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Schließe deine Augen
Als ich das erste Mal von den Toten träumte, da war ich zehn Jahre alt.
Wir waren bei meiner Tante zu Besuch und es war ein trauriger Anlass.
Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, war gestorben. Ich hatte sie nie richtig kennen gelernt, für mich war sie nur eine alte, missmutige Frau mit schwarzen Härchen am Kinn. Sie hatte immer komisch gerochen, nach merkwürdiger Seife und ihre Haut war trocken und manchmal in dicken Falten von den knochigen, dürren Armen abgestanden. Nie hatte sie besonders viel mit mir geredet und wenn sie etwas gesagt hatte, war es meistens nicht sehr nett gewesen.
Demenz hatte mein Vater das genannt; ich wusste nicht, was er damit meinte.
Wir waren zur Beerdigung nach Südbach gefahren, in jenen kleinen Ort, aus dem mein Vater stammte und wo meine Großmutter jahrelang bei meiner Tante gewohnt hatte.
Tante Maria war eine sehr nette Frau und ich mochte sie. Sie war etwas dicklich, hatte die Haare immer auf eine sehr komplizierte Art hoch- und zusammengesteckt und trug gerne Röcke und Strickwesten.
Als wir angekommen waren, hatte Tante Maria sehr viel geweint. Sie hing sehr an meiner Großmutter. Sie war es auch, die sich jahrelang um die alte Frau gekümmert hatte.
Die Beerdigung selbst dauerte ziemlich lange, denn der Pfarrer erzählte viele Dinge. Vom Krieg und von der Armut, von Bauern und von Feldern, die bestellt werden mussten.
Ich fragte mich, was meine Großmutter damit zu tun hatte, weil ich damals nicht wusste, dass mein Vater aus einer Bauernfamilie stammte.
Gegen Ende des Gottesdienstes musste ich ziemlich dringend aufs Klo und Mama nahm mich schließlich kurz mit nach draußen, wo ich gegen einen Baum pinkeln durfte.
Mein Vater sagte nichts. Überhaupt war er normalerweise ein Mann, der sehr viel redete. Er machte die ganze Zeit Scherze und neckte meine Mutter so lange, bis sie laut zu lachen anfing. Ich glaube, er liebte dieses Lachen.
Doch an diesem Tag sagte er kein Wort und er machte keinen Scherz. Er war mir fast unheimlich.
Nach der Beerdigung gab es ein großes Essen. Richtig feierlich mit Kerzen und tollen Gerichten, doch niemand hatte rechten Appetit. Nie zuvor hatte ich so viele Erwachsene traurig gesehen und ich nahm mir fest vor, nie so zu werden.
Mein Bruder Jonas, der damals noch nicht einmal zwei Jahre alt war, nahm alles genauso locker wie immer und ließ sich von den anderen nicht weiter stören. Sofia, meine Schwester, saß nur gelangweilt herum und spielte mit ihren Haaren. Sie war sechs.
»Du bist der Älteste, Tobias«, sagte meine Mutter zu mir, als ich mit der Gabel in meinem Kartoffelbrei herumspielte. »Du musst dich zusammennehmen. Wegen Oma.«
»Ich kannte sie gar nicht«, sagte ich. »Ich bin nicht traurig.«
Darauf sagte Mama nichts mehr.
Selbst das Wort »Oma« ging mir nicht über die Lippen. Meine richtige Oma wohnte anderswo, meine richtige Oma war freundlich und lächelte immer und hatte keine Haare am Kinn.
Das hier war meine andere Großmutter, nicht meine Oma.
Als ich dann abends zu Bett ging, war ich eigentlich gar nicht müde.
Es war eine finstere Nacht, zumindest ist sie das in meiner Erinnerung, und ich lag in einem fremden Bett in einem mir unbekannten Zimmer. Der Geruch, der in der Luft hing, war mir ebenso wenig vertraut wie die Geräusche in diesem Haus.
Das schwere, unbequeme Betttuch lag über mir ausgebreitet und ich starrte zum Fenster, vor dem ein dicker Vorhang hing.
Von unten hörte ich das Stimmengewirr meiner Verwandten und der vielen Gäste. Meine Tante Maria hatte eine sehr hohe Stimme, so dass ich sie immer aus den anderen heraushören konnte. Aber ich verstand nicht, was sie sagte.
Ich weiß nicht, wie lange ich wach lag, bevor ich sie sah.
Sie ging durch den Raum, aber es war kein richtiges Gehen, denn ihre Beine bewegten sich nicht. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt Beine gesehen hatte. Es war nicht so, dass sie keine Substanz hatte, dass sie transparent war, aber sie war anders als alle Dinge in dem Zimmer, anders als ich.
Sie schwebte durch den Raum und fuhr mit ihrer Hand über die Schränke, über die Regale, über die Bücher und verharrte manchmal einen Moment, nur um sich dann daraufhin sofort wieder in Bewegung zu setzen.
Erst nach einer Weile bemerkte sie mich. Als sie in meine weit aufgerissenen Augen starrte, kam sie langsam näher auf mich zu und ich sah ihr Gesicht ganz deutlich vor meinem.
