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Schnee in der Wüste

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06.01.2005
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Schnee in der Wüste

Heute will ich – wie bei jedem Besuch – meine Mutter und meine Schwester auf eine Einkaufstour nach Ben Gardane fahren. Die Strecke über achtzig Kilometer wird mir die Gelegenheit geben, in Ruhe und unter uns die Trennung von meiner Frau zu bereden. Wir fahren immer nach Ben Gardane, weil anscheinend dort der Markt am günstigsten und die Auswahl am grössten ist. Das ist wegen der Nähe zu Libyen, nur einige Kilometer zur Grenze. Ein Graumarkt.

Meine Mutter will noch Esswaren packen. Ich schlug vor, ich würde sie einladen, in ein Restaurant. Sie verneinte kategorisch. „Wir nehmen immer unser Essen mit, und unseren vorgekochten Tee. Wir setzen uns über Mittag unter eine Palme und essen, danach trinken wir gemütlich unseren Tee.“ Das hingegen gefällt mir, das ist unbezahlbar. Und das letzte Mal, als ich dies tat, da war ich keine zehn Jahre alt. Wir waren auf Besuch in Ben Gardane, meine Grossmutter lebte damals dort. Auf halbem Weg hielten wir an, mein Onkel hatte uns in einem schönen alten schwarzen Citroen hingefahren. Meine Mutter packte aus, unser Onkel und wir Kinder machten Feuer in einem schnell ausgegrabenen Loch und Mutter legte den Teekrug darauf. Es roch nach Rauch, Tee, karamellisiertem Zucker und Zigaretten meines Onkels. Es kommt mir auf ein Mal so vor, als wäre es gestern gewesen.

Wir einigten uns schliesslich auf die mitzunehmenden Esswaren und verabschiedeten uns in einem grossen Lärm: die Kinder meiner Schwester schrieen nach, sie solle nicht vergessen, was sie ihr aufgetragen haben. Meine Tante Salma warf einen Krug voll Wasser hinter uns, als Zeichen für den Wunsch, wir sollten auf der Reise nicht Durst leiden. Als gingen wir weiss ich wohin. Achtzig Kilometer, eine Stunde Fahrt. Aber die Tradition ist schön. Nach ein paar Metern schon musste ich halten, weil Bekannte uns fragen wollten, wohin wir gingen. Man kommt hier nicht planmässig weg, und auch nicht an. Sie wünschten gute Reise.

Nach ein paar Kilometern passiert mir doch etwas recht Peinliches. Vor mir fährt ein uralter Peugeot, mit Sicherheit mehr als eine Million Kilometer, schräg liegt er da und fährt Schritttempo. Beladen bis zum Gehtnichtmehr. Die Strasse ist übersichtlich, nur ein grosser Baum rechts, den ich trotz hoher Ladung dieses Peugeots sehen kann, links freie Bahn. Ich überhole. Keine dreissig Meter weiter vorne, genau hinter dem Baum im Schatten, ein Polizist, der mich heraus winkt. Er sagt „Assalamu aleikum“ – Friede sei mit Euch - und verlangt meine Papiere. Ich gebe sie ihm mit der Antwort „Oua aleikum assalam“ – und mit Euch sei Friede. Er hält den Peugeot, der es inzwischen auch geschafft hat, an, kontrolliert gleichzeitig meine Papiere und sieht sich die Ladung des Peugeots genau an.

Meine Mutter fragt besorgt, was los sei. Ich antworte, dass ich einen Fehler gemacht habe und mit einer Busse rechnen muss. Der Polizist kommt zurück. Ohne seine Frage abzuwarten, gebe ich zu, dass die Sicherheitslinie klar sichtbar war, versuche zu erklären, dass ich sehr vorsichtig war, ich überholte erst, nachdem ich in dieser langen, übersichtlichen Strecke festgestellt habe, dass kein Gegenverkehr da war. Trotzdem ist und bleibt es eine Sicherheitslinie. Da muss ich ihm Recht geben.

