Schutt und Asche und Turnschuhe
Herzogenaurach ist wie viele bedeutende Städte der Weltgeschichte aus Schweiß, Blut und Tränen gebaut. Und aus Turnschuhen. Bei der Gründung Roms hat Romulus seinen Bruder erschlagen. Es ging um eine Frau, Reichtum, Macht, um die Fügung des Schicksals. In Herzogenaurach geht es darum, dass diese kleinen Pumawichser behaupten, Rudolf Dassler habe den Schraubstollen erfunden.
Und wie das mit Lügen so ist, wenn man sie nur dreist wiederholt, kann man ein Imperium darauf bauen. Oder wie im Fall von Puma ein Imperiümchen.
Ich stehe im siebzehnten Stockwerk des Adolf-Dasslers-Towers, schlürfe an einem neonpinkfarbenen, koreanischen Energydrink und denke, dass der siebzehnte Stock so ziemlich die Endstation ist. Höher kann man hier nicht kommen, ohne adoptiert zu werden, jemanden zu heiraten oder sich einzukaufen. Der Energydrink schmeckt übrigens, da muss man die Koreaner mal loben, nach gar nichts. Die deutschen Hersteller von isotonischen Getränken hängen der Idee nach, das Gesöff sei eine Art Medizin und die müsse nun einmal ein bisschen eklig schmecken, damit der Kunde glaubt, sie wirkt. Die Koreaner sind da weiter. Warum den Kunden quälen, wenn man ihm allein durch die Farbe klar macht: Das Zeug hier wirkt! Neonpink ist die energiegeladenste Farbe des Universums. Blau macht ein bisschen melancholisch, rot geil, gelb nervös und grün beruhigt. Neonpink gehört die Zukunft.
Ich bin Chef der Marketingabteilung von adidas (kleinschreiben, ganz wichtig, zwanzig Prozent unserer Sekretärinnen fliegen im ersten Jahr raus, weil sie irgendwann adidas groß schreiben – oder ein „d“ und ein „a“ weglassen – das letzte war ein Witz, das kommt so gut wie nie vor).
Meine Zukunft ist so ziemlich vorbei.
Alles Biedenbergs Schuld, gut, vielleicht nicht alles, sagen wir, um fair zu sein, neunzig Prozent. War ein Donnerstag, zwei Monate vor der WM. Die WM ist für uns so was wie das Weihnachtsgeschäft auf Stereoiden. Als wäre man Speiseeisverkäufer in diesem Film, in dem Moses sein Volk durch die Wüste führt. Wenn sich alle nur noch von Düne zu Düne schleppen mit diesem „Gott hat mich verlassen, ich verdurste, ich brauch ein Cornetto“-Ausdruck auf dem Gesicht. Und vor der WM hat man viele Dinge im Kopf. Kampagnen, die Konkurrenz, die neue Sekretärin. Und ein Donnerstag-Abend, kurz vor fünf, ist auf keinen Fall der richtige Zeitpunkt, in dem ein Mensch wie Biedenberg ins Büro flattern darf. Hektisch zwitschernd, eine DVD nach oben gereckt, dass der Deckenventilator ihm fast die fleischige Hand abgetrennt hätte. Hätte der Ventilator es nur gemacht! Wie viel Leid wäre mir erspart geblieben!
Biedenberg spricht ungefähr wie ein Hund. Er holt vor einem Wort Luft und bellt das Ende dann hinaus. Unglaublich ermüdend. Wäre er ein Beatle, dann Ringo Starr. Biedenberg jappst also: „Chef, Chef, hier. Sofort guCKEN.“ Und weil ich das Wort „gucken“ sowieso für unfassbar hässlich halte und er das natürlich hinausbellt, bin ich sofort mit Antipathie geladen, als hätte ich zwei Stunden auf libellenflügelgrün gestarrt. Das mit Ringo Starr muss man sich übrigens merken, ich hab eine tolle Beatles-Analogie drauf, mit Yoko Ono und allem. Die bring ich auch noch. Also, bevor er die DVD überhaupt einlegen kann, hab ich schon beschlossen, alles Scheiße zu finden, was läuft. Und da zeigt er mir Bilder von einem milchgesichtigen Mulatten, der an der Seitenlinie entlang dribbelt, ein paar Flanken schlägt und wohl auch mal das eine oder andere Tor schießt.
