, diese zurück hinter mein Ohr zu streichen, ließ mich meine Hand zurück in die Jackentasche gleiten lassen. Die andere Hand, die ich wegen des Haltens der Einkaufstüte draußen lassen musste, war schon betäubt. Ich hätte an die Handschuhe denken müssen. Habe ich mir nicht schon gestern Abend gesagt, dass ich heute daran denken muss? Gestern Abend? Nein vorgestern Abend. Vereinzelte Bilder der letzten zwei Abende traten in meinen Kopf, verzerrt und unscharf. All meine Konzentration fokussierte sich darauf, die Bruchstücke zusammenzufügen, um mich zu erinnern. Alles wirkte wie derselbe Tag, derselbe Traum, mit demselben Schleier dazwischen. Ein durchsichtiger Vorhang, der mich sehen, aber nicht leben ließ. Er ließ sich nicht öffnen. Nein, ich versuchte bereits ihn zu zerreißen, untendurch zu krabbeln, suchte verzweifelt nach einem Seil, der den Vorhang vielleicht nach oben ziehen könnte. Doch er blieb unten. Der Vorhang reflektierte mich ein wenig. Ich konnte grob mein Spiegelbild darin erkennen, etwas verzerrt und für mich kaum kontrollierbar. Es wirkte fremd, doch manchmal, wenn ich es anlächelte, bekam ich ein Lächeln zurück, und dann wirkte es wieder ganz vertraut. Meine Augen versuchten, sich auf die Umgebung zu fokussieren. Die Striche rasten nun nicht mehr vorbei, sondern standen in Form von Autos an der Ampel. Ich realisierte Fußgänger, die schon fast die andere Straßenseite erreicht hatten. Die Ampel war schon grün. Schnell lief ich über die Straße, blickte währenddessen auf das grüne Licht, das zu Rot sprang, als ich gerade die Hälfte überquert habe und nun noch schneller eilte. Den Bürgersteig erreicht, wechselte ich die Einkaufstasche auf die andere Seite, um meiner betäubten Hand auch etwas Schutz in der Jackentasche meiner Lederjacke zu gewähren. Während meine Beine sich wieder langsam in ihrem normalen Tempo bewegten, betrachtete ich die Menschen auf der anderen Straßenseite. Einer alten Frau half man in einem Obstgeschäft die drei Stufen im Eingang hinauf. Ein Kind streckte seine Hand aus dem Kinderwagen nach einem Apfel, von denen eine Vielzahl vor dem Eingang präsentiert wurden. Als die Mutter das bemerkt hatte, fuhr sie den Kinderwagen ein Stück vorwärts, woraufhin sich das Kind beleidigt nach hinten fallen ließ. Ich musste schmunzeln. Das Lächeln tat mir gut, sehr gut.
Nein, du bist nicht tot. Sobald du davon isst, gehen dir die Augen wieder auf. Du wirst wieder Realität und Traum unterscheiden.
Die rote Einkaufstasche wurde immer schwerer. Und mir war kalt. Ich hätte an die Handschuhe denken müssen. Heute hätte ich dran denken müssen. An die Handschuhe. Mein Blick hob sich vom Boden, als eine Frau vor mir stehen blieb und überrascht meinen Namen rief. Ihr Gesicht, ihre Haare im Wind, eine fremde Vertrautheit. Ich tat, als würde ich mich erinnern und grüßte. Ja, ja, mir geht es gut, dasselbe wie immer. Sie wendete ihren Blick nicht von meinen Augen. Ja, schreckliches Wetter zurzeit. Meine Mutter? Noch krank. Wer ist das? Ihre Familie hätte jetzt eine Apfelbaumwiese, machen Säfte und Mus. Das freut mich, behauptete ich. Sie gab mir eine Karte, vorbeikommen soll ich, in ihren Laden. Ich steckte das kleine rechteckige Stück Papier in meine linke Jackentasche und deutete mit einem einzelnen Schritt schräg nach vorne an, dass ich diesem Gespräch das Ende schenken möchte. Mein Gegenüber drehte sich zur Seite und lief über die Straße, ohne ein Abschlusswort oder einen verabschiedenden Blick von sich zu geben. Mein verwirrtes, künstliches Lächeln blieb noch kurz bestehen, während ich ihrem Schritt hinterherblickte, doch schnell war nur noch Verwirrtheit von meinem Gesicht zu lesen. Ich ergänzte nun den einzelnen Schritt und lief weiter den Bürgersteig entlang, bis ich nach links in meine Straße abbog und die drei Stufen des vierten Hauses der linken Straßenseite hochlief. Die Tasche wechselte ich in die andere Hand, um mit meiner rechten nach dem Schlüssel in meiner Jackentasche zu greifen.