Meine Mutter ruft von hinten dem Polizisten zu „Bruder, mein Sohn ist sich die Strassen Europas gewohnt, er wusste das nicht“. Wir lachten beide, der Polizist und ich, und bevor sein Kommentar kam, sagte ich „Mutter, wir haben genau die gleichen Linien und die gleichen Regeln in der Schweiz.“ Er überlegte kurz. Eigentlich könnte ich mit einem Verfahren rechnen, mindestens aber einer Busse.

Er gab mir die Papiere kommentarlos zurück, und wir konnten weiter fahren. Meine Schwester erklärte später, dass er einem einheimischen Fahrer mit Sicherheit den Ausweis entzogen hätte. Das sei ihrem Schwiegersohn passiert. Wochen lang konnte er nicht fahren. Aber bei den Auslandtunesiern drücken sie auf Instruktion des Präsidenten ein Auge zu, weil diese Leute doch wieder nach Europa müssten. Wiedermal war ich für eine Ungerechtigkeit dankbar.

Ich sagte meiner Schwester, er hätte mit Sicherheit etwas Geld verlangen können, und ich hätte es sicher gegeben, um keine Scherereien zu bekommen. Sie erklärte mir, dass es noch Polizisten gibt, die es versuchen, aber seit einen gewissen Zwischenfall sind sie sehr vorsichtig. Ein Taxifahrer fuhr anscheinend zu schnell. Ein Polizist hielt ihn an und wollte ihm ein Verfahren anhängen, das ihn mit Sicherheit zwei Monate arbeitslos gemacht hätte. Der Polizist macht aber Anzeichen von Bestechlichkeit. Der Taxifahrer musste anscheinend im selben Jahr drei Mal bestechen.

Nun hatte er es satt und wollte den Polizisten überführen. Er sagte ihm, er bringe ihm das Geld in zwei Tagen vorbei. Zwei Tage später trafen sich die zwei und der Taxifahrer übergab ihm hundert Dinars, einen Wochenverdienst. Eine Stunde später wurde der Polizist verhaftet. Was dieser nicht wusste: der Taxifahrer hatte die Noten, die er übergeben sollte, auf dem Polizeirevier in Medenine kopieren lassen und von zwei Beamten die Nummern der Noten aufschreiben; er sagte aus, dass er sie einem Polizeibeamten als Bestechung bezahlen würde. Die Originalnoten wurden beim Polizisten gefunden. Seither passen sie sehr gut auf, wem und wann sie Geld abnehmen.

Einen Kilometer später etwa, räusperte ich mich, nahm einen Schluck Wasser, setzte mich gemütlicher auf den Sitz und setzte an, die Geschichte meiner geplanten Trennung zu erzählen. Ich fing an mit einem Spruch von Jacques Brel „… le baiser de deux chemins ne dure qu’un carrefour…“. Mein Weg und der meiner Frau haben sich von zwanzig Jahren gekreuzt und nun planen wir, diese Kreuzung zu verlassen und jeder für sich weiter zu gehen.

Auf die Frage „warum mein Sohn“ war ich zwar bestens vorbereitet, doch eine Antwort fällt mir nicht ein, warum verlassen sich Eheleute denn? Auf die Frage meiner Mutter, ob da eine andere Frau im Spiel sei, antwortete ich lächelnd „nein!“, und auf ihren Zusatz „Ein Mann?“ antwortete ich ebenso kategorisch verneinend. Es fiel mir nur diese belanglose, gewöhnliche Erklärung von „wir haben uns auseinander gelebt“ ein.

So war es wahrscheinlich, mit den Jahren verschieben sich die Interessen und sogar die Freundeskreise so weit auseinander, dass man sich gelegentlich fremd vorkommt.

Ich verschob das Gespräch auf später. Zuerst wollten wir einkaufen: Wolldecken aus Ägypten, die eigentlich aus China kamen, sie werden ägyptisch genannt, weil sie von dort importiert werden, Stoff aus Libyen, der in Indien hergestellt wird, aber über Libyen her eingeführt wird. Sogar der Tee soll hier besser sein als in unserer Heimatstadt. Dann nimmt meine Schwester eine Liste hervor und bittet mich, draussen zu warten, es ging um Unterwäsche für ihre Töchter.