Als das Highlight-Ding fertig ist, guckt mich Biedenberg mit seinen Bernhardiner-Augen an und strahlt über das ganze dumme Gesicht ein „Wuff Wuff“. Als hätte er im Sand der Sahara wen ausgebuddelt, zu mir geschleift und warte nun aufs Leckerli.
„Was soll das?“, frag ich. „Finnische Liga, oder was?“
„Französische“, sagt er.
„Guck ich nicht“, sag ich. „Geht’s um den Schwarzen?“
„Mulatte“, bellt Biedenberg. „Das ist halb Schwarz. Cappuccino.“
„Aha“, sage ich und will ihn nur noch loswerden, weil wenn man einmal jemanden Cappuccino bellen gehört hat, möchte man sich nur noch in ein dunkles Eckchen verkriechen und sterben.
„Der ist Deutscher!“, bernhardinert er weiter. „Kommt in die Nationalmannschaft!“
Ich zieh meine Augenbrauen fast bis zum Scheitel hoch. „Also bitte“, sag ich. „Das hätte man ja wohl gehört.“ Ich fange dann an zu reden, nur damit er nicht zu Wort kommt. Die halbe Nationalmannschaft hätten wir doch unter Vertrag, den DFB sowieso und wenn hier einer von einem Cappuccino-Deutschen aus der finnischen Liga –
„FranzösiSCH“, wuffit er.
Gehört habe, dann ja wohl ich. Er solle sich drollen, möglichst schnelle.
„Aber er hat noch keinen Schuhvertrag, soll ich nicht vielleicht mal ein Angebot-“, fragt er.
Und ich sage das dümmste Wort meines Lebens: „Nein.“
Bei der WM schießt Benjamin Okafor sieben Tore, zwar in adidas, weil wir die Nationalmannschaft ja, und so weiter, aber trotzdem. Kein Werbespot. Keine Anzeigenkampagne und schon gar kein passgefertigter Fußballschuh. Wir hatten auf Darius Mertz gesetzt, der auf der Ersatzbank immer wunderbar die Stollen in die Kamera halten konnte, während er, das Bein übers Knie gelegt, den Flankenläufen von Deutschlands neuem Helden folgen durfte. Also die Presse überschlägt sich, jeder, der zwei Sätze schreiben kann, feiert das neue wunderbare Deutschlandbild der multikulturellen Gesellschaft, der Bernhardiner jault voll Genugtuung den Mond an und ich komm mir drei Wochen lang wie ein Schwede vor, weil ich von Yoko Onos Ehemann Einläufe am Fließband bekomme. Und zwar nicht von John, den ich verehrt habe, denn John ist ja tot. Wie Lennon, okay?
Während ich vor dem Panoramafenster im siebzehnten Stock des adidas-Gebäudes stehe und nach unten gucke und mir denke, dass die Stadt so gar nichts mit Rom zu tun hat, weil man mich dort schon längst vom Tarpejischen Felsen gestoßen hätte, läuft hinter mir Biedenberg durch mein Büro und macht Schritte, von denen er hofft, sie seien genau einen Meter lang, und zählt dabei laut: „Eins, wuff, zwei, wuff, drei, wuff.“
Er kann’s gar nicht abwarten, sein neues Revier zu markieren, dabei bin ich noch nicht mal gefeuert. So gut wie, aber noch nicht ganz. Ich schaue aus dem Fenster und denke mir, dass ich ziemlich weit nach oben gekommen bin, aber auch ziemlich weit nach unten, immerhin hab ich mal Geschichte studiert, dann dreh ich mich um und sehe Biedenberg, der mit den Händen ein Viereck formt und dadurch auf eine Wand starrt.
„Was erlauben Sie sich eigentlich!“, brülle ich. „Noch bin ich nicht gefeuert! Noch nicht!“
„Doch“, sagt Biedenberg und wirft mir einen weißen Zettel auf den Schreibtisch.
Aber jetzt bin ich eigentlich schon wieder zu weit. Vorher muss man noch erklären, dass Herzogenaurach eigentlich doch wie Rom ist. Wir klauen unsere Frauen. Aber bei uns heißen die nicht alle Sabine, zufälligerweise meine Sekretärin schon. Also, so geht das auch nicht. Der Sportschuhmarkt ist vielleicht die letzte männliche Bastion überhaupt, seit es weibliche Zuhälterinnen gibt. Der allgemeine Satz geht so. „Frauen müssen hier zwar viele Stellungen beherrschen, aber nur eine Position: Sekretärin.“ Das ist ein furchtbarer Satz, der ist auch nicht von mir, der ist von John, also Yokos erstem Mann, ich hab das mit den Beatles noch gar nicht erklärt, oder?