Sie lag noch immer mit geschlossenen Augen auf dem orangen Sofa. Das Zusammenspiel des lauten Atmens meiner schlafenden Mutter und des noch laufenden Röhrenfernsehrs ergab eine friedliche Harmonie, die ich jedoch mit dem Ausknopf der auf dem Wohnzimmertisch liegenden Fernbedienung unterbrach. Ich lief zu der roten Einkaufstasche, die ich eben in die Tür zur Küche gelegt hatte und wühlte mit meinen unterkühlten Händen nach einer kleinen Packung Tabletten. Anschließend ging ich in der kleinen, sehr simpel eingerichteten Küche ein Glas Leitungswasser auffüllen und stellte es mit der weißen Medizinpackung auf den niedrigen Tisch vor dem Sofa. Der Tisch war mit eingeritzten Blumen und Strichmännchen verziert, die im Kopf eines kleinen Kindes vor Jahren einmal Geschichten darstellten. Die Mutter war darüber natürlich nie sonderlich erfreut und versuchte ihre Erklärung, dass der Tisch keine Leinwand sei, mit einem wütenden Ton zu unterzeichnen. Doch dieser Ton scheiterte jedes Mal und wandelte sich stattdessen zu einem, das Kind erschrak jedes Mal, Hustenanfall. Die Mutter saß sich daraufhin auf das Sofa, immer noch hustend und den Mund in die Armbäuge haltend. „Bist du wütend, Mama?“ fragte das Kind jedes Mal geschockt und ängstlich. Neben dem vielen Husten konnte gerade so ein „Nein“ gedeutet werden, ebenso ein angehängtes „Ich hab dich lieb, mein Engel“. Das Kind machte sich unbeschreiblich viele Sorgen um die Mutter und spielte mit Puppen nun auf dem Sofa neben ihr, um sie nicht allein zu lassen. Das war meist der Moment, wo der Husten langsam schwand und sich die Mutter seufzend nach hinten fallen ließ und den Puppengesprächen des Kindes lauschte. Manchmal nahm sie selbst war, wie sie nach dem Husten noch eine Zeit lang zitterte und tiefe Atemzüge machte, um an genügend Luft zu kommen. Doch jetzt war es genau das Gegenteil. Ganz still und bewegungslos lag sie da und schlief. Es herrschte, wie es selten war, Frieden in meiner Mutter. Und sobald sie aufwachen wird, würde das Nervopulmonis-Syndrom sie wieder übernehmen, jeden einzelnen Finger zum Zittern bringen und einen schlimmen Husten hervorrufen. Doch für diesen Fall stellte ich soeben die neue Packung Calmorin auf den Tisch, für die ich mir die Finger taub gefroren hatte und in die Augen einer Vetrautheit blicken musste, deren Gedanke mich merkwürdig erschauern ließ. Wie verloren stand ich noch mit Jacke und Schuhen im Wohnzimmer und starrte leer in die Luft. Ich griff in meine linke Jackentasche und holte die Werbekarte der angeblichen Bekannten heraus. Nun füllte sich mein Blick wieder und bewegte sich auf das Papier in meiner Hand. Hafen zur Möwe, Sigmund-Freud-Straße 33. Was? Vergebens suchte ich nach dem Stichwort Apfel oder etwas ähnlichem. Doch auf dem weißen Stück Papier war nichts weiter als diese Adresse, geschrieben in schwarzer, etwas verwischter Tinte. Es war eine schöne Schreibschrift. Die Rückseite hingegen war, abgesehen von einem kleinen Schmutzfleck, komplett leer. Ich kannte die Adresse, natürlich kannte ich Sie. Es handelte sich um einen alten Fischerhafen, der außer Betrieb war, seitdem der neue Großhafen an einer anderen, näher am Stadtzentrum liegenden Küste gebaut worden war. Der Fischerhafen war einfach zu klein gewesen, es handelte sich vielmehr um ein Bootshaus weniger privater Fischer. Und als man einen größeren Hafen baute, bildeten sich größere Fischerfirmen und die kleineren, privaten gingen bankrott. Zurück blieb der kleine Blechschuppen an der inwischen zugewachsenen Wildküste. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung meiner Mutter wahr, doch sie schlief noch. Mein Blick war in die Luft gerichtet, an die Stelle, an der ich soeben die kleine Karte der merkwürdigen Bekannten hielt, die ich jetzt in meine Jackentasche zurück legte. Es viel mir schwer, meine Gedanken zu sortieren. Alles war verschwommen. Der Einkauf eben, das Kind, die Äpfel und vorallem die Frau wirkten wie ein Traum. Wenn ich nicht soeben die Karte in der Hand gehalten hätte, würde ich die Möglichkeit, dass ich eben neben meiner Mutter auf dem Sofa geschlafen und geträumt habe, auf keinen Fall auschließen. Außerdem trug ich noch hohe, schwarze Stiefel und eine lederne Jacke und stand dabei auf dem Wohnzimmerteppich.