Es war meine Großmutter, ich erkannte sie sofort, doch sie sah nicht so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sie erschien mir zugleich jung und doch unglaublich alt zu sein. Ihr Haar war von einer seltsamen Farbe, die irgendwie durchsichtig wirkte, ihre Gestalt sehr dünn, ohne dabei ausgemergelt zu wirken.
Und ihr Gesicht - niemals werde ich ihr Gesicht vergessen, denn es war voller Wärme und als ich es sah, schwand meine Angst und machte einem Gefühl der Freude Platz, wie ich es noch nie gespürt hatte. (Später, viel später hatte ich dieses Gefühl erneut, als ich zum ersten Mal meine Tochter in den Armen hielt.)
Und dann verschwand sie, sie war einfach weg und ich wachte auf. Das Zimmer war hell erleuchtet und es war später Morgen.
Und ich hatte ins Bett gepinkelt.
Es blieb nicht bei dem einen Mal, dass ich von den Toten träumte.
Diese Träume verfolgten mich durch die Jahre meines Erwachsenwerdens. Und sie wurden immer intensiver.
Am darauffolgenden Tag wachte ich auf und es war als hätte mir der Traum keine Ruhe und Entspannung gebracht, sondern nur noch größere Erschöpfung. Ich erinnerte mich genau an die Gesichter, die ich gesehen hatte und sie verfolgten mich wochenlang.
Diese Wesen, die ich in meinen Traumen sah, waren mir fremd. Und doch spürte ich eine mir tief verwurzelte Verbundenheit mit diesen Geschöpfen und ihren Gefühlen, ihrer Trauer und ihrem Schmerz.
Und auch ihr Lachen, ihre Freude, ihre unendliche Zufriedenheit übertrugen sich auf mich und erfüllten meinen Geist noch lange über das Aufwachen hinaus.
Doch ich erzählte niemandem von ihnen.
Ich heiratete, als ich sechsundzwanzig war.
Meine Frau hatte ich während des Studiums kennen gelernt. Sie heißt Angela.
Drei Jahre nach unserer Hochzeit kam unsere Tochter Silvia zur Welt. Noch einmal vier Jahre später unsere zweite Tochter Andrea.
Wir zogen in ein kleines Haus am Stadtrand, in einer relativ neuen Wohnsiedlung. Mit Garten, Balkon und Keller.
Und meine Träume wurden seltener.
Tatsächlich verschlechterte sich aber mein Zustand in anderer Hinsicht.
Ich saß im Garten und beobachtete Silvia und Andrea, die im Gras miteinander spielten. Sie waren beide noch sehr klein. Andrea konnte bisher nur einfache Worte und sprach noch nicht in ganzen Sätzen.
Ich lümmelte in einem Gartenstuhl, die Zeitung in den Händen und warf immer wieder einen Blick zu meinen Kindern.
Unsere Gegend war sehr angenehm, es fuhren nicht sehr viele Autos durch die verkehrsberuhigten Straßen. Aber wir hatten noch keinen Gartenzaun, weswegen ich meine Kinder immer im Auge behielt, wenn sie hier spielten.
Ich weiß nicht warum, doch plötzlich packte mich irrsinnige Panik. Ich hatte den Eindruck, wir würden in großer Gefahr schweben und bekam Angst.
Ich stand langsam von meinem Stuhl auf und merkte, wie meine Hände zitterten. Silvia und Andrea spielten weiter, so als wäre nichts geschehen. Ich sah mich verwirrt um, konnte aber keine Gefahrenquelle ausmachen, keinen Hinweis finden, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Und doch wusste ich es.
Ich fühlte es.
»Geht ins Haus«, sagte ich zu den Kindern und nahm Andrea auf den Arm, die mich nicht recht verstand.
Silvia blickte mich verwundert an.
»Schnell«, sagte ich, nachdrücklicher.
Sie lächelte mich an und dachte gar nicht daran, aufzustehen. Sie nahm ihre Puppe und hielt sie in die Luft. Nun streckte Andrea, die in meinen Armen lag, ihre kleinen Finger nach der Puppe aus und sagte: »Da!« Sie deutete auf das Spielzeug und sah mich erwartungsvoll an.
Ich packte Silvia am Arm und zog sie hoch.
»Ins Haus!« Ich musste ihr weh getan haben, denn sie sah mich plötzlich ganz erschrocken an und verzog das Gesicht. Ich bemerkte es damals nicht, denn die Angst in mir war übermächtig. Ich packte meine beiden Kinder und brachte sie ins Wohnzimmer. Dann verschloss ich die Tür und ließ die Rollläden herunter.
Wie ein Irrer rannte ich durch alle Zimmer und verriegelte die Fenster.
Silvia weinte, doch ich hörte es gar nicht richtig. Erst als auch Andrea anfing, von ihrer Schwester dazu angestachelt, drang das Schreien meiner Kinder in mein Bewusstsein vor.
Und ebenso plötzlich wie sie gekommen war, verschwand die Angst wieder.
Und ich stand auf einmal mit meinen zwei weinenden Töchtern in einem völlig dunklen Haus, als meine Frau nach Hause kam.
