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Schlussstrich
Sarah saß gerade an ihrem Küchentisch und war tief ins Grübeln versenkt, als sie plötzlich von ihrem Telefon aus den Gedanken gerissen wurde. „Becker“, meldete sie sich, wobei sie schon ein ungutes Bauchgefühl hatte, wer es sein könnte, und ihr Bauch behielt recht. „Hallo Liebes!“, ertönte eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung, „Du, hättest du etwas dagegen, wenn ich eben schnell bei dir vorbeischaue?“ Es war Roland, der Mann, mit dem sie schon seit bald zwei Jahren zusammen war, und der erst vorigen Monat mit dem seiner Ansicht nach grandiosen Vorschlag angekommen war, dass sie beide sich eine gemeinsame kleine Wohnung in der Innenstadt mieten und zusammenziehen könnten. „Hallo Schatz!“ erwiderte Sarah die Liebkosung, „Nein, natürlich hätte ich nichts dagegen!“ „Ist gut“, sagte Roland durch den Hörer; „Dann bin ich so in zwanzig Minuten bei dir, in Ordnung?“ Sarah stieß abseits der Sprechmuschel ein fast unhörbares Stöhnen aus. Was zum Teufel wollte er denn jetzt schon wieder? Hatte er ihr nicht erst gestern Abend auf dem Nachhauseweg schon einen unangekündigten Spontanbesuch abgestattet, als sie gerade ihre Ruhe haben wollte? „Äh... Schatz?“ „Ja?“ „Gibt es einen bestimmten Grund, dass du jetzt schon hier vorbeischneist?“ Einen Augenblick lang schwieg er, dann sagte er: „Ähm, nein... Das heißt... Doch, ich wollte etwas mit dir besprechen.“ Eigentlich passte es ihr gerade gar nicht. „Ach, Roland, ich bin im Moment ziemlich beschäftigt... Geschirrabspülen und so, weißt du...“ „Es wird auch nicht lange dauern.“ „Aber hat das nicht auch noch bis heute Abend Zeit, wo wir ins Kino gehen wollten? Da kannst du doch auch noch mit mir sprechen!“ Ihr kam es vor, als dränge so etwas wie Widerwillen aus der Muschel, dann meinte er: „Tja, weißt du, das wäre eine Sache, die ich gerne jetzt loswerden möchte.“ „Gut, dann sag eben schnell!“ „Da kann ich auch gleich bei dir vorbeikommen, schließlich bin ich schon fast da.“ „Ach so, ja, gut, dann komm eben geschwind her.“ Er warf ihr noch einen telefonischen Kuss zu und legte dann auf. Vermaledeit nochmal, wieder hatte sie nachgegeben! Sie war einfach zu leicht zu erweichen. Im Stillen fluchte sie auf sich selber, denn das war ihr großes Laster, dass sie schon immer zu den schüchternen und zurückhaltenden Menschen gehört hatte, die bei nur allzu vielen Gelegenheiten nicht „nein“ sagen konnten und darum immer von den unsensibleren und direkteren Charakteren überrumpelt wurden. Dabei war Roland eigentlich ein wirklich netter Kerl! Er war hilfsbereit und höflich, nur hatte er eben die Unart, sich oft an Sarah zu heften wie eine Klette und nicht scheinbar nicht zu merken, wenn sie einfach mal für sich alleine sein wollte. Heute war wieder so ein Tag, an dem sie am liebsten keinen Menschen sehen wollte, und diese Tage waren bei ihr nicht selten. Sie war jetzt vierundzwanzig, und Roland war ihr erster richtiger Lebensgefährte; Natürlich hatte es vor ihm schon einige andere Männer gegeben, aber die waren eher flüchtiger Natur gewesen und wussten nicht richtig auf das scheue Waldreh Sarah einzugehen, und so hielten diese wenigen Beziehungen nie lange.
