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Schneegut

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30.11.2010
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Schneegut

Tatsächlich: Der Schnee rieselt. Es gibt kein anderes Wort für das sanfte Geräusch, mit dem Milliarden sehr fester Schneekörner unablässig aufeinanderprallen. Wie feiner Sand. Die Welt versunken in einer Schneeuhr. Es muss windstill sein. Lauschend reckt sie den Kopf, nimmt sogar für einen Augenblick die Pelzmütze ab. Eine einsame Meise hackt mit ihrer Stimme auf den Frost ein. Vor Kälte schmerzen ihr die Fingerspitzen, und sie behaucht die Hände, ohne die Handschuhe auszuziehen.

„Leise rieselt der Schnee...“, plärrt plötzlich ihre innere Musikbox los. Das Lamento aus blechernen Kinderstimmen untermalt ein Standbild: kleine dunkle Gestalt auf Papiergrund. Rechts die Stämme der Bäume wie fette schwarze Pinselstriche. Eine Spur bleibt als Schatten im Weiß, das der Wind bald wieder glattstreichen mag.
Bergauf. Hartnäckig gibt das Lied den Rhythmus ihrer Schritte vor. „Laai-se riiiselt deeer ...“ Schluss jetzt! Weiße Häubchen hocken auf den Zweigen der Buchen. Sie stupst einen Ast an und löst einen Schneeanfall aus. Noch einen. Und noch einen. „Gesundheit!“, sagt sie zu dem Baum und lacht.

Schnee vorzutäuschen wäre kitschig. Watteflocken auf dem Weihnachtsbaum waren verpönt. Lametta hingegen war nicht kitschig. Allerdings nur das silberne. Das goldene schon. Den Weihnachtsbaum hatte sie immer ganz in Silber geschmückt, vom Fuß bis zur Krone: Kugeln. Lametta. Elektrische Kerzen. Auf die Spitze eine zarte silberne Hülle gesteckt, in die filigrane Muster geprägt waren. Eine geteilte exotische Frucht, so schön, dass sich ihr heute noch der Magen sehnsuchtsvoll zusammenzieht. Wie beim Märchen von der Schneekönigin. Wie wenn manchmal die Luft nach Frost und frischer Wäsche riecht. War das Ding schön oder kitschig? Schön, entscheidet sie.

Familie ist etwas, was einem zustößt. Das kann man sich nicht aussuchen. Die Familie ist immer da, auch wenn die Kinder längst aus dem Haus sind und der Ehemann (Ex-Ehemann, verbessert sie sich). Trotzdem, das schleppt man mit sich herum. Manchmal wie eine Eisenkugel am Fußgelenk, denkt sie. Unter ihren Wanderschuhen quietscht es wie Styropor. Das Knie schmerzt. Langsam sollte sie sich auf den Heimweg machen. Auch wenn sie immer noch fit ist. Mehr als manche Jungsche.

Das alte Weihnachtszeug in dem Abstellraum, der zu ihrer Neubauwohnung gehört. Die silbernen Weihnachtskugeln, die Baumspitze und das sorgfältig gekämmte Lametta, das vielleicht noch aus DDR-Zeiten stammt und über 20 Jahre alt sein könnte. 20 Jahre! Alles sorgfältig in Zeitungspapier gewickelt und in einem vergilbten Schuhkarton verstaut. Wie es sie durchzuckt hatte, als sie beim Aufräumen plötzlich die silberne Spitze in der Hand hielt. Die Weihnachtsbaumkugeln hatte sie den Kindern gegeben. Die Spitze behielt sie für sich selbst. War das sentimental? Im Grunde stört sie das nicht mehr. Dass jemand sie sentimental finden könnte.

Schließlich haben Menschen manchmal komische Neigungen. Wie ihre Tochter mit ihrem Spleen für Haushaltwaren. Früher gab es diese Geschäfte noch. Zu Weihnachten hatte Jessi ihr immer ein kleines Küchengerät geschenkt. Der Kirschentsteiner, die Zwiebelraspel, die metallischen Plätzchenformen, das kleine Ding mit dem Rädchen, von dem sie nie herausbekommen hatte, wofür es gut war. „Was tut Mutti, könnt ihrs raten? Kuchen backen, Äpfel braten“ - setzt ihre innere Spieluhr wieder ein. Blödes Ding!

Sie war nicht besonders ordentlich damals, keine gute Hausfrau. Zwei Kinder, die Arbeit, ein Mann, der lieber soff, als den Abwasch zu machen. Vielleicht hatte sie die beiden überfordert. Sie hatte es nicht besser gekonnt. Und nicht besser gewusst. „Ich wusste es nicht besser!“, versichert sie der Buche am Wegesrand. Dann kichert sie: „Schneealarm!“, hebt ihren Arm und zupft an dem wattebeladenen Ast über ihrem Kopf. Eine Dusche aus Schnee. Weiße Häufchen aus zarten Flocken auf ihrer dunkelroten Wolljacke. Weiß und rot.

