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Schollenklebers Niemandsland
„Che bella coppia!“ - „Was für ein schönes Paar!“, hieß es damals, bei ihrer Hochzeit, von denen, die aus allen möglichen, aber keinen persönlichen Gründen der Zeremonie beiwohnten.
„Sie hat Schlupflider!“ - „… zu dicke Waden!“ - „… einen ekelhaft fetten Bauch!“, ereiferten sich jene, die gerne mit ihr getauscht hätten; nicht, was Schlupflider und Waden, aber was Bauch und Pier-Luigi betraf: Pier-Luigi - der sich diese Touristin aus Mailand angelacht hatte; was ansich nichts Besonderes war. Das geschah jeden Sommer zig Mal; auf diese oder jene, letztlich immer auf ähnliche Weise und mit demselben Resultat. Nur eben: diesmal nicht.
Diesmal fuhr die Touristin nicht am Ende ihrer Ferien aus dem kleinen Fischerdorf am Meer nach Hause und Kuss und Schluss.
Diese da heiratete nun hier ein; meinte vielleicht sogar, sich in dem Dorf breit und auch noch wichtig machen zu können; nur, weil sie aus der Stadt kam und die Auserwählte Pier-Luigis war.
„Moglie e buoi dai paesi tuoi“, unkte ein Alter zahnlos auf der Bank unter dem zur Piazza hin offenen Bogengewölbe der Kirche sitzend, das unrasierte Kinn auf die krückstockhaltenden Hände gestützt. - „Ehefrauen und Ochsen ersteht man nur im eigenen Dorf“.
So war das immer - und so war es immer gut - gewesen.
Da wusste man, woher sie kamen. Da konnte man sicher sein, keine Überraschungen zu erleben. Da war das, was einen in diesem Tal der Winde zwischen Felsen und Meer erwartete, vorhersehbar und sogar wiederzuerkennen: wie als Kind bei Vater und Mutter zu Hause würde es werden - wie´s im Zuhause von Vater und Mutter und auch deren Eltern und deren Eltern und eben einfach immer, somit normal und einzig richtig war.
Pier-Luigi - „Miccio, der Schnurrkater“ wie sie ihn im Dorf nannten - hatte nie weder eine Touristin, noch eine Ochsenalternative ausgelassen.
Er konnte es sich leisten: braungebrannt, muskulös, jung - ein Naturbursche eben. Ihm fiel genau jene verwegene Locke in die Stirn, die einsamen Touristinnenherzen das Gefühl gab, in die Hände eines abenteuerlichen Mittelmeerpiraten gefallen zu sein.
„La belle et la bête“ … es kribbelte. Alltag und Realität waren so weit weg. In den Ferien durfte man träumen, den Traum sogar leben - und Pier-Luigis Blick brannte; brannte - nach Mehr.
Im Winter dann, in den Monaten außerhalb der Badesaison, begnügte er sich auch mit den Öchsinnen.
„Je dämlicher sie sind, umso besser. Dann machen sie alles, was du willst“, wusste Pier-Luigi.
Die Kumpels grölten und lachten, klopften ihm anerkennend auf die Schulter, wurden ganz zappelig; die Gläser kreisten, manche Trinkkumpane besabberten sich dabei, spannen in ihrer auf Sex & Wein beschränkten Phantasie das Pier-Luigi Geschehene weiter … weit über das tatsächliche Ereignis, weit über jede Grenze des guten Geschmacks hinaus.
Sie lobten und bewunderten ihn, spornten ihn an, stachelten ihn auf - und waren im Inneren neidisch auf seinen Erfolg, an dem sie sich jedoch gerne mit wärmten, solange er dauerte; denn: dass es so nicht ewig weitergehen konnte, darauf hofften sie. Insgeheim.
Nun war es also soweit: Pier-Luigi war unter der Haube - kaum zu glauben!
„Lange hält er das nicht aus. Immer mit der Gleichen…“ - davon waren sie alle überzeugt; alle in diesem Dorf, in dem das Leben nur im Sommer lebenswert zu sein scheint. Von Mai bis September. Da putzen sie sich heraus, parfümieren sich ein. Allzeit bereit.