Jetzt kommt wieder diese Scham, die uns so unterscheidet von Europäern. Es ist mir unmöglich, mit meiner Schwester in einen Damenunterwäsche-Laden zu gehen. Meistens arbeiten dort auch nur Frauen, nicht nur, weil sie sich besser damit auskennen, sondern auch eben wegen dieser Tabus, die es hier gibt. Einen Film mit seiner Mutter oder Schwester schauen, wo Zärtlichkeiten zwischen Männern und Frauen ausgetauscht werden, ist in vielen Familien undenkbar. Als meine Mutter bei mir in der Schweiz war, musste ich an einem Kiosk Zigaretten kaufen, ich versank fast in den Boden, als sie die vielen Illustrierten sah, die allesamt, auch wenn es um Wein, Wirtschaft, Sport ging, durch eine mehr oder weniger nackte Frau warben.

Ich warte draussen und beobachte die Menschen, meine Landsleute, die mir inzwischen so fremd wurden. Ich sehe reiche Leute, die auf Einkaufstour gehen. Weniger reiche, die jede Decke, jeden Haushaltsgegenstand in die Hand nehmen, bemustern und mehrmals nach dem Preis fragen, dabei machen sie eine Geste, die klar „Wucher“ meint. Die einen argumentieren, weiter hinten hätten sie dasselbe günstiger gesehen, die anderen halten eine allgemeinere Rede im Sinne von „jedes Jahr wird alles teurer, wo soll das bloss hin führen“, dabei sprechen sie eher ihre Mitbürger als den Händler an.

Zwei junge Frauen fallen mir besonders auf. Sie sind verschleiert, tragen lange Kleider und Hosen darunter, sogar Handschuhe haben sie an, bei dieser Hitze. Was man für ein extremes religiöses Verhalten hält, ist viel einfacher zu erklären: diese jungen Frauen sind verlobt und heiraten diesen Sommer. Sie hüllen ihren ganzen Körper in Stoff ein, um nicht braun zu werden! Ich muss vor mich hin schmunzeln. Eine Bekannte in der Schweiz ging Wochen lang ins Solarium, bevor sie in ihrem weissen Kleid heiratete. Ist die Welt nicht verkehrt? Alles, was man hat und andere begehren, will man selber nicht, dafür strebt man das an, was andere haben und nicht wollen!

Ich sehe ein paar Arbeiter und begrüsse sie mit dem traditionellen „Gott helfe euch“, und sie antworten mit dem eben so gewohnten „Gott errette dich“. Ich denke kurz über diesen Dialog nach. Ich wünsche ihnen, dass Gott ihnen bei der schweren Arbeit helfe. Sie dafür bitten Gott, mich zu erretten, wahrscheinlich aus der Lage, dass ich es mir leisten kann, an ihnen vorbei zu gehen, ohne an ihrer schweren Arbeit teilnehmen zu müssen. Was sind wir Araber doch eigentlich für eine noble Gesellschaft. Rein theoretisch natürlich.

In einem kleinen Laden entdecke ich Souvenirs, ich dachte, ich nehme ein paar Aschenbecher und schöne Schalen für Freunde mit. Kaum habe ich den Blick in Richtung des Ladens gerichtet, schon springt mich ein junger Mann an „Bonjour, Monsieurs, Gucken, nur Gucken, komm rein“. Einerseits sagt er mir Monsieur, andererseits duzt mich der Kerl. Ich wollte kein Spiel treiben und antworte ihm auf tunesisch „Ich bin dein Landsmann“. Damit dachte ich natürlich, dass er mir entgegenkommt mit seinen Preisen, die nirgends angeschrieben waren. Er sicherte mir zu, dass er mir die Preise weit tiefer berechnen würde als den „Touristen“, er sprach das Wort dermassen herabschätzend aus, dass ich fast selber beleidigt wurde. Ich dachte, ich hätte gut gehandelt, als ich ein paar Sachen bezahlt und fast stolz aus dem Laden kam. Meine Schwester fragte mich sodann, was ich da gekauft und vor allem, was ich dafür bezahlt habe.