Ein einziges Mal hatten sie einen Weihnachtsmann gehabt. Weil Fred es so gewollt hatte. Ein Reinfall, auf der ganzen Linie. Die Kinder hatten Angst, Jessi weinte, sie war nicht zu beruhigen. Dabei ist der Weihnachtsmann auch ein Rentner, denkt sie. Ein Rentner mit Ren-Tier. Weiß und rot. Weiß wie der Schnee. Weiß wie Watte. Rot wie ...

Frau Holle. Als Kind hatte sie sich immer gewundert, wie der Schnee, den Frau Holle unterirdisch aus den Betten schüttelte, von oben, aus dem Himmel, auf die Erde fallen konnte. Vielleicht hatte sie immer gedacht, sie sei die Goldmarie und eine weise Frau würde sie einmal für alles entschädigen. Was ungerecht gewesen war. Und ihr Bruder, der es so gut verstand, sich in Szene zu setzen, würde mit Pech überschüttet. Doch die Goldmarie war eine intrigante kleine Streberin. Wie Hannes. Goldhannes, ihr Goldbruder.

Kinderkram. Vorbei. Sie stapft weiter durch die papierne Weiße. Die Kälte zwickt ins Gesicht, zwiebelt an den Nasenlöchern. Ein freundlicher Rosenstrauch schenkt ihr eine Hagebutte. Sie verneigt sich huldvoll und sagt mit steifen Lippen „Danke“. Tiefgefrorene fruchtige Süße in Purpur. Im Weihnachtsmannton. Im Grunde, denkt sie, ist Silber auch nur eine Art Weiß. Weiß für Angeber.

 
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Willkommen hier, briefelfetzer,

das ist hübsch, so ein Häppchen mit leichter Wehmut und Erinnerung und Schnee und Küche, Stimmungsbilder hart an der Grenze zum Kitsch, aber hey, ein Frauentext zu Weihnachten! Da darf das schon mal. Man kann das ja nicht immer nur heimlich haben. :Pfeif:

Die Passage mit Frau Holle gefiel mir, weil ich mich als Kind auch gefragt habe, wie das Mädchen in den Brunnen fallen und dann über den Wolken herauskommen konnte. Mit ein wenig Fett würde das eine Hohlwelttheorie hergeben.

Gruß,
Makita.

P.S. Übrigens: Nichts zu meckern bei Rechtschreibung und Zeichensetzung. Das ist erwähnenswert.

 

Hallo briefelfetzer,

einen schönen Einstand lieferst du hier ab. Du spielst gekonnt mit Weihnachtsgefühlen, was nie wirklich kitschig wirkt, weil du den Kitsch ja als solchen entlarvst.
Trotz der Melancholie macht es Freude deiner Prota durch ihren (Gedanken)Gang zu folgen. Da hört man Uhrwerk und Schnee knirschen.

Herzlich willkommen auf kg.de :xmas:

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo briefelfetzer

Einen schönen Text hast Du da abgeliefert und es macht Spaß Deinem Prot durch Schnee und Gedanken zu folgen. Sprachlich wirklich toll erzählt.
Hätte mir nur ein bisschen mehr Handlung im Sinne einer Geschichte gewünscht, ist aber auch das Einzige was ich zu meckern habe.

Ich wünsch Dir viel Freude hier bei uns.

Viele Grüße

Mothman

 
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Eine Spur bleibt als zarter Schatten im klaren Weiß,

is nur ein ganz persönliches Empfinden, aber in diesem Teil war mir das zartschattigeklarweiß zu viel

Die Familie ist immer da, auch wenn die Kinder und der Ehemann (Ex-Ehemann, verbessert sie sich) längst aus dem Haus sind.

So hätt ichs lieber gelesen, flüssiger eben und der Witz wirkt besser.

Manchmal wie eine Eisenkugel am Fußgelenk, denkt sie.

Das Bild find ich leider öde, zu oft gelesen.

Unter ihren Wanderschuhen quietscht es wie Styropor.

Das find ich da viel besser.

„Ich wusste es nicht besser!“, versichert sie der Buche am Wegesrand.

Das find ich auch toll.

Frau Holle. Als Kind hatte sie sich immer gewundert, wie der Schnee, den Frau Holle unterirdisch aus den Betten schüttelte, von oben, aus dem Himmel, auf die Erde fallen konnte. Vielleicht hatte sie immer gedacht, sie sei die Goldmarie und eine weise Frau würde sie einmal für alles entschädigen. Was ungerecht gewesen war. Und ihr Bruder, der es so gut verstand, sich in Szene zu setzen, würde mit Pech überschüttet. Doch die Goldmarie war eine intrigante kleine Streberin. Wie Hannes. Goldhannes, ihr Goldbruder.

Den Abschnitt mag ich am liebsten.

Im Grunde, denkt sie, ist Silber auch nur eine Art Weiß. Weiß für Angeber.

und natürlich is der Schlusssatz prima

 
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liebe simone,
vielen dank für deine kritik. mit dem zarten schattigweiß das werd ich ändern, ist tatsächlich mächtig dick aufgetragen. die eisenkugel nicht, für mich stimmt das bild.
lg, anke

vielen dank für euer lob, das geht runter wie öl...
lg, anke

 

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