Ab Oktober sacken Jung- und Altstiere in sich zusammen: die Haare werden kaum noch gekämmt oder gar gewaschen; die Zähne selten geputzt. Zwei schlabbrige Trainingsanzüge und eine verschlissene Windjacke genügen, um die Wintermonate zu überbrücken - und wenn es nicht regnet, dann tun es die Badeschlappen auch in dieser Jahreszeit. Plastikbadeschlappen und Socken … die Piazza ist nichts anderes als ein gemeinschaftlicher Aufenthaltsraum - und in diesen Monaten sind sie dort unter sich.
„Verreist du?“, fragen sie diejenigen, die sich fein gemacht haben, oder sie foppen: „Gehst du auf eine Hochzeit?!“
Jeder noch so bescheidene Kalauer ist gut genug, um die öde Gleichförmigkeit ihres Daseins zu unterbrechen; und wenn dieser Kalauer beim ersten Mal Erfolg hatte, wird er Teil des Standardrepertoires. Über Jahre und Generationen hinweg.
Tagsüber lehnen sie gelangweilt an den auf den Strand hochgezogenen Booten, sonnen sich im bleichen Schein der Wintersonne, plaudern …populus philosophicus: irgendeinen Dorfeklat gibt es immer. An dem hangeln sie sich voran; von These („Es heißt, dass …“) über Antithese („Ja, aber warum hat er/sie dann …?!“) bis hin zu den gewagtesten Unsinnthesen - bis hin zum Abend, wenn der Teller Nudeln auf dem Tisch steht, die Nachrichten endlich vorbei sind und die Unterhaltungsprogramme beginnen, denen sie nasepopelnd oder mit einer halb verrosteten Schere an den Fußnägeln werkelnd beiwohnen - bis zum Frühling.
Dann werden die Hausfassaden restauriert. Die Boote, mit denen sie die Touristinnen an beschauliche, nicht einsehbare Stellen der Felsenküste schippern würden, werden frisch gestrichen. Die Sommergarderobe wird aus den muffigen, von Naphtalin verpesteten Schränken geholt und in die Sonne gehängt, um den modrigen Schimmelgeruch ausdünsten zu lassen.
Sie lassen sich die Haare schneiden, kaufen eine neue Badehose, ein neues Parfüm und Zahnweiß - und nun kann der Sommer kommen, das Frischfleisch anreisen.
Dieses Mal wäre es anders. Dieses Mal war Pier-Luigi nicht dabei. Dieses Mal hatten alle eine Chance.
Mariolina - Pier-Luigis nunmehr angetraute Mailänderin - sah dem Sommer mit gemischten Gefühlen entgegen.
Auf der einen Seite sehnte sie sich danach, endlich wieder anderen, zwar ebenso fremden, aber gewiss offenherzigeren Menschen zu begegnen - andererseits hatte sie Angst.
„Ähähä, Miccio, sai …!“ - „Der Miccio, ja, das ist so einer …!“, offenbarten sie ihr hämisch kichernd.
Was für ein „So-einer“ er war, was ihr diese Anspielungen signalisieren sollten - eben: dass sie sich gar nichts einzubilden habe und schon sehen werde - das wusste sie.
Sie betrachtete sich im Spiegel und stellte fest, den Kampf wieder aufnehmen zu können. Ihr Bauch war nicht mehr „ekelhaft fett“. Das Kind war wenige Monate nach der Hochzeit geboren worden.
„Wie willst du ihn nennen?“, hatte Pier-Luigi gefragt, ihren zum Platzen gespannten Bauch streichelnd.
„Woher willst du wissen, dass es ein Junge wird?!“
„Ich will einen Sohn und einen Erben und so wird es sein!“
„Und wenn nicht?“
„Dann benutze ich sie als Köderfutter!“ - beim Anblick ihres entsetzten Gesichtes lachte er laut auf.
Solange er allein gewesen war gab es keine Probleme.
Eine Maurerarbeit hier, ein Umzug, ein Tag Feldhacken, pflanzen, ernten, Holzsägen dort - zeitweise half er in einer Bäckerei, schleppte die Steine für die Restaurationsarbeiten der alten Weinbergsmauern, heuerte ein paar Wochen auf einem Fischkutter an - irgendwas ging immer.