Sie packte den ganzen Sack und ging raschen, bestimmten Schrittes auf den jungen Mann zu. Ich ging langsam mit meiner Mutter nach. Sie muss dem Verkäufer alle Schande gesagt haben. Jedenfalls gab es zwar kein Rückgeld, aber so viel mehr Aschenbecher und Schalen, wie ich schon gekauft hatte. Meine Mutter gab ihm noch den Rest mit einer regelrechten Predigt. „Hör zu, mein Sohn“ sagte sie ihm. „Es ist bei Gott verboten, solche Preise zu verlangen, nicht nur von Tunesiern, sondern auch von Touristen.

Ich habe sie kennen gelernt, als ich in der Schweiz war. Ehrliche, freundliche, hilfsbereite Leute. Auch sie arbeiten hart für das Geld. Und glaub mir, mein Sohn, Gott gewährt jedem Menschen sein Einkommen, auch dir, ohne, dass du betrügen musst.“ Ich lächelte, der Junge wusste kein Wort darauf zu antworten.

Was meine Mutter mit „hilfsbereit“ meinte im Zusammenhang mit Europäern, beruht auf eine Erfahrung, die sie machte, in Zürich. Vor ein paar Jahren wollte sie mich besuchen. Leider konnte ich dann nicht herkommen und sie abholen. Also organisierte mein Bruder die Angelegenheit so: er unterschrieb jede Menge Papiere, damit die Tunis Air sich um sie kümmert. Dieser Begleitdienst, garantierte die Tunis Air, funktioniere bei ihnen wie bei jeder anderen Weltklasse-Fluggesellschaft. Sie sagten ihm, dass meine Mutter vom Moment der Gepäckabgabe auf Djerba, bis zu mir im Flughafen Zürich begleitet und unterstützt wird. Sie werde mir regelrecht persönlich übergeben.

Alle waren beruhigt. Meine Mutter kann nicht lesen, nicht schreiben, sie spricht ausser südtunesischem Dialekt keine andere Sprache. Als sie in Zürich ankamen und das Flugzeug verlassen sollten, bat meine Mutter eine Stewardess um Begleitung. Sie bekam lediglich die Antwort, sie solle einfach den Anderen folgen. Es sei sehr leicht im Flughafen Zürich hinaus zu finden. Die dumme Kuh, der Flughafen Zürich fasst jenen von Djerba zwanzig Mal. Meine Mutter hört auch schlecht und sieht schlecht und ist schlecht zu Fuss. Ein Schweizer muss das bemerkt haben.

Er muss ihr in irgendeiner Weise seine Hilfe angeboten haben. Sie schilderte es so: „Als mir die Tränen aus den Augen zu schiessen drohten, als mir der Atem stockte und der Speichel beim Schlucken weg blieb, da ertönte eine Stimme, und obwohl ich sie nicht verstand, wusste ich, Gott hat mir diesen Mann geschickt“. Er begleitete sie, anscheinend sprach er zu ihr, und sie antwortete, beide fingen an zu lachen. Er brachte sie an die Passkontrolle und redete anscheinend mit dem Polizisten. Danach begleitete er sie zum Gepäck. Sie erzählte später: „Als diese laufenden Treppen kamen, und ich den Abgrund sah, Gott vergebe mir, ich habe mich an diesen fremden Christen fest geklammert.“ Als sie dann unten war und mich sah, hinter dem Glas, weinte sie leise vor sich hin, und ich auch. Der Mann liess sie auch dann nicht aus den Augen und begleitete sie über den Zoll zum Ausgang. Ich konnte mich nur kurz herzlich bedanken, und schon war er weg und begrüsste die Seinen.

Sie beendet ihr Referat für den jungen Händler mit „Ihr habt keine Ahnung. Was ihr da als Touristen bezeichnet, sind edle, hilfsbereite Menschen, und ihr haut sie übers Ohr! Gott vergebe euch!“

Wir steigen ins Auto und fahren Richtung Meer. Am leeren Strand parken wir in der Nähe einer grossen Palme mit wunderschönem Schatten. Wir sind nicht die ersten. Spuren von Gelage sind noch zu sehen. Meine Mutter und meine Schwester packen so viele Sachen aus, dass es mir vorkommt, sie planten eine Woche Aufenthalt. Couscous, Brot, Früchte, Salat, und natürlich den Tee, der schon vorgekocht ist, Wasser und Pepsi.