„Was sehe ich denn da? Ziehst du wohl deine Schuhe aus? Aber ganz schnell! Oh Gott im Himmel, hast du mich denn nicht den ganzen Vormittag Fegen und Wischen gesehen? Runter da, aber dalli!“. Das kleine Kind schaute erschrocken die Mutter an, setzte sich dann langsam und zog ängstlich die verschmutzten Schuhe aus. „Erzählst du Papa nichts?“, fragte es ganz leise. Die Mutter blieb stehen, drehte sich nach einem kurzen Moment zum Kind um und bückte sich, um auf Augenhöhe zu sein. „Was? Wie kommst du darauf?“. „Ich weiß es nicht. Aber ich will nicht, dass Papa wieder wütend wird. Er wird immer so schnell wütend Mama. Papa kann so laut reden mit seinem großen Körper. Und meine kleinen Ohren...“. Die Mutter schaute geschockt, aber verständnisvoll in das kleine Gesicht. Sie wusste natürlich was es meinte. Sie war selbst jedes Mal dabei, zuschauend und (was sollte ich sonst machen) zurückhaltend. Und oft genug musste das kleine Kind zuschauen und, noch schlimmer, zuhören. Den Erwachsenenwörtern, den ganz schlimmen Wörtern. „Natürlich nicht, mein allerliebster Schatz. Es ist doch überhaupt nicht schlimm. Ich werde Papa nie etwas sagen, versprochen. Zieh nur bitte... keine Schuhe mehr in der Wohnung an, okay?“ Das kleine Kind nickte, nahm die bereits ausgezogenen Schuhe in die Hand und stellte sie vor der Wohnungstür ab, mit viel Mühe, symmetrisch zu den anderen. Die Mutter fühlte sich, als hätte sie nicht genug gesagt. Doch sie war sich nicht sicher, ob das Kind alt genug war, um mehr erklärt zu bekommen. Und ob sie selbst dazu bereit ist.