Das Haus, in dem sie wohnten, hatte er von seinen Eltern geerbt.
„Wir kriegen das schon hin“, meinte er zuversichtlich - und sie ließ ihre Arbeit, ihre Wohnung, ihre Familie und Freunde, ihr vertrautes Umfeld und zog zu ihm in dieses Dorf.
„Spring!“, rief er.
Sie sah die im smaragdgrünen Wasser verschwimmenden Linien seines Körpers, sein nasses Haar, die pechschwarze Locke in seiner Stirn. Die Sonne glitzerte auf den Wellen und brannte auf ihrer Haut. Das kleine Boot unter ihren Füßen schaukelte. Ihre Knie waren weich.
„Salta!“, rief er wieder - und sie sprang.
Sie liebten sich, dort, im Meer. Das dicke Sehglas der Tauchermasken verzerrte alles in eine übergroße Dimension. Der Schnorchel verstärkte das Geräusch ihrer unregelmäßigen Atemzüge unter Wasser.
Sie fühlte das Kitzeln der bei jeder Bewegung aufsteigenden Luftbläschen auf ihrer nackten Haut.
„Marino - Marino soll er heißen.“
Pier-Luigi sah sie erstaunt an. Dann erinnerte er sich, verstand und küsste sie.
„Che bel bambino!“, riefen sie entzückt, als Mariolina die ersten Male mit Marino im Kinderwagen an der Uferpromenade spazieren ging. Immer auf dem schmalen Streifen Flachland zwischen den Felsen und dem Meer auf und ab. Auf und ab. Hin und her. Wie ein wildes, im zu kleinen Käfig kreisendes, noch nicht völlig resigniertes Tier.
„Che bel bambino!“ - „Ganz der Papa … Miccetto! Ciao-ciao, Miccetto!“
„Er heißt Marino“, entgegnete Mariolina unwillig.
„Ciao, Miccetto!“, beharrten sie.
Wahrscheinlich meinten sie es gar nicht böse. Damals noch nicht.
So war`s halt. So war`s immer gewesen: der Sohn von Gianni wurde zu Giannetto und die Tochter von Maria zu Marietta.
Im Grunde hatten sie sogar recht. Viel würde sich weder von Gianni zu Giannetto, noch von Maria zu Marietta ändern. Nicht wirklich.
Die ersten Sommer brachten Erleichterung.
Pier-Luigi erwies sich als Nicht-so-einer und sie begegnete wieder Menschen, die nach kurzer Zeit wesentlich weniger fremd waren, als jene, die - ebenso, wie sie - auch in den Wintermonaten die Uferpromenade bevölkerten.
Marino war gesund und fröhlich und wuchs heran, wenn auch hauptsächlich mit ihr allein; denn nachdem der Sommer vorbei war, zog sie sich mit dem Kind in ihre Wohnung zurück.
Anders Pier-Luigi, der ständig auf der Suche nach irgendeiner bezahlten Beschäftigung war.
„Ich geh noch mal runter ins Dorf“, meinte er allabendlich. „Wer weiß … vielleicht findet sich ja eine Arbeit.“
Unten, im Dorf, landete er sehr schnell mit den alten Freunden in der Osteria. Sie erzählten, prahlten, schnitten auf.
Pier-Luigi erinnerte sich: „Ja, damals …“
Am Anfang hörten sie ihm noch zu; dann ging ihnen sein Gequatsche nur noch auf die Nerven.
Es hatte nichts mehr mit diesem von ihnen verbrachten Sommer zu tun; Schnee und Gloria, oder Susan, oder Martina von gestern. Finito und vorbei - so, wie sie es damals gehofft hatten; damals, als Pier-Luigi noch der war, der berichtete, und sie seinen Erzählungen wenig mehr entgegen zu setzen hatten als ihren versteckten Neid und viele mit sich und ihrer eigenen Hand allein verbrachte Stunden.
Nun ließen sie es ihn spüren; jede einzelne dieser beschämend einsam durchtriebenen Nächte.