Die Träume von den Toten wurden seltener, aber sie verschwanden nicht ganz.
Und manchmal wachte ich auf, völlig erschöpft, aber sonst ruhig, und konnte nicht mehr einschlafen.
Eines Nachts schlüpfte ich in meine Pantoffeln und verließ das Schlafzimmer, um mit meinem permanenten Herumgewälze meine Frau nicht auch noch zu wecken.
Ich schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer und ging durch den Gang hinunter in die Küche.
Ich hatte von einem Mann geträumt, der keinen Kopf hatte. Er hatte etwas anderes, denn ich hatte sein Gesicht gesehen, aber ein Kopf war es nicht gewesen. Er war mit mir einen Fluss entlang gegangen und wir hatten schweigend dem Wasser zugesehen, das nicht blau war, sondern von einem undurchsichtigen Grau, Wasser ganz unähnlich. Denn es sprudelte nicht und floss schnell in eine Richtung dahin, sondern es schien fest zu sein, fest wie der Boden auf dem wir gingen.
Ich habe übrigens nie mit den Toten in meinen Träumen geredet, denn sie schienen nicht in der Lage, mit mir zu kommunizieren.
Ich ging also durch den Gang, hinab in die Küche, den Traum noch immer in meinem Kopf.
In ein Glas ließ ich etwas Leitungswasser laufen und trank es gierig aus, denn ich fühlte mich wie ausgetrocknet. Ich lehnte mich gegen den Herd und schloss meine Augen. Müdigkeit ergriff mich, aber ich wusste, ich würde keine Sekunde Schlaf finden heute Nacht.
Das leere Glas stellte ich in der Spüle ab und vertrat mir in der Küche noch ein wenig die Beine, lief hin und her und versuchte, meinen Kopf frei zu kriegen, den Traum abzuschütteln. Natürlich gelang es mir nicht.
Als ich etwa eine halbe Stunde in der Küche herumgesessen war, kam meine Frau herein. Sie war ganz verschlafen, die Haare standen ihr wirr vom Kopf und sie rieb sich die Augen.
Ich lächelte sie an. Ich liebte es immer wieder, sie so zu sehen, denn das war ein Anblick, der nur mir allein vergönnt war und niemand anderem auf der Welt. Dieser Anblick rief mir in Erinnerung, dass sie meine Frau war.
Sie hingegen begegnete mir mit Verständnislosigkeit.
»Warum hast du das Licht nicht eingeschaltet?« fragte sie mich und betätigte den Lichtschalter. Die Glühbirne flackerte auf und erleuchtete den ganzen Raum, füllte ihn mit grellem Licht, das meinen Augen schmerzte.
»Keine Ahnung«, nuschelte ich.
In Wirklichkeit war ich der festen Überzeugung gewesen, dass der Raum hell erleuchtet war - auch ohne Licht.
»Ich habe mir schon mehrere Kindergärten angeschaut«, sagte Angela, als wir zu viert durch den Park spazierten.
Es war kein sehr großer Park, aber es war meistens sehr ruhig und die Luft war sehr angenehm. Zudem meinte Angela, ein wenig Bewegung würde mir nicht schaden, wo ich doch im Büro schon den ganzen Tag nur vor dem Computer sitzen würde.
»Sieh dir mal deinen Rücken an«, sagte sie immer. »Bald wirst du einen Stock brauchen.« Womit sie mich immer an einer sehr empfindlichen Stelle traf.
Ein Hund bellte. Ich sah mich um, konnte aber das Tier nicht entdecken.
Silvia besuchte nun schon die dritte Klasse. Sie hatte ein paar Schwierigkeiten in Mathematik, aber keine tragischen. Und für Andrea suchten wir jetzt nach einem Kindergartenplatz, denn Angela hatte sich überlegt, wieder halbtags zu arbeiten. Ihr altes Architekturbüro hatte ihr diese Stelle angeboten und Angela war Feuer und Flamme.
Wieder hörte ich diesen Hund bellen. Nun war aber auch noch ein zweiter dazugekommen. Ich hasse Hunde.
»Der Rosenhügel-Kindergarten ist sehr schön«, erzählte mir Angela. »Die haben einen riesigen Garten, mit vielen Klettergeräten.«
»Ist das nicht gefährlich?« fragte ich.
Angela lachte. »Nein«, sagte sie. »Auf zehn Kinder kommt ein Betreuer. Und außerdem ist immer viel Sand unter den Klettergerüsten.«
Andrea kam herbeigelaufen und überreichte meiner Frau ein großes Ahornblatt, das der Herbst gelb gefärbt hatte.
Wieder bellten die Hunde. Nun endlich sah ich sie. Hinter ein paar Bäumen liefen zwei große Schäferhunde auf und ab und bellten sich gegenseitig an.
»Der andere Kindergarten ist jedoch näher«, erzählte Angela weiter. »Das wäre natürlich schon besser...«
Ich sah wieder zu den Hunden. Plötzlich waren es vier geworden.
»Seit wann dürfen hier so viele Hunde frei herumlaufen?« fragte ich Angela.