Leise schloss ich hinter mir die Wohnungstür. Anschließend hastete ich das kahle Treppenhaus hinunter. Wieso ich mich beeilte oder warum ich überhaupt ging, konnte ich mir nicht sagen. Wahrscheinlich dachte ich garnicht mal darüber nach. Es geschah einfach. Drei Stockwerke später stand ich draußen auf der Straße. Ich schwitzte. Mir war plötzlich heiß. Dann fing ich an zu laufen, ungewöhnlich schnell. Rechts neben mir schossen die Striche an mir vorbei und verwehten mein Haar, doch mein schneller Gang schleuderte sie wieder hinter meine Schulter. Was ich gerade tat, das realisierte mein Kopf überhaupt nicht. Stattdessen übernahmen meine Beine das Denken. Um wie viele Ecken ich bereits gebogen bin, wusste ich nicht. Meine Augen übernahmen die Aufgabe zu schauen, nicht umgefahren zu werden und der Rest des Körpers handelte selbstständig und war von mir nicht weiter kontrollierbar. Erst als meine Beine Halt machten und zur Ruhe kamen, nahm ich die Möwenrufe war. Trotzdem war es hier viel stiller. Dadurch erkannte ich, wie schrecklich laut es in meinem Kopf eigentlich war. Ich atmete tief ein und schloss dabei für einen kurzen Moment die Augen. Das Geräusch der Wellen kämpfte gegen den Lärm in meinem Kopf an und schaffte es ein wenig, diesen zu verdrängen. Erst als ich meine Augen wieder öffnete, nahm ich wirklich wahr, wo genau ich hingelaufen bin. Vor mir stand eine kleine Blechhütte, etwas größer, als ich sie in Erinnerung hatte, aber im Vergleich zu Häusern und Schuppen in umliegenden Straßen immernoch klein. Und jetzt? Ich befand mich an einer Adresse, die mir eine Frau, die behauptete, mich zu kennen, in die Hand gedrückt hatte, mitten auf der Straße. Hatte sie mir einen falschen Zettel gegeben? In die falsche Jackentasche gegriffen und mir versehentlich eine Adresse gegeben, die für jemand anderen bestimmt war? Doch warum sollte man jemandem diesen Ort hier zeigen wollen? Vielleicht zum aufkaufen. Ja, das könnte es sein, so simpel wird es gewesen sein. Es wird sich um eine alte Freundin meiner Mutter gehandelt haben, die mich vor zwei Jahrzehnten auf dem Arm hatte und mit mir gespielt hat, mich einfach wiedersehen wollte und mir eine falsche Adresse mitgegeben hat. Zwischen dem Toben der Autos und im kalten Herbstwind kann so etwas bestimmt passieren. Doch trotzdem stand ich hier, vor einer grauen Bruchbude, vor einer falschen Adresse. Und als ich mich wieder auf die Umgebung konzentrierte, bemerkte ich, dass ich mich schon im Bootshaus befand. Es roch nicht nach Fisch. Ich weiß auch garnicht, warum ich das erwartet hatte, denn seit einigen Jahren wurde hier kein einziger Fisch mehr gelagert. Irgendwie fühlte ich mich unwohl. Es war nicht der Fakt, komplett verrückt zu sein und ohne festen Grund zu einem verlassenen Fischerhafen zu rennen, es war etwas anderes. Aufgrund der offenen, dem Meer zugewandten Vorderseite des Blechhauses, bahnte sich im Laufe der Jahre viel Graß hier herein. Außerdem war es windig. Mein Blick schweifte über den bewachsenen Boden und nahm wenige, leere Kisten und zwei an die rechte Wand gelehnte Holzboote wahr. Auch durch deren Lücken im Holz hatte sich bereits Grünzeug durchgekämpft. Fast war ich davon überzeugt, dass dieser Ort friedlich wirkte, bis ich dann aber die Spiegel sah. Es waren drei Stück, nebeneinander in einem Halbkreis stehend. Sie waren in etwa so groß wie Ich und befanden sich mittig im Raum. Es erschien mir sehr merkürdig, an diesem Ort auch alte Spiegel vorzufinden. Eigentlich ging ich davon aus, hier alles mögliche an Schrott vorzufinden, doch durch eine solche Anordnung erlisch das Gefühl, dass der Hafen verlassen war. Ich ging wenige Schritte auf die Spiegel zu, bis ich mich selbst darin erkennen konnte und fokussierte dabei den mittleren. Mein langes Haar war durcheinander. Mit beiden Händen versuchte ich es zu ordnen und klemmte es hinter meine Ohren. Ich schwitzte trotz der Kälte immer noch etwas. Meine Stirn glänzte im Spiegel. Meine Augen starrten mich an, sie musterten mich von unten bis oben. Ich betrachtete mich nicht selbst, stattdessen schaute ich in die Augen einer Person, die ich im Spiegel kaum wiedererkannte. Es fühlte sich seltsam an, mir selbst so befremdlich vorzukommen. Sich daran zu gewöhnen, viel mir schwer, auch über die vielen Jahre hinweg. Und plötzlich flüsterte das Spiegelbild sogar meinen Namen.