„Ey, Miccio … deine Krallen sind stumpf geworden! Ab-ab nach Hause! Dein Frauchen wartet schon - das Süppchen wird kalt!“ … la minestrina quotidiana. Jeden Tag das gleiche Süppchen.
Fade, langweilige Brühe. Pflichtübung. Notlösung.
Pier-Luigi bekam die ganze Breitseite der an ein bisschen Macht gekommenen Wichtel zu spüren.
„Leckt mich am Arsch!“ - „Vaffanculo a tutti!“ … und noch ein Glas, um zu beweisen, nicht nach Hause gehen zu wollen - oder gar: zu müssen.
„Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es den bösen Nachbarn nicht gefällt“, philosophierte der Pfarrer beim soundsovielten Gläschen Wein.
„Schnauze, Don!“, knurrte Miccio.
Der Don nahm es nicht übel. Zu dieser Tageszeit nahm er nur noch höchst wenig falsch oder richtig oder sonst irgendwie auf.
„Die kannst du dir nicht entgehen lassen!“, heizten ihm die Freunde ein: „Che gran pezzo di figa!“ - ja, sie war wirklich ein tolles Weib.
Er hatte keine Wahl, wenn er seine Glaubwürdigkeit in diesem Kreis nicht vollends verlieren wollte.
„Und … wie war sie?!“, hechelten sie. Danach.
„Erst ein Glas - dann die Einzelheiten!“
Ein Glas und noch ein spendiertes Gläschen und dann ein drittes, ein viertes und immer so weiter. Monate-, jahrelang.
„Se sei sulla bici, allora pedala!“ - einmal im Sattel gilt es, in die Pedale zu treten, um nicht umzufallen. Treten, um nicht getreten zu werden. Treten, immer nach unten. Nur so geht es scheinbar voran; dort, wo sich nie etwas ändert, nie etwas bewegt. Dort, in dieser Osteria in jenem Dorf.
„Maledetti te e tuo figlio!“, verfluchte Pier-Luigi Weib und Kind an den Abenden, an denen er müde von irgendwo und aus der Weinschenke heimkehrte und Mariolina ihm damit kam, einkaufen, dies bezahlen, oder das auslösen zu müssen.
Der Kredit, den sie beim Bäcker, beim Fleischer und beim Gemüsehändler hatten, war längst überzogen. Nun kamen die Forderungen.
Pier-Luigi ging kaum noch auf die Straße und auf die Piazza, um Arbeit zu finden, denn viel häufiger lief er dabei denen in die Arme, die Geld von ihm verlangten.
Jetzt trank er zu Hause - und bald trank Mariolina mit.
„Wir verkaufen das Haus“, entschied er an einem dieser Abende.
„Und dann?“, lallte Mariolina.
„Dann werden wir weitersehen. Irgendwas geht immer.“
Nichts ging mehr.
Mit Ach und Krach schaffte er es, beim Pfarrer als Landarbeiter eingestellt zu werden und somit jene feuchte, kleine Wohnung zu beziehen, die diesem vom Pfarrer angestellten Arbeiter zustand.
Die Felder des Don sahen Pier-Luigi nie.
Aufgedunsen, verfettet und vergammelt schleppte er sich mühsam die Dorfstraße entlang, kehrte manches Mal hier, manches Mal da ein, je nachdem, wo sie ihm noch etwas ausschenkten.
„Es ist zu früh, Miccio - du kannst nicht schon am Vormittag anfangen zu saufen.“
„Was ich kann oder nicht kann, das weiß ich immer noch allein!“ - und mit einem Tritt an den erstbesten Stuhl oder den Tresen verließ er wütend das Lokal. Auf Badeschlappen. In andere Schuhe passten seine aufgequollenen Füße nicht mehr hinein.
Die einst von Pier-Luigi verschmähten Öchsinnen hatten sich inzwischen in modernen, sämtlichen Normen dieser Gesellschaft entsprechenden Ställen eingenistet, ihre soziale Pflicht erfüllt - gekalbt, gaben täglich ihre Milch und waren mit der sie umgebenden Welt im Einklang.
