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- 22.12.2008
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Schutt und Trümmer
Ging ich letzthin hinaus in die Natur, weil ich dort meine Seele schweifen lassen kann. Der Tag war frisch, der Sommer übergab das Zepter erst kürzlich dem Herbst. Wohl vor zwei, drei Tagen. Es erschien mir, als wäre es tatsächlich ein Kampf. Der Sommer bäumte sich ein letztes mal auf. Die Sonnenstrahlen streichelten mein Gemüt, doch sie konnten mich nicht mehr wärmen. Da hörte ich wie sich der Herbst auf leisen Pfoten anschlich, dieses kühle Pfeifen des Windes der bald alle Blätter mitnehmen wird. Der jeden Morgen den Nebel in die Täler bläst. Der unermüdlich Regen bringt der nicht mehr aufhören mag.
Am besagten Tag, war mir die unerwartete Kälte wie ein Gefängnis. Die warmen Kleider engten ein und ich wollte noch einmal dem vergangenen Sommer huldigen. Musste am Feierabend mit einem Befreiungsschlag hinaus in die Kälte, nur mein dünner Traineranzug als Schutz. Doch mit jedem Schritt, mit jeder Bewegung und jedem Atemzug wurde mir wärmer. Die Erinnerungen an einen wunderbaren Sommer taten ihr übriges und ich fühlte mich rundum wohl. So stapfte ich weg von meinem Dorf, den Berg hinauf, Richtung Wald. Dort in dieser riesigen Kathedrale der Natur, überkam mich ein metaphysisches Schaudern. Jeder Stamm eine Säule, darüber ein beeindruckendes Blätterdach und dazwischen Schatten die wie vergessene Seelen umher huschten. Hier und dort vernahm ich ein Rascheln. Ich kam an Lichtungen vorbei, gefüllt mit allen Grünvariationen. Mein Auge erblickte dazwischen Beeren von schwarz, von dunkelrot, von kräftigem Weinrot. Alles schien so dahingestreut, so natürlich gewachsen und ist doch wunderbar komponiert. Offensichtlich ein komplexes System indem alles nach einem Platz an der Sonne strebt. Zwischen diesen Eindrücken kamen mir immer wieder die erschütternden Bilder meiner urbanen Wirklichkeit in den Sinn. Wie dort unten alles sauber ist. Wie diese sterilen Betonwände die Sonne verschlucken. Wie dort überall Rechtecke vorherrschen und hier alles geschwungen ist. Hier ist man alleine, doch man fühlt sich wichtig, dort unten ist man anonym, inmitten von Menschen und doch einsam. Tief versunken in mir selbst, staunend über diesen wunderbaren Wald, hingerissen von der subtilen Ordnung, setzte ich einen Schritt vor den anderen. So kommt man auch vorwärts. Man muss nicht hasten, darf sich auch Zeit lassen. Darf es einfach geschehen lassen. Da und dort staunend stehen bleiben, die feuchte, von faulendem Holz getränkte Luft einatmen und darin den Sinn des Sterben und Lebens zugleich erahnen. Als ich um eine scharfe Kurve bog, offenbarte sich mir ein merkwürdiges Schauspiel. Tief im Wald, hinter den Stämmen und Ästen, leuchtete ein grelloranges Licht. Wie von einem Feuer, wie giftig glühendes Magma, wie das verlockende Lichtspiel eines Jahrmarktes. Es war magisch und es zog mich mit schnellen Schritten zum Ursprung dieses betörenden Leuchtens. Als ich aus dem Wald hinaus trat sah ich wie die Sonne im Sterben lag, wie sie den ganzen Horizont mit ihrem Blut tränkte. Das war also der Ursprung dieses Lichtes zwischen Gewesen und Sein. Dieser flüchtige Rubin, liess mich erstarren und ich fühlte wie Zeit und Raum sich in diesem Moment auflösten. Ich ahnte fern, dass darin die Essenz des Lebens liegt.
Als ich wieder im Begriff meiner selbst war, sah ich mich um und nahm die surreale Kulisse meiner Umgebung überhaupt erst wahr. Ich stand auf einer Fussballfeld grossen, planen Fläche. In einiger Distanz stand ein Bagger. Als ich den Schutt unter meinen Füssen genauer untersuchte, stellte sich heraus, dass es sich dabei um den Abfall, der beim Errichten der Häuser im Tal angefallen war, handeln muss. Ich lief bis zum Rand der Fläche und stand an einem ungefähr zehn Meter hohen Abhang. Da angekommen, drang es mich, die Ausmasse des aufgeschichteten Bauschuttes, von unten zu bestaunen. Also kletterte, rutschte und schlussendlich stürzte ich den Abhang hinunter. Mein Aufprall wurde unten vom hohen Gras gebremst und ich war heilfroh, ohne nennenswerte Verletzungen aufgeschlagen zu haben. Ich rappelte mich auf, hob meinen Blick und blieb eine zeitlang andächtig stehen. In Anbetracht des Trümmerhaufens erzitterte ich. Die Sauberkeit dort unten im Tal, in meinem Dorf hat einen hohen Preis. Die ganze Strenge ist erkauft durch dieses Chaos an Ziegelsteinen, Backsteinen, Kies, Schotter, Zement und Betonstücken. Dieser Schutt ist nicht giftig, aber eben überflüssig. Im menschlichen Streben nach Perfektion, entstehen kleine Räume in denen Menschen Komfort und Sicherheit geniessen können. Dort ist alles Chaos verbannt und eine sonderbare Ordnung beherrscht die Aussicht. In dieser Ordnung sind meine Gedanken gebannt, dort unten drehen sie sich um sich selbst und lehnen sich gegenseitig ab. Sie sind selbst gegen mich, weil ich einfach nie Teil dieser Ordnung wurde. So bin ich mit meinen Sinnen gebannt in den strengen Formen der Ordnung, aber mit meinem Herzen bin ich demütig geneigt in Anbetracht der funktionierenden, meine Sinne überfordernden Komplexität der Existenz aller Dinge. Denn alles ruht in sich, aber worin ruhe ich? Denn nur wo die Ruhe ist, werde ich meinen Frieden finden. Nicht im Stillstand, sondern in der Akzeptanz meiner Unzulänglichkeiten liegt das Glück.
Endlich entriss ich meine Blicke diesem Trümmerhaufen. Es war schon dunkel und ich musste endlich wieder zurück nach Hause. Nach einigem Gehen tauchte vor mir das Leuchten meines Dorfes auf. Darüber waren schwach die Sterne zu erkennen.
Erstaunlich.