Sie sah mich völlig entgeistert an. »Welche Hunde denn?«
»Und wie lange geht das schon so?« fragte mich Dr. Gruber, unser Hausarzt.
Ich zuckte mit den Schultern. »Seit ich zehn bin«, erwiderte ich. »Da hatte ich zum ersten Mal einen derartigen Traum.«
Dr. Gruber lächelte. »Nun, Träume sind nichts Beunruhigendes. Manche Träume können eben sehr aufwühlend sein. Ich habe auch schon oft schlecht geschlafen.«
»Sie verstehen nicht«, sagte ich, »dies hier sind keine normalen Träume. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich schlafe, wenn ich diese Träume habe. Sie machen mich langsam nervös.«
Dr. Gruber musterte mich eine Weile lang schweigend. »Haben Sie manchmal Kopfschmerzen?« fragte er mich dann.
Ich nickte. »Wer nicht?«
»Sind es schlimme Kopfschmerzen?«
»Nein, manchmal brauche ich nicht einmal Aspirin nehmen.«
»Müdigkeit?«
»Ja.«
»Haben Sie Gewicht verloren in letzter Zeit?«
»Ein wenig, ja.«
»Absichtlich?«
»Schon.«
Er schrieb etwas in meine Krankenmappe.
»Kam es zu irgend welchen Ausfällen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sind sie plötzlich irgendwo zu sich gekommen, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt sind? Haben Sie Halluzinationen?«
Ich zögerte. »Manchmal.«
Dr. Gruber sah mich durchdringend an und notierte sich etwas auf dem Papier. »Wir werden ein paar Untersuchungen machen«, sagte er, die Augen noch immer auf sein Blatt gerichtet.
»Welche Untersuchungen?« fragte ich.
Dr. Gruber legte den Stift zur Seite und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Wir brauchen ihr Blut. Und ich würde gerne ein NMR von ihrem Kopf machen lassen.«
»Ein NMR?«
»Eine Kernspintomographie«, erklärte Dr. Gruber. »Wir schneiden Ihren Kopf in Scheiben.« Dabei schlug der mit seiner rechten Handkante mehrmals auf seine offene Linke. Das Geräusch fand ich sehr beunruhigend.
»Haben Sie Platzangst?«
»Nicht, dass ich wüsste. Wieso?«
»Beim NMR werden Sie zur Untersuchung in eine enge Röhre geschoben«, erklärte er mir.
Ich nickte nur.
»Können Sie sich freinehmen?« fragte er mich.
»Ich kann es bestimmt einrichten.«
»Ich werde sie auch an einen Kollegen weiterschicken«, sagte Dr. Gruber. »Ein Neurologe.«
»Wieso machen wir diese Untersuchungen?« fragte ich ihn, obwohl ich die Antwort schon kannte. Ich wollte sie nur von ihm hören.
»Nun«, sagte Dr. Gruber und schob die Patientenmappe auf seinem Schreibtisch zurecht. »Wir wollen eine organische Ursache ausschließen.«
»Ein Tumor?«
»Nicht doch. An so etwas wollen wir gar nicht denken.«
Ich schlief sehr schlecht diese Nacht. Und wieder träumte ich von den Toten.
Ich sah Nebel um mich herum, der in dichten Schlieren um meinen Körper zog.
Nach ein paar Schritten wurde der Boden weicher und ich glaubte zu versinken. Eine Hand packte mich und versuchte, mich zu befreien.
Als ich in das Gesicht des Helfers blickte, war es mein eigenes.
Ich wachte auf und fand in der Nacht keine Ruhe mehr.
»Das NMR ist ohne Befund«, informierte mich der Neurologe. Sein Name war Kleist, wie der Dichter, und auf seinem vergoldeten Praxisschild stand vor seinem Nachnamen noch ein »Prof. Dr. med.«. Er war hochgewachsen, blass und hatte schütteres Haar. Dafür waren seine Augenbrauen extrem dicht und über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Er hatte eine tiefe Stimme, sprach aber deutlich und verständlich.
»Aber das wissen Sie ja bereits, Herr Kawelka.« Er sah mich prüfend an und ich nickte.
»Der Radiologe hat es mir gesagt.«
»Mhm«, machte Dr. Kleist. Und wieder studierte er meine Krankengeschichte. Dann sah er wieder auf. »Ich würde noch gerne eine weitere Untersuchung mit ihnen machen. Ein EEG, eine Elektroenzephalographie. Die Untersuchungen sind allesamt völlig schmerzfrei. Beim EEG bekommen sie Elektroden auf den Kopf gesetzt«, er legte einer seiner Hände auf seinen Schädel, »und müssen dann allerdings auch über Nacht in einer speziellen Einrichtung, einem sogenannten Schlaflabor, bleiben.«
Ich nickte nur.
Der Neurologe fand nichts.
Nach ein paar weiteren Untersuchungen (das EEG und die Blutabnahme wurden wiederholt), gab er mir schließlich mehrere Adressen von Psychologen, die sich mit Traumdeutungen, Schlafkrankheiten und Halluzinationen beschäftigten und bot mir an, einen Termin zu vereinbaren.