Als ich den Schriftzug „Pepsi Cola“ lese, erinnere ich mich an eine Aussage eines Cousins, vor Jahren allerdings, dass Pepsi Cola im Namen schon einen Hass gegen die Araber und die Unterstützung der Juden beinhaltet. „Pepsi Cola“ heisse nämlich „Pour l’évolution du peuple sioniste israelien, contre l’organisation de la ligue arabe“ (für die Entwicklung des zionistischen israelischen Volkes, gegen die Organisation der arabischen Liga). In Allem sah man eine Zeit lang eine Kriegserklärung gegen die Araber und Unterstützung für die Juden und Israelis. Wie viel Phantasie muss einer haben, um das zu erfinden! Und wie schnell kann man Jugendliche davon überzeugen, die keine Ahnung haben, woher der Name kommt.

Wir haben es uns nun gemütlich gemacht. Ich setze erneut an. Meine Frau und ich wollen uns trennen, in gutem Einvernehmen. Bevor ich weiter sprach, sagte mir meine Schwester: „Hör mir zu, Bruder, diese Dinge gibt es überall, es sind vorübergehende Krisen zwischen Eheleuten. Glaub mir, mein Mann und ich sind die besten Eheleute und Freunde, aber ein Mal im Monat…“ ich bemerke wie meine Mutter schmunzelt und dann sagt „ja, ein Mal im Monat siehst du ihnen an, dass sie Streit haben. Das ist am Zahltag.“ Meine Schwester führt aus: „Er kommt mit dem Lohn nach Hause, wir setzen uns hin und teilen alles auf. Das ist für den Laden, das ist für die Abzahlung der Möbel, das ist für das Gold, das wir für die Mitgift unserer ältesten Tochter gekauft haben und so weiter.

Er aber will noch so viel für das und jenes, das wir uns nicht leisten können, und da fange ich an zu weinen und er zu schmollen. Aber noch bevor die Sonne untergeht, sind wir uns einig, ich tue so, wie wenn ich ihm Recht geben würde und er tut so, wie wenn er meinen Trick nicht durchschaut hätte.“

Ich sagte, dass wir uns nicht wegen des Geldes trennen. Meine Mutter hört ruhig meinen Ausführungen zu, während meine Schwester den Tee aufwärmt. Dabei grub sie einfach ein kleines Loch in die Erde, zündete ein kleines Feuer und stellte den Krug auf drei kleine Steine, die sie in einem Dreieck einsetzte. Ich erzählte unter einer Palme meine letzten zwanzig Ehejahre diesen zwei Frauen, die ich seit Kind nur in den Ferien sah. Aber es ging mir nicht darum, Verständnis oder Rat zu bekommen, ich schuldete es ihnen zwei, eine Erklärung zu geben. Und so sagte meine Mutter zum Schluss meiner Rede. „Hör zu, mein Sohn. Was ihr auch immer entscheidet, wir respektieren das. Wir habe es respektiert, als ihr geheiratet habt, obwohl es nicht einfach war für uns. Wir haben es respektiert, als ihr eure beiden Jungen nicht ganz nach islamischer Sitte beschnitten habt, wir respektieren, dass deine Jungen nicht nach Hause kamen, als sie klein waren. Du hast wahrlich keine traditionelle Beziehung zu uns. Du hast immer getan, was du wolltest und ich vertraute immer darauf, dass du wusstest, was du tatest. Also respektieren wir auch heute, dass du dich trennen willst. Sag bitte deiner Frau, dass wir sie lieben und respektieren und dass sie hier jederzeit willkommen ist, mit dir oder ohne dich.“ Wir schlürften ruhig unseren Tee, während ich darüber nachdachte, was alles in den letzten zwanzig Jahren falsch oder richtig lief.

