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Schmerzhafte Versuchung der Erfüllung
In der Versuchung liegt die Erkenntnis
Sie dachte, sie hätte sie gefunden. Tu es nicht, schrie ihr Inneres. Es hatte Angst. Immer wieder hatte sie das Buch mit sieben Siegeln berührt, bei jeder Berührung war sie voller Schmerzen. Und sie litt, leckte heimlich ihre Wunden. Jahre vergingen, doch Narben hatten sich tief in ihre Seele gebrannt. Narben vergangener Schmerzen und nie gelöste Probleme, die Lösung derer ihr nur das Buch mit sieben Siegeln verraten konnte .
Es kostete sie von Tag zu Tag mehr Kraft, zu verdrängen, sie fühlte sich leer. Es war anstrengend das Leben zu lieben, das man führte und doch nie geliebt hat. Es war anstrengend, der Welt immer das Gesicht zeigen zu müssen, was sie sehen wollte. Ein Strahlen, Glück, Erfolg. Sie wollten stolz auf sie sein. Sie liebten dieses Bild von ihr. Doch niemand ahnte etwas von dem Buch mit sieben Siegeln, das sie immer wieder heimlich berührte und unsagbar litt und doch immer wieder angesichts der Schmerzen, die jede Berührung hinterließ, zurückschrecken ließ, es zu öffnen. Es war ihr unmöglich, es zu öffnen. Ihre Seele litt und lernte, mit den Schmerzen zu leben. Sie lernte, zu verdrängen. Es machte sie hart. Außerdem legte es ein immer dickeres Band um den im Laufe der Zeit schwach gewordenen Kern ihres Innersten.
Sie ging davon aus, dass es ihr Schicksal war und dass sie es tragen mußte, wie jeder Mensch sein Schicksal tragen muß. Der Unterschied unter den Menschen ist nur, dass die einen Schicksale von der Welt gesehen werden und die anderen Schicksale sich hinter den eigenen vier Wänden und manchmal innerhalb des eigenen Körpers abspielen. Ihre Motivation zu leben fixierte sich auf das Buch mit sieben Siegeln, in ihrer Illusion stellte es den Schlüssel zum Glück dar.
Mit der Zeit und der Gewohnheit der Schmerzen, lernte sie, mit ihnen umzugehen. Sie lernte, wie sie das Buch berühren musste, damit die Schmerzen minimal waren. Sie fühlte sich reif und ein Stück unverletzlicher. Sie war stolz auf ihre erlernten Fähigkeiten, nicht im Strom des Lebens zu versinken und schritt voller Mut voran.
Sie war sich sicher, dass sie das Buch irgendwann öffnen könnte. Es brauchte nur Zeit.
Als sie sich eines Tages wieder dem Buch näherte, war sie sich sicher, dass ihr die nächste Berührung nicht mehr so wehtun würde. Sie schritt langsam auf das Buch zu, sie streichelte es in ihren Gedanken, begann das Leben zu spüren, begann sich selbst zu erkennen. Zu erkennen, was sie über Jahre hinweg verdrängt hatte. Sie ging davon aus, dass sie wieder zurückschrecken würde, auch wenn sie irgendwie spürte, dass es dieses Mal anders war. Das Buch zog sie an sich wie ein Sog, sie hatte sich näher herangewagt, hatte es zum ersten Mal gestreichelt und war wie hypnotisiert von den Gefühlen, das es in ihr auslöste. Es war, als ob ihre Seele wie durch Magie aus ihrem Körper stieg und über ihr schwebte. Ein Glücksgefühl umströmte ihr Herz. Sie schloß die Augen und genoß den Rausch, der ihr Angst bereitete, sie aber in einen Zustand versetzte, der fernab jeder bis dahin erlebter Realität war und vollkommen schmerzfrei machte. Wie von Geisterhand getrieben hielt sie das Buch schon fast in den Händen, sie zog es an sich, sie war volltrunken vor Glück. Sie begann zu schreien, sie wollte mehr. Das Buch begann plötzlich zu brennen und ihre Hände empfanden Schmerzen von einer Intensität, die sie auch zuvor nie gekannt hatte. Sie schrie, doch der Rauch erstickte ihren Atem, von den Flammen geblendet, konnte sie nichts sehen. Ihr Schreien hatte viele um sie versammelt, ganz leise nahm sie ihre Stimmen war. Ihre flehenden Stimmen, von den Menschen die sie liebten, sie flehten unter Tränen: „Laß dieses Buch los, es wird dich töten.“ Sie hörte es, doch wahrnehmen konnte sie es nicht, sie war im Bann des Buches. Sie nahm verschwommen Menschen war, die sie dachte zu lieben und plötzlich sah sie schmerzverzerrt das böse Funkeln in ihren Augen, sie waren zerfressen von Hohn, Neid und Kälte. Sie erschrak trotz der Schmerzen. Es erschien ihr so unwirklich. Mit dem brennenden Buch in den Händen, voller Schmerzen, versuchte sie ihnen verzweifelt zu erklären, was passiert ist. Doch sie erntete nur Kälte, die fast noch mehr schmerzte als das Feuer. Sie schrie verzweifelt nach Hilfe, doch die Seele der kalten Augen lachte nur und drehte sich weg. Sie schrie. Da sah sie das Flehen in den Augen derer, die sie liebten. Ihr Wunsch in diesem Feuer zu sterben, war größer als der zu leben, denn sie wusste nicht, ob sie die tiefen Wunden dieses Brandes jemals überwinden konnte.
Sie ergriff mit letzter Kraft die Hand derer, die sie liebten. Es war die Dankbarkeit, dass sie sie trotz des Wissens um das Buch liebten, die sie rettete. Sie ließ das Buch langsam fallen. Die äußere Schicht war verbrannt und zurück blieben die Seiten dieses Buches, versteckt unter schwarzem Ruß und Asche. Sie glitt benommen aus dem Keller, geführt von den Händen derer, die sie liebten. Sie ließ das Buch zurück.
Nun trägt sie die Narben der Berührung und lebt weiter. Doch das Buch ist immer noch da, wenn auch nur in Gedanken. Und sie weiß, dass sie, wenn die Zeit gekommen ist, wieder hinabsteigen wird und hofft, dass sie irgendwann öffnen können wird.
Und sie weiß jetzt, was ehrlich war und sie kannte diejenigen, die sich nur in ihrer Sonne gebräunt hatten. Sie war der Wahrheit ein Stück näher, deshalb war es ein guter Kampf. Auch wenn sie ihn verloren hatte und es noch nicht geschafft hat, das Buch vollständig zu öffnen.