Jedes Jahr tauschen wir unsere Sekretärinnen aus, nicht alle, aber so dreißig Prozent, das macht mit den zwanzig, die wegen Kleinschreiberei gefeuert werden, einen guten Durchsatz. Und alle Frauen in Herzogenaurach wollen eigentlich ein hohes Tier bei uns heiraten oder bei Puma oder bei diesen widerlichen ausländischen Unternehmen. Das hat John immer gesagt, der jetzt tot ist. Ich will da auch nicht so gemein sein, bestimmt sind Frauen wunderbare Turnschuhnäherinnen oder Entwicklungsstrategen. Keine Frage, aber die einzige Frau, die bei uns nicht als Sekretärin arbeitet, ist Yoko, und ich meine, wenn eine in einer Beatles-Analogie schon Yoko ist, da muss man doch gar nicht mehr viel dazu sagen, oder?
Während ich also mit meinem pinkfarbenen, koreanischen Energydrink an Biedinger vorbeimarschiere, ignoriere ich Sabine, die natürlich genau weiß, dass hier der Lotse von Bord geht, gebe ihr aber mit der linken Hand ein kompliziertes Zeichen, dass ich sie später anrufe.
So, das mit den Frauen klang eben wirklich hart, das tut mir auch ein bisschen leid. Jetzt muss man als nächstes wissen, dass Herzogenaurach zwanzigtausend Einwohner hat. Und drei weltweit operierende Konzerne. Und wir haben natürlich Schulen, Schwimmbäder und einen Haufen Kneipen. Und jede Kneipe gehört zu einer Farbe. Wir haben das Pinocchio, eine wunderbare kleine Pizzeria, bei denen der Koch den Rand mit Bläschen hinbekommt. Puma hat den Löwen (da sieht man mal wieder ihren Humor), eine furchtbar wummrige Kaschemme, und die Leute, die bei Nike arbeiten, gehen zum, was weiß ich, Koreaner.
Und weil jetzt natürlich keiner wissen durfte, dass Sabine noch mit mir redet, obwohl ich ja schon weg war, trafen wir uns am einzigen Ort, wo man ganz sicher niemanden von Adidas treffen würde (und ja, nun schreibe ich es groß!). Eben in diesem goldenen Löwen. Der goldene Löwe hat eine ein Meter sechzig hohe Decke. Und als ich da reinkam, und mich unbeholfen ducken musste, schlugen aus der Dunkelheit dieser Höhle schon Pumaaugen auf mich ein. Anscheinend erkennen sie Eindringlinge schon daran, dass man nicht den servilen Pumabücklingsgang beherrscht, den diese lichtscheuen Kreaturen mit der Muttermilch aufsaugen. Ich lächle also verhalten und mache das Gesicht, dass der hässliche Fußballer mit der Narbe gemacht hat in dem Puma-Spot, um ein Reh zu erschrecken. Keiner rührt auch nur eine Miene, bis mir einfällt, dass das ja unser Werbespot war. Dann trete ich verhalten von einem Bein aufs andere und nuschle:„Puma ist coohla!“ Und alle lachen und gucken wieder ihren verschlagenen Gesprächspartnern in die Pumaaugen und ich kann mich irgendwo in eine Nische kauern und auf Sabine warten. Es ist wirklich unmöglich, diese Pumaleute zu unterschätzen!
Und das hätte ich vielleicht vorher erzählen müssen, als ich zu diesem Pumakäfig hingelaufen bin, hielt ich kurz an einem Zeitungsstand an und da waren überall Berichte über diesen Okafor. Multi-Kulti und Underdog und Frankreich, Frankreich. Man kennt das ja. Aber eben keine Plakate. Und als ich auf eine leere Plakatfläche gestarrt habe, von der mich eigentlich der Cappuccino-Fußballer – da hab ich mich zum ersten Mal seit langem, so richtig mies gefühlt. Das war wirklich scheiße. Wobei ich nie wieder arbeiten müsste. Außer ich heirate und lass mich scheiden. Aber Sabine würde ich nicht heiraten und die Freundinnen, die ich vorher hatte, sind alle aus der Stadt. Entlassen worden.