Besonders legte er mir eine Kollegen ans Herz, die er als »Koryphäe auf diesem Gebiet« bezeichnete. Er meinte, diese Frau hätte oft sehr erfolgreich Halluzinationen und psychische Probleme behandelt und legte mir einen Besuch bei ihr dringend ans Herz.
»Wenn es wirklich etwas mit ihrer Psyche zu tun hat, sollten Sie das Ernst nehmen«, redete er auf mich ein, »denn auch wenn es jetzt noch relativ harmlos auf Sie wirkt. Es kann schlimmer werden.«
Ich ließ mir die Idee durch den Kopf gehen, war aber insgeheim nicht sehr begeistert. Als ich aber am Tag vor meinem Termin, den ich insgeheim schon für mich abgesagt hatte, wieder einen Traum hatte, der mich die ganze Nacht wach hielt, beschloss ich, doch hinzugehen.
Ich war überrascht, als ich der Adresse folgte, die mir der Neurologe auf einen Zettel geschrieben hatte, denn sie führte mich in ein Wohngebiet der Stadt, wo große, wuchtige Altbauten standen, allesamt mit hohen Decken, weiten, ausladenden Fenstern und alten Mauern. Die Bürgersteige waren extrem sauber und die meisten Passanten, die mir begegneten trugen Anzüge oder zumindest Jacketts, die Frauen teure Kostüme.
Ich fand schließlich die niedergeschriebene Adresse und war sehr erstaunt, da nichts an diesem Haus darauf schließen ließ, dass hier ein Arzt seine Praxis hatte.
Auch das Türschild war schlicht und vor dem Namen der Frau stand kein Doktortitel oder zumindest die Bezeichnung ihres Berufstandes, so dass ich schon glaubte, durch ein Versehen sei mir die Privatanschrift der Dame gegeben worden.
»Fischer«, stand da. In kleiner, unscheinbarer Schrift.
Da ich aber schon einmal hier war, klingelte ich.
Zuerst passierte eine ganze Weile lang überhaupt nichts.
Dann klang eine verzerrte Stimme aus dem Sprechgerät: »Ja, bitte?«
»Mein Name ist Kawelka«, sagte ich. »Ich habe einen Termin in Ihrer Praxis.«
»Moment, bitte.« Es dauerte ein paar Sekunden, dann meldete sich die Stimme wieder zu Wort: »Ja, Herr Kawelka. Es ist der dritte Stock, die erste Tür im Flur auf der rechten Seite. Treten Sie bitte ein.«
Das Türschloss summte und sprang auf und ich trat ins düstere Treppenhaus.
Es war angenehm kühl im Inneren und es roch alt, aber nicht muffig.
Ich ging die Treppen nach oben wie angewiesen und fand schließlich die beschriebene Tür. Auch hier wies nichts auf eine Praxis hin.
Ich klopfe, denn eine Klingel gab es nicht.
Schließlich wurde mir geöffnet.
Eine junge Frau in legerer, aber modischer Kleidung stand im Türrahmen und bat mich mit einem Lächeln herein.
Ihre Augen waren etwas verkniffen und leicht gerötet, so als hätte sie am Tag zuvor ausgiebig gefeiert, aber sie machte einen gänzlich frischen Eindruck. Sie hatte eine zierliche Gestalt, war zwei Köpfe kleiner alt ich, sehr schmächtig, aber nicht zu dünn und trug ihr kupferfarbenes Haar auf eine aufwendige Art hochgesteckt. Sie war sehr hübsch und wirkte jünger auf mich, als eine Expertin auf dem Gebiet der Wahnvorstellungen und Halluzinationen meiner Meinung nach wirken sollte.
Sie hielt mir ihre zarte Hand entgegen und ich packte sie. Ihr Händedruck war kaum spürbar.
»Herr Kawelka?« fragte sie.
Ich nickte. »Und Sie sind Frau Dr. Fischer?«
Sie lächelte und nickte. Ich bemerkte, dass sie mir nicht in die Augen sah und schob es auf ihre Verlegenheit.
»Kommen Sie bitte herein.« Sie wies mich in den Flur ihrer Praxis, die jetzt, da ich sie von innen sah, noch mehr den Eindruck des Privaten und Persönlichen weckte.
»Ein ungewöhnliches Ambiente«, meinte ich und sie lächelte, als würde sie meine Verwirrung nicht verstehen und meinen Kommentar als Kompliment auffassen.
»Mein Kollege«, fuhr sie fort, »war so frei, mich ausführlich über Ihren Fall zu informieren. Sie verzeihen hoffentlich, wenn ich manche der Fragen, die er schon an Sie richtete, wiederhole, aber ich möchte mir ein möglichst genaues Bild machen.«
Wieder wendete sie den Kopf zwar in meine Richtung, ihre Augen suchten aber ein völlig anderes Ziel. Sie machte einen höchst sonderbaren Eindruck auf mich und es war wohl das Unschuldige und Zarte in ihrem Wesen, das mich dazu brachte, zu bleiben.
»Du musst wohin?« fragte Angela mich.
»Es ist eine Art Kur«, erklärte ich ihr erneut.
»Warum eine Kur?« fragte sie mich und durchschaute meine Lüge sofort.