Manchmal ein Kribbeln, ein ungewohnt lebendiges Kribbeln zwischen ihren Schenkeln, bei dem Gedanken, Miccio - den Miccio von damals, dessentwegen sie nächtelang geheult und sich die Fingernägel abgebissen hatten, der sie nicht wollte und sich mit dieser Eingeheirateten kopulierte - diesen Miccio untergehen zu sehen …
Drei Sonderrunden auf dem Rosenkranz besänftigten schnell das gelegentlich sauer aufstoßende Gewissen.
Nun war es nichts Besonderes mehr, Miccio zu sein - und weil aus Gianni der Giannetto wurde und somit zwangsläufig aus Miccio ein Miccetto zu werden hatte, war es auch nicht besonders angenehm, Miccetto zu sein.
„Aber er hat doch gar nichts getan!“, verteidigte Mariolina ihren Sohn.
„Doch! Der ist Schuld!“ - „Wie immer!“ - „Wenn der dabei ist, dann gibt es immer nur Streit!“ - „Der ist ein Tunichtgut!“ - „Ein Beißer!“ - „Einen Maulkorb braucht man für den!“ - „Einen Maulkorb … und eine Peitsche!“, empörten sich die Öchsinnen und zerrten ihre Kälber unter ihre Röcke; fort von dem „… Bastard!“, zischte eine schwarz gekleidete, hagere Alte böse unter ihrem dunklen Schal hervor.
Marino weinte.
„Hör auf zu heulen!“, brüllte Pier-Luigi. „Mein Sohn heult nicht - zeig`s ihnen!“
Manchmal rannten sie daheim alle um den Küchentisch herum: Miccetto voran, Miccio mit einem Holzscheit hinterher und als letzte Mariolina, um das Holzscheit zu ergreifen und Marino zu beschützen.
„Hmm! Was sind wir heute aber schick!“, spotteten die Öchsinnen, als Mariolina die ersten Male mit der übergroßen Sonnenbrille auf der Straße erschien. Die Sonnenbrille … im Sommer - und bald auch im Winter.
„Die ist total neben der Kappe“, hieß es.
„Genau wie ihr Sohn. Armer Miccio! Was hat er sich da nur angeheiratet?! Kein Wunder, dass er so geworden ist!“
Blut ist dicker als Wasser und da in diesem Dorf alle mehr oder weniger blutsverwandt waren, war es also Mariolinas und Marinos Schuld.
Marino war weder dümmer, noch gewalttätiger als die anderen Dorfkinder. Zumindest: er war es anfangs nicht gewesen. Dann, als ihn erst die Mütter und danach deren Kinder davonjagten, sobald er den Spielplatz betrat, wurde er es. Langsam. Mit der Zeit.
„Spiel nicht mit dem“ wurde zu „Halt dich von dem fern“ - die Mütter waren älter, die Kinder größer geworden. Miccetto auch.
Wie vormals ihre Väter putzen sich auch diese Jungstiere nun die Zähne im Halbjahresrhythmus, kämmen sich die Haare monatsweise; tauschen ausgeleierte Trainingsanzüge gegen nach Naphtalin stinkende Sommerklamotten und erzählen sich an den Winterabenden in der Osteria, was es vom Sommer - als der einzig lebenswert erscheinenden Zeit - zu berichten gibt.
Einmal trug sogar Miccetto zum allgemeinen Gesprächsstoff bei: er hatte sich auf dem Heimweg von der Schule an die Tochter des Carabiniere heran gemacht und ihr unter den Rock gegriffen.
„Che scemo!“ - „So ein Idiot! Ausgerechnet die Tochter vom Polizisten! Der ist doch wirklich dumm wie Fischerscheiße!“, stellten seine Altersgenossen fest.
Die Öchsinnen waren außer sich: ein halbwüchsiger Junge, der einem halbwüchsigen Mädchen an die Wäsche greift … was für ein Skandal!