Also Sabine: Was viele nicht wissen, die Römer kamen ja als reine Singlemannschaft nach Rom und hatten dort anfänglich, wie sie das aus Griechenland kannten (Nike ist übrigens auch nach einer Griechin benannt worden, nur mal so), hatten die da griechisch-römisch eine Weile ihren Spaß. Aber dann brauchten sie doch Frauen und haben einfach einen benachbarten Stamm überfallen und die Frauen geplündert. Wenn ich mir vorstelle, jemand würde Sabine entführen, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Sabine findet mich irgendwann in der Nische, ohne das ich ein Suchen gemerkt habe, und sie setzt sich neben mich und presst ihre Wange an meine. Und Sabine hat, das ist eine Frauensache, so eine kühle Schminke aufgelegt. Gesichtsvereisung, mir friert, während sie mich umarmt, tatsächlich ein wenig die Wange. Sie ist ein wunderbarer Mensch, mit Sicherheit, und es ist bestimmt unfair, aber dieser eine kurze Blick auf die Eis-Make-Up-Szene erklärt vollkommen, warum es beim nächsten turnusmäßigen Wechsel vorbei gewesen wäre. Ihr zu liebe. Ich meine, wenn sie keinen Job mehr hat, mit sechsundzwanzig, das wäre ja vorsintflutlich, dass sie sich dort an einen Mann bindet. Da muss ein Tapetenwechsel her, und Fernbeziehung klar, man hält das schon aus. Aber zu dem Gespräch würde es nie kommen, weil im Moment ich derjenige war, der die Stadt verlassen musste. Und sie würde ihre Misses Freeze-Wange an Biedinger reiben.
„Er kommt“, flüstert sie konspirativ. Sie mag furchtbare Schwarz-Weiß-Filme mit Trenchcoats und den Wagen, die gestaucht aussehen und zu dick.
„Wer?“, frag ich und klinge viel blöder als die Leute aus ihren Filmen.
Sie wendet die Eiswange kurz von mir ab und sagt: „Okafor“, während sie Rauch in die Höhle bläst.
„Und soll Biedinger ihn übernehmen?“, frag ich. „Verzeihung, Herr Biedinger, dein neuer Chef.“
„Ach“, seufzt sie. „Es tut mir doch auch leid. Dir ist klar, dass wir uns nach heute nicht mehr sehen können? Ich bin auch nur hergekommen, weil du mir leid tatest. Wie in dem Film mit Renè Zellweger.“
„Hm“, sag ich.
„Du hast auch noch meine CD.“
„Was ist denn mit Okafor?“, frage ich. „Macht das der Biedinger?“
„Nein, das macht die Chefin nun selbst“, sagt sie. „Hier ist der Zeitplan“, ein ausgedrucktes Office-Dokument wechselt den Besitzer. Dann drückt sie mir ihre Eiswange ein letztes Mal an die Schläfe, sagt. „Denk an die CD“ und geht.
Und da in dieser Pumahöhle, inmitten lauter Leute, die mich hassen, richtig hassen, wird mir klar, dass ich das erste Mal, seit ich in die Firma gekommen bin, ganz allein bin. Und ein bisschen fühlt sich das sehr pink an.
Ich würde nicht sagen, dass ich panisch werde. Ich würde sagen, mir wird klar, wie sehr ich es vermisse, auf einen Knopf an meinem Schreibtisch zu drücken und jemandem zu sagen, wie er mir genau helfen kann. Und dann mache ich etwas – und ich glaube, so ist auch Cäsar gestorben – ich bestelle mir, inmitten dieser feindseligen, verborgenen Horde stechender Augen etwas zu trinken. Und dann noch etwas.
In Herzogenaurach wirst du ja dazu erzogen, die andere Seite zu hassen. Aber es ist nicht so, als würde das wirklich in der Erziehung anfangen. Da ist ja keiner, der in der dritten Generation hier arbeitet, außer eben die Chefs, und die waren ja vor drei Generationen noch unter dem Dach derselben Waschküche und haben dort wie kleine Spinner mit Schraubstollen rumgemacht, in Herzogenaurach wird nicht ein einziger Turnschuh gebastelt.