Ich zuckte mit den Schultern. »Meine Ärztin hat mir geraten, dorthin zu fahren.«
Angela stemmte die Arme in die Hüften und musterte mich misstrauisch.
Doch ich bleib standhaft und packte meine Koffer. Angela passte zwar nicht, was ich machte. Aber sie ließ mich gewähren.
Katrin holte mich ab.
Wir hatten vor ein paar Tagen beschlossen uns künftig zu duzen.
Ich packte mein Gepäck in ihren Kofferraum und umarmte Angela und die Kinder.
»Ich bin bald zurück«, sagte ich. »Eine Woche, allerhöchstens.«
Angela beobachtete Katrin sehr genau und ich merkte deutlich, dass sie mich nicht gehen lassen würde, wenn sie vorher von ihr gewusst hätte.
Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu - einen Blick, den ich nur zu gut kannte - und drehte sich dann um, um mit den Kindern ins Haus zu gehen, noch bevor wir losfuhren.
»Es tut mir Leid, Tobias«, sagte Katrin.
Ich sah meiner Frau nach. »Schon gut«, erwiderte ich.
»Vieles wird für dich ungewohnt sein, Tobias«, verkündete mir Katrin, während der Fahrt.
»Ich will nur, dass mir geholfen wird«, sagte ich.
Die Fahrt war lange und wir wechselten uns ab. Während Katrin neben mir auf dem Beifahrersitz schlief, trug sie eine schmale Binde über ihren Augen.
Die Landschaft, die wir durchquerten, änderte sich deutlich, wir verließen die Autobahn und landeten urplötzlich in dichtem, grünem Wald. Die Straßen waren enger, aber noch asphaltiert und wir fuhren durch eine Gegend, in der nur wenige Menschen zu wohnen schienen. Dafür gab es aber viele Kühe.
Das Schloss, zu dem wir unterwegs waren, lag auf einem reich bewaldeten Bergkamm, den die Einwohner eines nahen Dorfes einfach nur den »Schlossberg« nannten, wie mir Katrin erzählte.
Das Schloss selbst war einst von einem Baron erbaut worden und später dann von einer reichen Gruppierung aufgekauft und restauriert worden.
Ich wusste nicht, was Katrin mit mir vorhatte und sie weigerte sich auch, mir vor der Ankunft davon zu erzählen. Normalerweise hätte ich mich nie auf ein derartig schwammiges und merkwürdiges Unterfangen eingelassen, aber irgendetwas beruhigte mich und zwang mich zugleich dazu, hierher zu kommen. Es war nur ein Gefühl, aber ich konnte es beim besten Willen nicht ignorieren.
Wir erreichten das Schloss, als es bereits Abend und dunkel war.
Als ich mein Gepäck aus dem Kofferraum nahm, war Katrin bereits ausgestiegen.
»Bist du sicher, dass wir erwartet werden?« fragte ich sie und betrachtete das Schloss misstrauisch, in dem überhaupt kein Licht brannte und auch sonst kein Zeichen auf die Anwesenheit eines Menschen war.
Wir betraten die Eingangshalle und auch dort war es sehr finster. Katrin betätigte einen Lichtschalter und ein Kronleuchter flammte auf. Jedoch war sein Licht so dezent, dass auch darauf die Halle nur sehr spärlich ausgeleuchtet war.
»Du wirst dich an die Dunkelheit gewöhnen müssen, Tobias«, sagte sie mir.
»Und wo sind die anderen?« fragte ich, meinen Koffer in der rechten, ihren in der linken Hand.
»Du wirst sie kennen lernen«, sagte sie. »Zu gegebener Zeit.«
Ich bezog ein Zimmer im Südflügel. Es war im zweiten Stock und ziemlich spartanisch eingerichtet. Es enthielt ein Bett, einen Schrank und ein Waschbecken. Das WC samt Dusche war auf dem Gang. Es gab mehrere Türen auf dem Flur, aber alle waren sie verschlossen und ich hörte keinen Laut aus den dahinter liegenden Zimmern.
Auch Katrin war irgendwo verschwunden, ohne mir zu sagen, wann und wo ich sie wieder treffen konnte.
Ich wandelte durch die Gänge des Schlosses und horchte an den Türen, hörte aber nichts.
Die Mauern waren aus altem Stein und auch der Boden schien eine Kälte auszuatmen, die mich frösteln ließ.
Ich rief mehrmals Katrins Namen. Niemand antwortete mir.
Dann sah ich eine Gestalt am Ende des Flures. Ich ging darauf zu, doch sie schien sich mit derselben Geschwindigkeit zu entfernen. Ich begann zu laufen, aber der Abstand zwischen uns blieb der gleiche.
Schließlich blieb ich stehen.
Ich hockte mich auf den Boden und wartete. Nach einer Weile schien sie mir näher zu kommen, aber als ich wieder meine Augen auf sie richtete, entfernte sie sich wieder.
Also schloss ich meine Augen.
Und plötzlich war sie neben mir. Ich brauchte sie nicht zu sehen, denn ich wusste, dass sie direkt vor mir war.