Es war ein warmer Freitagnachmittag, als das Telefon zu Hause klingelte. Ich hatte das Gesicht meiner Mutter noch genau im Kopf, als sie den Anruf entgegennahm und ihn mit weiten Augen, ohne ein Wort gesagt zu haben, wieder beendete. Es musste unfassbar schwer für sie gewesen sein. Wahrscheinlich war der Gedanke, es mir erklären zu müssen, schlimmer als der Anruf selbst. Ich erinnerte mich noch, wie sie bis zum Abendessen kein Wort mit mir sprach und erst, als wir ungewöhnlicherweise zu zweit am Abendtisch saßen, den Mund aufmachte. „Papa kommt nicht mehr“. Und was mich so sehr erschreckte und mir bis zum heutigen Tag immer noch zu schaffen macht, ist der Gedanke, dass ich kaum Trauer empfunden hatte. Ein Lieferwagen schien in Papas Kombi gefahren zu sein, als er nach der Arbeit auf dem Weg nach Hause war. In den Nachrichten sah ich an diesem Abend reichlich Bilder, aber nur, weil Mama gerade die Küche machte und nicht kontrolliert hatte, ob auch wirklich der Kinderkanal eingeschaltet war. Ich hatte mir versucht vorzustellen, wie der Lieferwagen Papa tot gemacht hat und hatte viele Monate lang Alpträume. Und dann war da noch Mamas plötzlicher Husten, der ganz plötzlich angefangen hat. Der Husten, wegen dem das kleine Kind nachts ständig mit ins Krankenhaus musste, weil es nicht allein zu Hause bleiben wollte. Mama hatte immer versucht zu erklären, dass das mit Papas plötzlichem Tod zusammenhängen könnte und dieser in ihr einen schlimmen Schock ausgelöst hatte. Das kleine Kind aber verstand das natürlich kaum. Hat Papa Mama krank gemacht? Hat sein toter Körper Mama angesteckt? Nein Schatz, keine Sorge, ich muss nicht sterben, Mama geht es bald wieder gut. Abgesehen von dem Husten, war es daheim jetzt ungewohnt ruhig. Keine Tassen zerbrachen mehr an der Wand, kein Anschreien weckte mehr die Nachbarn. Doch die Angst, etwas falsch zu machen blieb, so kontrollierte das kleine Kind auch nach Monaten noch die saubere Anordnung der Schuhe im Flur und traute sich nicht, seine Bilder zu Radieren, um keinen Schmutz auf dem Wohnzimmertisch zu hinterlassen.
„Nimm ihn. Er wird dich befreien“, sprach das Spiegelbild weiter, wenn man es überhaupt noch Spiegelbild nennen konnte und hielt mir einen roten Apfel entgegen. Mein Abbild im Spiegel handelte völlig selbstständig. Ich brachte keine Worte hervor, schritt aber auch nicht auf den mir angebotenen Apfel zu. Die verschwommene Stimme redete weiter: „Nimm ihn. Wenn du die Welt wieder spüren willst, iss ihn. Er wird dir wieder die Augen öffnen und dir zeigen, was Realität ist“. Meine Augen wurden etwas feucht. Zum Teil wegen des Schocks und zum Teil wegen dem starken Wunsch, das Versprochene wahr werden zu lassen. Lange starrte ich einfach nur in den Spiegel und scheiterte bei dem Versuch, die Situation wirklich zu realisieren. Alles war verschwommen und mir war schwindelig. Mit kleinen Schritten bewegte ich mich Richtung mittlerem Spiegel. Der Spiegel, in dem mein Spiegelbild selbst redete und mich davon zu überzeugen versuchte, dass mich ein Apfel retten würde. Meine rechte Hand flog und schlug den Spiegel in Scherben. Aus Angst schlug ich noch die zwei Spiegel links und rechts davon mit einem überraschend aggressivem Schlag meiner rechten Hand kaputt. Ich atmete tief und schnell, von meiner Stirn tropfte Schweiß. Meine Hand blutete. Ich betrachtete sie mit meinen erschrockenen Augen und drehte die Hand ein wenig, um das Ausmaß der Wunden zu analysieren. Bis auf das tropfende Blut sah es eigentlich noch garnicht so schlimm aus, dachte ich. Doch beim Austrecken der Finger schoss ein Brennen meinen ganzen Arm hinauf, schnell zog ich sie wieder zurück. Als mein Blick von meiner Hand wich, realisierte ich den hölzernen Boden unter meinen Füßen. Auf ihm verteilt lagen kleine Scherben. Scherben zerbrochener Bilderrahmen, die ich soeben an einer Wohnzimmerwand zerschlug. Auf dem Sofa saß meine Mutter, wach und erschrocken und blickte mich mit großen Augen an.