Die Presse und einige nach Fuß riechende Menschenrechtsorganisationen behaupten, das geschieht in Sweatshops in den Tigerstaaten. Wo kleine Ostasiatinnen wie Rudersklaven an den Bänken sitzen und nähen. Zwanzig nebeneinander, zwanzig Reihen tief und dazu Billy Ocean hören. Wir Werbeleute wissen so etwas nicht, kannst ja keine Vision entwickeln, wenn du dabei an Billy Ocean denkst. Aber Hass drückt von oben runter. Im zwanzigsten Stock sitzt Yoko und nebelt sich kräftig mit Hass ein und das sickert dann durch die Klimaanlagen nach unten und nistet am Eingang. Wenn es in Deutschland mal wieder zu Unruhen käme, wenn Molotow-Cocktails flögen, dann – das schwöre ich – stünde, das zum Vorwand nehmend, eine Garde Mitdreißiger vor dem Puma-Outlet-Store und hätte Mollys in der Hand, bereit gegen irgendetwas, und mit irgendetwas mein ich Puma, mal richtig auf die Straße zu gehen. Weil wir gar nichts hatten. Als ich studiert habe, gab es auch mal einen Protest gegen überfüllte Hörsäle, Professoren, die sich nur um die Forschung kümmerten, gegen alles. Wir wollten auch protestierten, wir haben es wirklich versucht, aber jeder, den wir im Chor angebrüllt haben, hat einfach mitgebrüllt. Das war ein Kreislauf des Anbrüllens, aber wenn du keinen hast, den du anbrüllen kannst, bist du einfach nur ein Idiot, der brüllt.
Und das war jetzt, relativ geordnet, das, was ich besoffen der Frau erzählt habe, die auf einmal neben mir saß. Im Original war das nicht ganz so geordnet.
Die Frau, und da muss man den Feind mal loben, war wirklich erstklassig. Eine Zwergin natürlich, alle klugen, schönen Frauen sind grundsätzlich klein. Sie hatte wache Zuhör-Augen, irgendjemand hatte ihr beigebracht, unheimlich interessiert zuzusehen, wenn man spricht. Der Kopf lag etwas schräg dabei und das Haar mit diesem finnischen blond, wenn man zwar das Haar als Ganzes wahrnimmt, aber je nach Blickwinkel auch wieder einzelne Strähnen sehen kann, ohne sich darauf zu konzentrieren. Das sickert unterbewusst ein. Man hatte sie sehr gut ausgebildet, keine Frage. Ansonsten hatte sie etwas Unperfektes an sich, als hätte ein Künstler auf eine perfekte Marmorplatte Graffitis geritzt. Ich schwöre, das klang sinnvoll, als ich mir das am nächsten Morgen nach Hause wankend überlegt habe. Die Wangen waren ziemlich pausig zum Beispiel und sie hatte eine Art, den Kopf in den Nacken zu legen, wenn sie lachte. Sie lachte in Richtung Decke, und während sie lachte, konnte man ein Muttermal an ihrem Hals sehen. Kein schlimmes Ding, so ein Knubbel, an den man als Mann nur beim Rasieren denken würde, aber weil Frauen anders sind, hätte eine falsche Frau sich sicher das natürliche Kopf-in-den-Nacken-Lachen mit den Jahren abgewöhnt. Ich war betrunken, sie hörte mir zu, Pausbacken, Molotow-Cocktails, das Muttermal am Hals, ich verliebte mich auf der Stelle.
Eins weiß ich noch, was sie gesagt hat, sie hat nicht nur zugehört, einmal hat sie auch was gesagt. „Hast du gewusst, dass adidas auch in Saving Private Ryan vorkommt?“
Ich hatte skeptisch mein Glas hin und hergeschaukelt, um ihr für diesen Quatsch nicht einen verächtlichen Blick hinzuwerfen. Weil sie dann auch nichts sagte, murmelte ich blöd: „Damals gab’s doch noch keine Turnschuhe.“
„Nein, aber Panzerschrecks“, hat sie dann gesagt.
Toll ausgebildet.
Als ich mir in der Pumabar den ersten Drink bestellt habe, hatte ich hatte ja gar keinen Plan, Nur mit diesem Zettel in der Hand irgendwo den armen Cappuccino dort abzufangen und dann? An sein Herz appellieren? Ich bin Turnschuhverkäufer. Und weil ich gefeuert war, hatte ich keine Turnschuhe zu verkaufen.