Das alles waberte durch ihren Kopf, als sie sich wieder an den Tisch setzte. Rolands Anruf hatte etwas aufgewühlt, was sie schon seit längerem beschäftigte, und genaugenommen hatte sie bereits den ganzen Tag darüber gebrütet: Roland war ihr zuwider! Der Mann, der von allen zum ersten Mal bereit war, sie auf Händen zu tragen, ihr seine gesamte Zuwendung zu schenken und der immer bemüht war, ihr eine Freude zu machen, diesen jemand konnte sie nicht mehr ertragen! Immerzu klammerte er sich an sie, überhörte ihre Andeutungen, dass sie für sich sein wolle, und immer musste sie für seine einsamen Stunden herhalten, so kam es ihr vor. Ein Gedanke blitze wieder in ihr auf, und dieses mal versuchte sie nicht, ihn ein weiteres Mal zu unterdrücken: Sie wollte sich von Roland trennen. Das gestand sie sich nun ein, obwohl sie es im Grunde schon seit Monaten geahnt hatte. Sie stand wieder vom Tisch auf, denn die Unruhe in ihrem Kopf übertrug sich nun auf ihren ganzen Körper, und sie fing an, im Raum auf- und abzugehen. Sie schleppte diese Last schon zu lange mit sich herum, jetzt musste es endlich soweit sein: Sie musste es ihm sagen. Und zwar so bald wie möglich, das hieß: Jetzt gleich, wenn er zur Tür hereinkommen würde. Sie würde öffnen, er würde sie zärtlich umarmen, sie mit „Hallo, mein Schatz!“ begrüßen, und dann... dann würde sie ihm fest in die Augen schauen und sagen, dass sie ihn zwar immer noch gern habe, aber dass es nun vorbei sei. Das würde ihn zwar wie einen kalten Schauer treffen, aber sie hatte schon zu viele solcher Gelegenheiten ungenutzt verstreichen lassen. Sie ließ ihre Beziehung noch einmal revuepassieren: Hatte sie Rolands Zuneigung nicht eigentlich nur deshalb angenommen, weil sie sonst nicht viele Leute kannte, die sich um sie kümmerten? Und hatte sie ihm nicht anfangs auch eindeutige Signale gegeben, dass sie lieber auf Distanz bleiben wolle? Einen ganzen Monat lang hatte er ihr den Hof gemacht, bis sie endlich doch nachgab, und wenn sie es sich recht überlegte: Musste er nicht diese Zeichen bemerkt haben, und doch hatte er sie wie ein Pfau umgarnt? Höflich zwar, aber trotz allem doch penetrant, wenn sie es sich noch einmal recht vor Augen führte? Und später rückte er ihr immer öfter zu Leibe, indem er ihr sie mit Blumen überhäufte, sie jeden Tag zu später Stunde anrief oder sie einfach ständig frei nach seiner Lust und Laune besuchen kam, obwohl sie ihm doch immer öfter erklärt hatte, dass sie gerade ganz viel zu tun hatte? Dafür kannte sie nur ein Wort: Rücksichtslos! Unverschämt rücksichtslos sogar, stellte sie jetzt fest.
Sie wuchtete sich wieder auf den Stuhl, schnaufte vor Anspannung einmal laut, legte die Arme verschränkt auf die Tischplatte und legte den Kopf darauf ab. Schon mehrmals hatten sich solche Gedankenkaskaden in ihrem Innern ergossen, doch bisher waren sie immer spätestens an dieser Stelle von ihrem Schuldbewusstsein gestoppt worden. Und eigentlich hätte auch jetzt wieder eine reumütige innere Stimme erklingen und ihr sagen müssen, dass Roland doch bestimmt nur seine Liebe ausdrücken wollte und es doch alles an ihr liege, und sie diesem liebenswerten Menschen einen Stich ins Herz versetzten würde, bloß weil sie nicht mit Menschen auskomme, sie neurotische Ziege! Doch diesmal nicht. Ihre rasenden Gedanken waren so stark geworden, dass sie die Bedenken einfach wie ein reißender Bergbach bei Tauwetter hinwegspülten und ertränkten. Sie hatte lange genug geschwiegen! Jetzt würde sie ihrem Unmut endlich Luft machen! Und was auch immer Roland davon halten mochte, es würde auf lange Sicht das beste für beide sein! Sie könnten ja noch Freunde bleiben, aber nur noch mit einigem Abstand! Und wenn sie jemanden brauchte, dann bestimmt nicht so einen aufdringlichen Menschen wie ihn! Der sie immer bei der Arbeit anrief, obwohl er das eigentlich nicht sollte, und dann abends nicht mehr gehen wollte, wenn sie totsterbensmüde war! Verdammt, schon ihr ganzes Leben lang ordnete sie sich anderen unter! Hier würde der Schlussstrich gezogen werden! Roland, es ist aus! Tut mir leid, tschüs! Jetzt! Heute, hier!!
Es klingelte. Roland war einmal wieder früher da als er angekündigt hatte und sie sich darauf einstellen konnte. Sie atmete eine große Luftsäule in sich ein, dann stand sie auf und ging zur Tür. Als sie öffnete, kam er herein, begrüßte sie mit „Hallo, mein Schatz!“ und umarmte sie zärtlich. „Jetzt oder nie!“ dachte Sarah, glitt aus seinen Armen, und gerade als sie sich die Worte zurechtlegte, mit denen sie das Feuer eröffnen wollte, blickte ihr Roland fest in die Augen, fasste sie bei den Schultern, und sagte: „Hör mal, was ich dir so dringend sagen wollte... ich sag es dir lieber gleich: Ich möchte schlussmachen!“
Sarahs Kinnlade klappte schlagartig nach unten. „Du... willst... was?!“ stammelte sie bestürzt. „Ich weiß, dass kommt überraschend, und ich habe dich wirklich sehr gern“, sprach er, „und ich habe mir das auch lange überlegt, aber ich denke, es hat keinen Sinn mehr mit uns.“ „A- aber wieso das denn?“ Sie wich ein Stück zurück, „I- ich dachte, wir lieben uns!“ „Ja, irgendwo schon... nur wenn ich ehrlich bin, haben wir uns auseinandergelebt. Das hast du doch sicher auch gespürt. Wir leben einfach in verschiedenen Welten, weißt du? Deshalb möchte ich das ganze im Guten beenden, bevor wir anfangen, uns auf die Nerven zu gehen und uns hassen.“
Keine Minute später war Sarah den Tränen nahe und merkte, wie ihr Herz in ein tiefes Loch stürzte.