Wenn Giannetto und nicht Miccetto jener Junge gewesen wäre, hätten sie ihn wohl mit einer Ohrfeige oder der Verhängung einer Woche regelmäßigen Kirchgangs davon kommen lassen - nicht so im Fall von Miccetto: „Das hab ich schon immer gewusst, dass der gefährlich ist!“ - „Wir müssen die Mädchen bewachen!“ - „Einen Begleitschutz organisieren, hin zur Schule und von der Schule nach Hause zurück!“ - „Solange der frei rumläuft ist keine mehr sicher …!“
Miccetto war nach diesem Ereignis monatelang nicht mehr zu sehen. Mariolina hatte ihn daheim eingesperrt. Er tobte. Man hörte ihn bis auf die Straße.
„Siehst du - siehst du jetzt, wie gefährlich er ist?!“
Nun wussten es alle.
Mariolinas Sonnenbrille war mittlerweile zu klein geworden. Die dunklen Gläser konnten die blauen Flecken auf den Schläfen und den Wangen, die aufgeplatzte Lippe oder das angebissene Ohr nicht verstecken.
„Sie sind danach ruhiger“, beichtete sie Vincenzo, dem Milchmann, bei dem sie manchmal ihr Herz ausschüttete. Vincenzo war auch nicht von hier. Er wusste, was es bedeutete, ein Eingeheirateter zu sein.
„Es ist furchtbar … aber ich komme sonst nicht gegen ihn an - und vielleicht lässt er dann ja auch die Mädchen in Ruhe?“
Selbst Vincenzo war entsetzt. Eine Mutter mit ihrem eigenen Sohn … und doch hatte er Verständnis für sie.
„Sie ist eine arme Sau“, sagte er zu seiner Frau. „Aber sei bloß still! Wenn das die Runde macht … dann schicken sie alle drei in die Klapse!“
„Das wäre auch der richtige Platz …!“
„Wem, verdammt, tun sie was zu Leide?! Sie saufen sich zu und schlagen sich gegenseitig die Hucke voll - da gibt es hier andere, die man einsperren sollte! Wenn in diesem Scheißkaff endlich eine Bombe hochging, dann träfe es bestimmt nicht die Falschen!“
Miccio sagte nichts mehr.
Er zog schlurfend und schlürfend seinen Kreis von Bar zu Osteria, von Osteria zu Bar. Wenn er sein Quantum erreicht hatte, watschelte er auf seinen breitgelatschten Badeschlappen nach Hause, legte sich ins Bett und schnarchte.
Mariolina wurde immer irrer. Sie schaute niemandem mehr in die Augen, lief wie gehetzt durchs Dorf; begegnete man ihr an einer Engstelle in einer der alten, verwinkelten Gassen, flüchtete sie in den nächsten Hauseingang und beobachtete mit dem Blick eines wildverschreckten Tieres jede Bewegung des Vorübergehenden. Sie grüßte nicht und antwortete niemandem mehr. Irgendwann ging sie auch nicht mehr zu Vincenzo.
Miccetto hatte sich mit der Rolle des Idioten abgefunden. Er hatte sie akzeptiert. Besser, als Dorfdepp unter anderen manchmal fröhlich, als immer allein zu sein.
„Los, Miccetto: wie macht der Rapper?! Los, dreh mal eine Pirouette auf dem Kopf!“ - und Miccetto machte den Rapper, griff nach den hierfür spendierten Gläschen bis sich ihm der Kopf drehte, sie die Lust an ihm verloren und er irgendwo in eine Ecke sackte und dort liegen blieb - bis ihn der Wirt hinaus warf oder der Straßenkehrer aufweckte.
Blut war dicker als Wasser, aber nicht mehr bei Miccio, als er eines Morgens tot in seinem Bett lag.
Fötusposition. Den einen Arm unter dem Kopf verschränkt, mit der anderen Hand die über Schulter und bis zum Ohr hochgezogene Decke festhaltend. Die Beine angewinkelt. Ein Fuß schaute unter den Laken hervor. Dunkle Wollfussel und schwarze Dreckwürstchen rollten zwischen violett verfärbten Zehen.
Das Gesicht friedlich. Eingeschlafen war er. Gestern Abend. Und nicht mehr aufgewacht.
Der Don erwartete, ihn im nächsten Moment schnarchen zu hören.
„Ich dachte, du seist tot!“, hätte er zu ihm gesagt.
„Schnauze, Don Pfaff!“, wäre es zurück gekommen.