Warum trennen sich Menschen nach so vielen Jahren? Genau aus dem selben Grund, wie sie sich zusammen tun. Und diesen vermeintlichen Grund der Liebe muss ich heute doch schwer in Frage stellen.

Da bist du zwanzig Jahre und über beide Ohren verliebt. Du bist jung und planst mit einem Partner ein ganzes Leben. Vergessen wir nicht etwas Wesentliches? Glauben wir wirklich, dass das alles nur unser Wille, unsere Absicht, unsere Entscheidung ist? Ist es nicht auch ein bisschen die Natur, die uns mit diesem unerklärlichen Grund zusammen bringt, in einem Gefühl so schön, dass wir nicht widerstehen können. Nun hat die Natur ihren Zweck erfüllt, die Nachkommen sind da, die Aufgabe ist erledigt. Was bleibt da? Ja, wenn es die Liebe wäre, dann müssten sich zwei Menschen im besten Alter doch nicht trennen! Was bleibt da eigentlich? Wie sagte doch Nietzsche schon? Nicht mangelnde Liebe, sondern mangelnde Freundschaft führt zu unglücklichen Ehen! Verliebtsein vergeht, sogar Liebe vergeht, sie kann nur durch Freundschaft wieder erweckt werden? Hatten meine Frau und ich unsere Freundschaft verloren?

Oder war es so simpel, wie es Georges Brassens ausdrückt: „Le prénom d'infâme me va comme un gant, D'avec ma femme j'ai foutu le camp, parce que depuis tant d'années c'était plus une sinécure de lui voire tout le temps le nez au milieu de la figure.“ Wollte ich mich wie der gute Georges trennen, weil die Nase meiner Frau nach so vielen Jahren immer noch mitten in ihrem Gesicht war? Ein einziger Grund kommt mir plausibel vor, wieso sich moderne Menschen trennen. Das konnten auch in der westlichen Welt vor fünfzig Jahren Ehepaare nicht, und das können sie heute in vielen Teilen der Welt nicht: Gelegenheit, neue mögliche Partner kennen zu lernen. Was für einer Herausforderung wir tagtäglich ausgeliefert sind! Im Büro, im Café, in der Bar, auf einer Raststätte, in einem Hotel, in der Nachbarschaft begegnen wir immer wieder Menschen, in die wir uns verlieben können.

Und wir mögen die schöneren, intelligenteren, lieberen Partner zuhause haben, der Reiz ist stärker als unsere Vernunft, die uns das eigentlich verbieten würde. Wenn wir schon alleine ausgehen können, dann sollten wir diesen Reizen widerstehen lernen, das hat uns niemand beigebracht. Das hätten auch Generationen vor uns nicht geschafft, damals gingen sie dem ganzen aus dem Weg, indem sich Männer und Frauen nicht in einem Café trafen, so zufälligerweise. Sie hatten dafür den Vorteil, dass sie diesen Frust nicht erleben mussten: eines Abends jemandem in einem Tanzlokal zu begegnen, zu flirten, zu reizen und gereizt zu werden, und dann allein nach Haus zu gehen!

Sie hatten es besser, die Generationen vor uns, aber sie mussten diesen Trick anwenden, nämlich allem aus dem Weg zu gehen, was reizend war. Wir modernen Menschen glauben, damit umgehen zu können. Ha! Mit Nichten! Wir haben uns Freiheiten gegeben, Traditionen und Sitten über den Haufen geworfen, in der Annahme, wir kommen damit zu Recht. Was für ein Irrtum! Wir nehmen an, dass wir als Paar immer glücklich sein sollten. Was für ein anderer Irrtum! Ist der Mensch denn wirklich auf dieser Welt, um glücklich zu sein? Die Christen glauben, der Mensch wird als Sünder geboren und von Jesus Christus erlöst. Die Moslems glauben, der Mensch ist auf der Welt auf Durchreise ins bessere Jenseits. Tatsache ist, dass wir ständig Schmerz und Leid durchleben. Nachts, wenn wir allein sind, bei Krankheit.