Als ich wieder klar denken konnte, war ich nach einer zarten Nacht auf dem Weg nach Hause, lief über Kopfsteinpflaster, jeder Tritt tat im Hirn weh, und ich überlegte mir, warum ich die Frau so fantastisch gefunden hatte, und kam, weil ich grad über Kopfsteinpflaster lief, auf die Idee mit dem Marmor. Und erst als ich zu Hause auf dem Bett lag, fiel mir auf, dass das kleine dreckige Miststück ein Puma-Flittchen war. Sie hatte mir in der Nacht den Zettel mit Okafors Terminplan geklaut.
Und so, das weiß ich mit Sicherheit, ist Cäsar bestimmt nie verarscht worden. Ich ging also an den Kühlschrank und holte mir ein Sixpack von dem koreanischen neonpinken Wunderzeug, rieb meine Hände gegeneinander und sagte zu mir selbst: „Na, wart’s nur ab!“
Kam mir noch im selben Moment ziemlich lahm vor.
Das Problem mit dem Nachdenken war jetzt, dass ich das irgendwann verlernt habe. Das ist mir aberzogen worden, wenn man so will, denn, wenn du denkst, das hat John immer gesagt, bleibst du stehen. Und stehenbleiben geht mal gar nicht.
Als ich bei adidas angefangen hab, saß ich irgendwann in einem Flugzeug, ich war da noch ganz ein Student und fliegen war Wahnsinn, eine Stewardess kam vorbei und hatte Nüsschen und wir alle waren in unserer Jugend etwas uniformiert. Du wusstest nicht, ob der Typ, der neben dir saß und Kopfhörer im Ohr hatte, nun dein Boss oder nur der Pförtner war. Teambuilding-Maßnahme. Da hab ich das zum ersten Mal gehört mit dem Stehenbleiben.
Und Jahre später, saß ich wieder mit einem Mann in einem Flugzeug, aber weil ich schon viel länger da war, wusste ich natürlich, dass es John ist. Jetzt ist es schwer, John zu beschreiben. Er sah eher aus wie Lennon als Lennon wie Lennon ausgesehen hat. Weil wir von dem ja nicht mehr dieses Bild haben, es ist gar nicht mehr wichtig, wie der tatsächliche ausgesehen hat, sondern dass sich das Bild von ihm dem anpasst, was wir in den Köpfen haben. Er muss so aussehen wie das, für das er steht, das ist das Ströbele-Westerwelle-Prinzip. Also der echte John Lennon sah weniger wie John Lennon aus als Matthew Modine in Full Metal Jacket. Und mein John sah noch mal eher wie Lennon aus als Matthew Modine.
Er starb auf dieser zweiten Reise. Völlig absurd. Wir waren bergsteigen, das ist wichtig, weil man dort lernt, sich auf den anderen zu verlassen, und vor allem, weil man da nicht anhalten kann. Und John hätte natürlich, wenn er da schon sterben muss, am besten abstürzen sollen. So wäre es im alten Rom passiert. Dass ihn der neue John einfach nicht festhält, dass sich ein Karabinerhaken löst, eine Lawine hätte es auch getan, Biedenberg hätte ihm von hinten einen Pickel durchs Herz treiben können, aber nein, gar nichts. Herzinfarkt im Basis-Camp, als alles schon vorbei war. Hat sich ans Herz gegriffen, ist zusammengesackt, sah furchtbar elend aus und ist gestorben.
Und an diesem Tag ist mir klar geworden, warum man nicht stehenbleiben kann.
Was jetzt natürlich Mist war, weil ich zu Hause saß und nichts hatte, worauf ich zulaufen konnte, sondern nur die letzte Nacht und sechs pinkfarbene Energydrinks und eine Pumaschlampe und nicht den Hauch eines Plans.
Am nächsten Tag stehe ich mit einem leeren Karton und einem Plan im Aufzug des Adolf-Dasslers-Towers und bemühe mich darum, wie jemand auszusehen, der verbergen will, dass er zerknirscht ist. Und während in meinem Kopf ein paar Räderchen ineinander greifen und immer wieder herausrutschen, weil sie einfach nicht zusammen passen wollen, steht Yoko vor mir, schaut mich von unten an, sieht kurz nach links, während ich nach rechts schaue, und steht dann neben mir im Aufzug, während wir nach oben fahren.