Und ich spürte ihr Gesicht, spürte ihre Form, wusste wie sie aussah und wie sie sich bewegte. Wusste, wer sie war. Und ich brauchte meine Augen nicht mehr und dennoch konnte ich sie beschreiben, als hätte ich sie gesehen.
Ich wachte auf.
Es war dunkel in dem Raum, aber meine Armbanduhr verriet mir, dass es bereits später Vormittag war. Vor dem Fenster waren schwere Fensterläden, die kaum Licht nach innen ließen.
Der Traum... ich hatte wieder von den Toten geträumt, denn nichts anderes war diese Gestalt gewesen, die ich da gesehen hatte.
Und dann wurde mir auf einmal bewusst, was sie wirklich waren: es waren keine Toten, keine Spukgespenster wie man sie aus Filmen kennt.
Es waren Geister.
Plötzlich nahm ich eine Bewegung neben mir war. Katrin saß an meinem Bett. Sie trug wieder diese Binde vor ihren Augen und lächelte mich an.
»Gut geträumt?« fragte sie mich.
Wir saßen gemeinsam in einem großen Speisesaal an einem Tisch, der Platz für zwei Fußballmannschaften geboten hätte.
Ich trank frisch gebrühten Kaffee und aß Toast dazu, Katrin begnügte sich mit etwas Tee. Ihre zierliche Gestalt wirkte in diesen großen Hallen noch unscheinbarer.
»Warum verdeckst du deine Augen?« fragte ich.
Sie lächelte.
»Weil ich sie nicht brauche«, sagte sie.
»Bist du krank?«
Sie lächelte erneut. »Nein, wie kommst du darauf?«
Ich wusste nichts Rechtes darauf zu sagen. »Wer war der Besucher heute Nacht in meinem Traum?«
»Weißt du das denn nicht?«
»Nein«, antwortete ich verwirrt.
»Er war der erste Schritt auf deinem Weg«, sagte sie.
Wir blieben noch eine Weile in diesem Schloss. Und ich träumte jede Nacht.
Doch etwas hatte sich an den Träumen geändert, denn ich wachte nicht mehr auf, sondern träumte diese Träume zu Ende. Und jede Nacht traf ich fremde Gestalten, die mir aber doch unglaublich vertraut schienen. Unsere Wanderungen, die stets ohne Worte begangen wurden, führten uns durch das ganze Schloss, wir durchstöberten den umliegenden Wald und das nahe gelegene Dorf und drangen in fremde Häuser ein.
Es gab keine Grenzen mehr für mich, keine Hindernisse, keine Mauern.
Wir waren nicht mehr an Orte gebunden, weil wir nicht mehr an das Licht gebunden waren, nicht mehr an den Schall. Wir orientierten uns an anderen Quellen. Und diese machten nicht vor Wänden halt, nicht vor normalen Distanzen.
Doch diese Dinge, die ich wahrnahm, waren anders als in der realen Welt, sie sahen anders aus. Eigentlich hatten sie kein Aussehen im wörtlichen Sinn, denn es waren keine Wahrnehmungen, wie sie durch das Sehen entstehen, sondern andere, fremdartige. Ich konnte diese Dinge in meinen Träumen nicht mit den Augen sehen, ich spürte sie.
Es waren keine Formen, die ich sah, kein dreidimensionaler Raum, durch den ich mich bewegte, obgleich mein Gehirn anfangs immer vergeblich versuchte, diese Wahrnehmungen in ein gängiges, vertrautes Muster zu schieben.
Doch nach sechs Nächten, gab ich auch das auf und fügte mich dieser neuen Art des Sehens, des Erfassens. Ich durchdrang Wände mit meinem Geist, wanderte durch Zimmer, betrachtete Menschen und Tiere gleichermaßen. Ich betrachtete sie ohne Augen, sah sie nicht vor mir, sondern spürte sie, fühlte sie, wusste um sie, erlebte sie.
Ich war selbst zum Geist geworden.
Mein Handy klingelte.
»Tobias?«
»Ja, wer spricht?«
»Ich bin es.«
»Angela?«
»Ja, wo steckst du? Wir machen uns Sorgen.«
»Ich kann noch nicht kommen, Angela. Es... ich muss noch hier bleiben.«
»Aber...«
»Tut mir leid.«
»Wie lange noch?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ungefähr.«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber...«
»Es tut mir Leid.« Ich schaltete mein Handy ab und legte es zur Seite.
Wie lange hatte ich nun schon nicht mehr an sie gedacht?
Seit ich mich hier aufhielt, war mein vorheriges Leben aus meinen Gedanken verschwunden. Ich erinnerte mich kaum noch daran und es war mir auch egal.
Ich sehnte die Nächte herbei, sehnte den Schlaf und die Träume herbei. Denn dies hier, meine Körperlichkeit, war nicht mehr mein Leben, dies war nicht mehr das, was ich wollte. Dies war unwichtig geworden.
Ich saß auf meinem Bett, verzichtete auf Essen und trank nur, wenn meine Kehle vor Verlangen nach Wasser brannte.
Ich hockte im Dunkeln, denn Licht blendete meine Augen.
Ich saß nur da und wartete. Wartete auf meine Träume.