Wir leiden Hunger und wir leiden unter Übergewicht, wir leiden unter Hitze und Kälte, wir werden in Schmerz und Schrei geboren und so sterben wir. Wo soll da das Glück noch Platz haben? Wir haben das Glück erfunden, geübt und es als Disziplin beherrscht. Wir nehmen was dafür, vom Alkohol bis zur Droge, vom Weihrauch bis zur Pille. Und doch, auf die Dauer mögen wir einander nicht glücklich machen.

Wir scheitern. Ja, wir scheitern. Aber was plagen mich solche Gedanken in dieser Umgebung? Ich sehe mich um, weit und breit nichts, nur das friedliche Meer, das mit den weissen kleinen Wellen und der hellen Sonne blendet. Das Blau ist im Himmel, das Blau ist im Meer. Wenn wir wissen, dass wir scheitern und auch noch warum wir scheitern, wird aus dem Misserfolg ein Erfolg. Dann haben wir gelernt. Aber nichts da! Was haben wir schon gelernt? Bei jeder Beziehung, die wir anfangen, glauben wir, dass diese Begegnung die richtige ist, diese Liebe halten wird. Und wir schämen uns nicht, dass wir das zehn Mal in unserem Leben sagen!

Nun lache ich aber selber über mich und lenke mich definitiv ab. Wir packen gemächlich unsere Sachen und fahren langsam wieder Richtung Medenine. Auf der Fahrt habe ich meine Ruhe und fast gute Laune wieder gefunden, indem mir der Leitspruch eines Mannes in den Sinn kam. Ich sagte meiner Mutter und meiner Schwester: „Wisst ihr, es sagte mal ein Mann namens Sokrates, dieser Mann, Mutter, lebte vor Mohammed, sogar vor Jesus: bedenke, dass die menschlichen Beziehungen insgesamt unbeständig sind, so wirst du im Glück nicht zu froh und im Unglück nicht zu traurig sein“.

Ich weiss nicht, ob meiner Mutter wirklich bewusst ist, dass es Menschen mit Gedanken und Sorgen und Geschichte gab, vor den Propheten. Jedenfalls schienen wir alle drei über diesen Spruch des guten alten Sokrates nachzudenken, während ich von der Piste her kommend, in die Strasse bog und nun Gas geben konnte. Ich lebe tatsächlich nach diesem Leitspruch: ich war im Glück nie zu froh, war nie voller Begeisterung für etwas, das heisst schon sehr begeistert, aber immer schon mit der Wahrnehmung, es könnte anders sein als ich es sehe, es könnte anders werden, als ich es sehe, ich könnte anders werden, als ich heute bin, und darum war mein Enthusiasmus stets in Grenzen. Auf der anderen Seite hatte ich bei jeder Enttäuschung, jedem Misserfolg, jedem Leid nicht die abgrundtiefen Gefühle gehabt, die ich bei so vielen Menschen erlebt habe. Vielleicht liegt es auch an der Überzeugung, dass Zeit und Raum unsere Handlungen und auch unsere Erwartungen beeinflussen. Wenn ich daran denke, dass meine Mutter den Schmerz über den Verlust ihres einzigen, geliebten Mannes nach einer Phase des Fast-Untergangs überstanden hat, kann ich von mir und meiner Frau erwarten, dass wir unsere Trennung ertragen müssen.

 

Hallo amoremio!

Herzlich willkommen auf kg.de!

Ich habe Deine GEschichte noch nicht gelesen, weil mich das Wot Leseprobe irritiert:

Gedichte, Romane, Romanausschnitte, unfertige Geschichten usw. sind nicht erlaubt. Eine Diskussion darüber ist zwecklos, entsprechende Texte werden sofort gelöscht.

So steht es in den Regeln.

Lieben Gruss

Jo

 

Sorry...

Das Wort "Leseprobe" ist lediglich falsch, die Kurzgeschichte ist komplett! Dachte nur, es wäre als Zusatz angebracht! Soll ich das Wort löschen oder soll ich es doch vergessen?

 

Hallo amoremio!

Lösche es bitte in der Überschrift. Wenn Du zu Deiner Geschichte noch einen Kommenar geben möchtest, mach das in einem extra Posting - wie Deine Antwort eben.

LG

Jo

 

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