Wir fahren zwei, drei Stockwerke nach oben und starren gegenüberliegende Seiten des Lifts an, bis ich zu ihr schaue und auf Zeichen von Verfall achte. Ich denke, dass der Mensch aus einem abstrakten Blickwinkel, mit einem zoologischen Interesse betrachtet, furchtbar aussieht. Eine Menge Komponenten, die nicht zusammen passen. Überflüssige Haut, seltsam geformte Ohren, Nase, Kinn, lächerliche Lippen mit kleinen Furchen darin, nutzloses Fell auf dem Kopf, Sehnen unter der Oberfläche. Wenn wir den Anblick nicht so gewöhnt wären, wir fänden ihn lächerlich.
Ich gebe mir Mühe, sie zu hassen. Wir haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Und während ich auf ihre Oberlippe starre und versuche, dort kleine Härchen auszumachen, lehnt sie sich mit dem Rücken gegen die Wand des Fahrstuhls, schaut nun auch gerade aus und sagt: „Ich vermisse ihn so sehr.“
Völlig daneben, denke ich, und schaue nach oben, Zahlen verfärben sich, während der Lift nach oben schleicht.
Ich bleibe stehen.
Spüre ihre Schulter an meinem Ellenbogen und starre in den leeren Pappkarton. „Ich auch“, sage ich.
„Kannst du mich festhalten?“, fragt sie.
„Nein“, sage ich.
„Machst du es trotzdem?“
„Nein.“
„Es tut mir so leid, wir haben die falsche Entscheidung getroffen damals.“
„Du vielleicht.“
„Sie hätten mich als Frau alleine nie akzeptiert. Es musste weitergehen“, sagt sie.
„Aber nicht so“, sage ich.
„Und jetzt gehst du?“
Ich warte bis die kleinen Zahlen auf Siebzehn verharren und sich die Tür öffnet, bevor ich „Ja, jetzt gehe ich“ sage.
Man kommt nicht höher als bis zum siebzehnten Stock des Adolf-Dassler-Towers, ohne sich einzukaufen, sich adoptieren zu lassen oder wen zu heiraten.
Natürlich verstehen Frauen Loyalität nicht. Ich musste Sabine Geld anbieten, damit sie mir noch einmal hilft. Und die CD, die ich ihr nun wie selbstverständlich, über den Schreibtisch hinschiebe, hat ein wertvolles Booklet. Dafür erspart sie mir auch ihre Eiswange. Biedenberg schaut dezent zum Fenster hinaus, während ich die Reste der letzten Jahre aus meinem Schreibtisch exhumiere und Sabine draußen Gespräche tätigt.
Es ist nicht viel, das seinen Weg in meinen Karton findet, aber es dauert unter Seufzen und Festkrallen bestimmt eine Viertelstunde. Biedenberg wird nervös, weil ihn niemand Gassi führt. Und als ich das Büro verlasse, nickt mir Sabine knapp zu und versteckt ein weißes Office-Dokument in meinem Karton.
Ich stehe am Bahnhof Herzogenaurach und warte auf den Inter-Regio „Fritz Walter“ aus München und weil ich vorhin koreanisch essen war, brennt mir etwas im Rachen, das ich nicht loswerden kann. Gleich wird der Zug vorfahren, ein milchgesichtiger Cappucino-Fußballer wird aussteigen und ich werde ihm die Hand geben und sagen: „Guten Tag, Herr Okafor, schön, dass sie den Zug früher nehmen konnten.“
Drei Stunden später sitze ich auf einer Bank am Bahnhof und schaue mir an, wie sich Yoko und ihr Mann die Beine in den Bauch stehen, während nur ein paar Schritte weiter, ein Pumaweibchen nervös seine Kreise zieht. Ich stehe auf und schleiche mich von hinten an das Flittchen heran, das mich so reinlegen wollte, aber irgendwie bin ich schon lange stehen geblieben. Irgendetwas ist ganz anders, und als ich endlich bei ihr angekommen bin, hängen meine Schultern durch und mein Gesicht ist nicht mehr straff und stark, wie es sein sollte. „Er kommt nicht mehr, hat vor vierzig Minuten bei Nike unterschrieben“, sage ich.
Sie fährt herum und starrt mich an, den Körper zum Sprung gespannt – ich neide es ihr -, sie faucht: „Es war nichts Persönliches.“
„Doch war es.“ Ich drehe mich um.
„Du bist jetzt bei Nike?“, fragt sie.
„Nein.“
„Dann können wir was trinken gehen?“
„Nicht in tausend Jahren“, sag ich und lächle dabei matt.
Herzogenaurach ist vielleicht doch wie Rom. Es liegt in Schutt und Asche.