So fand mich Katrin. Sie kam zu mir ins Zimmer und brachte etwas Tee.
Dann setzte sie sich auf mein Bett.
»Du machst einen Fehler«, sagte sie traurig.
Ich hörte sie gar nicht richtig.
»Gib dich nicht zu sehr dem Drang hin. Der Mensch ist nicht nur das... du bist an deinen Körper gebunden.«
Erst jetzt sah ich sie an, doch wieder waren es nicht ihre Augen, in die ich blickte, sondern es war diese merkwürdige Binde.
Und dann verstand ich.
»Deine Augen«, sagte ich. »Man kann es kontrollieren, richtig? Ich brauche gar nicht einzuschlafen.«
»Du bist noch nicht soweit«, sagte sie.
»Man kann es kontrollieren«, wiederholte ich.
Sie seufzte und verließ das Zimmer.
Und ich beging einen Fehler.
Oder war es mein Glück?
Meine Augen waren mir sinnlos geworden.
Ich verstand, einen anderen Sinn zu gebrauchen, einen, der bisher nur in Träumen erwacht war. Und ich lernte ihn auch im Wachen zu benutzen.
Und so ging ich wieder auf die Reise und ließ meinen Körper zurück.
Denn was ist Örtlichkeit? Was ist Raum? Doch nur das, was man wahrnimmt. Und wenn man der Wahrnehmung alle Schranken nimmt, dann gibt es keinen Raum mehr, keinen Ort.
Ich flog über die Welt, ich ließ den Berg und den Wald hinter mir und durchquerte eine Weide mit sechsundzwanzig Kühen, einem Hund und einem Bauern, ich passierte die Autobahn, spürte jedes Auto, jeden Motor, jeden Funken einer Zündkerze, jeden Fahrer, flog durch die Städte, spürte die Menschen, die Kinder, die Tiere, die Gebäude. Ich spürte die Energien in der Luft, sie durchdrangen mich und erfüllten mich, spürte die Elektrizität, die durch die Leitungen floss, spürte die Moleküle des Wassers, die Atome der Materie. Und ich spürte das alles in einer Gesamtheit, die mich erschaudern ließ.
Und dann kamen die Geister. Und es waren unzählige von ihnen. Ich spürte sie überall. Und sie waren plötzlich alles, was ich spürte. Es waren so viele. So unendlich viele. Ich konnte sie nicht mehr begreifen, ich ortete sie, suchte sie, filterte sie heraus. Sie hatten keine Gesichter mehr, sie sahen nicht einmal mehr aus wie Menschen. Sie hatten nichts mehr, was man Aussehen nennt.
Ich wollte schreien, doch der Mund zum schreien fehlte mir. Ich wollte mir Augen und Ohren zuhalten, doch das war vergebens, denn ich sah nicht mit meinen Augen und hörte nicht mehr mit meinen Ohren.
Ich entfernte mich, entfernte mich von der Welt und ließ sie zurück, näherte mich Venus, Merkur und der Sonne, drang ein in ihre brodelnde Masse, ihre Hitze und spürte diese unbändige Energie, die dort wütete und tobte. Ich wurde von ihr angesogen, würde herumgewirbelt und herumgezerrt.
Ich verlor gänzlich die Kontrolle über all mein Tun. Alles prasselte auch mich ein, zerriss mich in Stücke, zerhackte mich und vernichtete mich. Ich spürte keinen Schmerz mehr, weil ich keinen Körper mehr spürte, hatte keine Angst, weil meine Wahrnehmung all meinen Geist auszufüllen schien, ich war nur noch Gefäß für all die Eindrucke, die auf mich einregneten. Und dann verschwand ... ich.
Doch anstatt wohlige Schwärze zu erleben, erlebte ich alles. Und begriff nicht einmal einen Bruchteil davon.
Und dann kamen die Geister wieder.
»Tobias.« Ich spürte, wie jemand gegen meine Wange schlug.
Ich spürte meine Wange!
»Öffne deine Augen, Tobias«, sagte die Stimme.
Und ich öffnete meine Augen.
Sie fühlten sich an, als ob ich tagelang geschlafen hätte. Sie waren verklebt und ich hatte Mühe, sie zu öffnen. Sie brannten höllisch und ich sah nur ganz verschwommen in ein zierliches Gesicht und zwei wunderbar grüne Augen.
»Was…?« brachte ich hervor.
»Du bist wieder da«, sagte Katrin. »Bei Gott, du bist wieder da.«
***
Katrin brachte den Wagen zum Stillstand und ließ mich aussteigen. Ich war zwei Monate weg gewesen. Und doch fühlte es sich an, als wären es Hundert Jahre gewesen.
Ich durchquerte den Garten und sah Licht in der Küche brennen.
Ich klingelte an der Haustür.
Angela öffnete die Tür und ich konnte es nicht glauben, dass sie sich kaum verändert hatte. Ich hatte so fest damit, gerechnet, nun eine alte Frau vor mir zu sehen, mit grauen Haaren und faltigem Gesicht. Doch sie wirkte jünger und schöner auf mich als je zuvor.
Und sie weinte.