Aber es kam nichts. Kein Schnarcher. Kein Schnauze.
Aus den Ecken des Zimmers wanderte schwarzflaumiger Schimmel die Wände empor. Es stank. Süßsauer. Nach Alkohol, Pisse - und nach Miccio.
Pier-Luigis Kleider lagen über den Stuhl geworfen und auf dem Boden verstreut. Auf dem Nachtkästchen noch die letzte, nicht mehr geleerte Flasche. Über dem Bett ein großes Jesusbild. Ein vertrockneter Mimosenzweig klemmte zwischen Bild und Wand.
Daneben ein vergilbtes Foto in einem alten hölzernen Rahmen: Pier-Luigi - vor Jahren. Damals schlank, braungebrannt, strahlend. Mit Augen, die brannten; brannten - nach Mehr.
„Und nun?“, fragte ein eintretender Dörfler.
In diesem Moment rastete Mariolina aus: „Raus! Alle raus!“ - brüllte sie - „Raus! Ihr nehmt ihn mir nicht weg! Er gehört mir - mir - mir!!“
Wie eine Furie ging sie auf die Männer los - und die stolperten völlig überrumpelt aus dem Zimmer, über Dons Kutte die schmalen Stiegen hinab und raus auf die Straße.
„Und jetzt? Was machen wir jetzt?!“
„So schnell wie möglich!“, entgegnete der Arzt auf die Frage, wann die Beisetzung stattfinden solle.
„Kein Aufbahren - um Himmels Willen, nein! Der Alkohol hat ihn total zerfressen. Er besteht aus wenig mehr, als aus Flüssigkeit. Und bei dieser Hitze … wenn ihr euch nicht dranhaltet, läuft er euch in wenigen Stunden davon.“
Zu dritt mussten sie Mariolina in Schach halten. Andere drei hievten Miccio in die Kiste und schweißten die sofort zu.
Miccetto war wie vom Erdboden verschwunden.
Am nächsten Morgen war die Beerdigung. Wie üblich zog die Prozession von der Wohnung des Verstorbenen zur Kirche und nach dem Gottesdienst von der Kirche zum Friedhof.
Die Träger erzählten später in der Osteria, dass sie es bei jedem ihrer Schritte im Sarg wabern und schwappen gehört hatten. Trotz des zugeschweißten Deckels rochen sie Gestank.
Nie hatten sie sich so widerwillig untereinander abgelöst, wie bei diesem Gang - und nie waren sie alle danach so schnell nach Hause und dort unter die Dusche verschwunden, wie nach dieser Beisetzung.
An jenem Vormittag ging dort ein Mensch mit seinem Hund spazieren. Er lief schräg am Friedhof vorbei - abseits von dem mechanischen Heruntergebrummel eingebläuter Litaneien, von den in den Refrain-freien Zeiträumen böse gezischten Bemerkungen über die nicht traurig genug Trauernden; über die Witwe, deren Kleid so oder so, auf jeden Fall irgendwas irgendwie nicht war; über die Blumengestecke, die zu groß, zu klein, eben unpassend erschienen; über den Don, der heute mehr denn normaler Weise lallte und sich verhaspelte.
Hinter seinem Hund wanderte er auf schmalen Pfaden durch Klee und Löwenzahn hinauf zum Wald.
So weit hinauf, bis selbst dieses Dorf ein idyllischer Fleck der Erde zu sein scheint, weil die bunten Häuser, die bizarr-schroffe Felsenküste, das glitzernde Meer und die suchenden Kreisflüge der Möwen im azurblauen Himmel zu sehen, das Getratsche und die in ihm enthaltenen Bosheiten aber nicht mehr zu hören sind.
Dorthin, wo die Natur und demnach Gott, oder Dio, oder weiß der Teufel wer auch immer wesentlich näher sind als in den für sie errichteten Tempeln, auf den Friedhöfen, in den Prozessionszügen - und überhaupt: er war dort oben nicht allein.
Dort saß schon einer; zwischen Büschen versteckt, den Blick aufs Meer gerichtet: Miccetto - der Gewalttätige, der Verrückte.
Er war der Einzige, der an jenem Tag weinte, ganz bitterlich weinte.