Schwätz deutlich
Schwätz deutlich
von M. Glass
Stille. Schweigen. Ruhe im Haus Gottes.
Lebendige Gespräche erstarren, die Gedanken, welche man zuvor noch munter austauschte, verstummen, das Kramen in den Taschen wurde unterbunden, das Zappeln der Kinder unterdrückt. Keiner wagt die Stille zu stören, das Schweigen zu lösen und die Ruhe zu durchbrechen. Nur gelegentlich hört man einen Windstoß, der an den kalten Mauerwerk vorbeifließt und an das monotone Summen der Beleuchtung hat sich die Gemeinde schon gewöhnt. Alle warten gespannt bis der alte Mann in seiner Kutte irgendetwas sagt. Mühsam beschreitet er die Treppen, erklimmt seinen Platz hinter dem Altar. So oft ist er diesen Weg schon gegangen und es könnte der Eindruck entstehen, dass es ihm mit jedem Mal schwerer fällt. Doch er wird den Weg nie wieder gehen, denn heute hält er keine Predigt, keine Segnung, keine Danksagung. Heute verabschiedet er sich.
Zu diesem Anlass hat sich die ganze Gemeinde versammelt. Ob heilig oder scheinheilig, ob reich oder arm, ob schlau oder dumm. Alle sind sie gekommen. Alle, bis auf den Bürgermeister.
Der Pfarrer blickt auf seinen langjährigen Dienst in dieser Kirche zurück. Es ist ihm bewusst, dass die Kirche bei den Jugendlichen nicht mehr allzu viel Anklang findet, aber wenn man seit dutzenden von Jahren immer und immer wieder die selbe Predigt hält, wird man in seinen letzten Jahren nicht mehr viel an den gewohnten Ritualien ändern wollen und so ist es für ihn belanglos, wenn die meisten Heranwachsenden sich mit anderen Dingen des Lebens beschäftigen. Sicherlich ist es ihm ein Dorn im Auge, aber was ist schon ein Dorn in einem blindem Auge?
Die zuvor so diszipliniert eingehaltene Stille verwandelt sich in eine ungeduldige Unruhe. Eine Unruhe, die vereinzelt bei aufmerksamen Zuhörern für Empörung sorgt, aber für die Gemeinde eine Erleichterung darstellt. Sich der Sprache zu enthalten, ist eine Kunst. Für die meisten hier wohl eine sehr kurze, denn dann wird sie zur Qual. Doch wenn die Alteingesessenen mit Mühe das Wort des Alten zu verstehen versuchen und die Menge ihr Bedürfnis zu Reden befriedigt, so fährt der Geistige ungeschoren fort mit seiner Rede, denn die Unruhe prallt an seinem gehörlosen Kopf ab, wie damals die Pfeile an der Kirchenwand.
Wenn es zuvor eine allmähliche Veränderung der Lautstärke in der Kirche gegeben hat, dann folgt nun ein Schnitt im Geschehen. Die schweren Tore schließen sich mit einem dumpfen, aber lautem Geräusch, welches an den Wänden verstärkt wird und zurückhallt, wie das Echo in einer Höhle. Wo behaarte Hinterköpfe zu sehen waren, blicken jetzt neugierige Gesichter hervor, denn sie wollen wissen, wer sie beim Stören gestört hat. Auch der Pfarrer der bis jetzt keinerlei Störung empfunden hatte, lauscht jetzt auf, weniger, weil er das Geräusch des Tores vernahm, viel mehr wurde er durch den Luftzug, der ihn schaudert, aufgeschreckt. Ohne zu sehen, wusste er sofort: Es ist der Bürgermeister.
Nun realisiert der Pfarrer, dass die Gemeinde einem Störenfried mehr Aufmerksamkeit schenkt als einem Mann hinter einem Altar. Doch da fragt er sich, warum die Gemeinde dann überhaupt so zahlreich erschienen ist. Wahrscheinlich haben sie etwas geahnt.
Mit dieser Einsicht beendet der Pfarrer seine Rede und lässt den Neuankömmling, den Störenfried zu Wort. Doch vorher muss dieser zum Altar gelangen und das geht nicht ohne die Blicke der Gemeinde auf sich zu ziehen. Er begegnet freundlichen Gesten mit einem Gruß und wehrt eher Unfreundliche mit einer Drehung des Kopfes ab. Denn im Gegensatz zum Herrn Pfarrer sieht der Bürgermeister ausgezeichnet und verfügt über ein exzellentes Gehör. So schnappt er jedes böswilliges Lästern, jeglichen Kommentar auf und so nimmt er jeden böswilligen Blick, jegliches Handzeichen wahr. Die Wahrnehmung stiehlt ihm die Zeit zur Vernunft, dem Raum zum Denken. Und so spricht er unbedacht und ist beschäftigt sein Publikum zu beobachten ohne zu merken, dass auch er beobachtet wird.
Die letzte Reihe vermag nur seine Silhouette zu beschreiben. Für Näheres sitzen sie zu fern. Die meisten in der Mitte kennen ihn, sind sich seiner Gestalt bewusst. Er spricht deutlich und verständlich, so dass die Mitte hört, was er da sagt. Nur die, die im vorderen Abteil, konnten die leichte Rötung im rundem Gesicht des Bürgermeisters erkennen und die Schweißperlen fließen sehen. Die Wörter sind hier sehr laut und stark, besonders wenn er sagt, er sei der Erste gewesen, der Platz nahm im neuem Beichtstuhl der Kirche. Und so laut und stark seine Stimme klingt, so laut und stark kommt die Kugel, die ihn zu Boden reißt, geflogen.
Der Bürgermeister fällt, stürzt ohne Halt, schlägt auf den kalten, harten Stein und versucht vergeblich nach Luft zu ringen, denn es war ihm möglich. Der Schuss hat nicht etwa seinen Kopf getroffen, sondern seinen Hals. Für ihn ist es jedoch nicht von Bedeutung, darüber nachzudenken, ob es besser gewesen wäre, es hätte ihm die Kugel in den Kopf getroffen. Nein. Er denkt anders. Er denkt richtig. Er denkt und weiß jetzt mehr als zuvor. Er weiß, dass er etwas Falsches gesagt hat und dass er es lieber hätte sein lassen sollen. Aber es war zu spät. Alles ist schon passiert. Nichts von all dem ist rückgängig zu machen.
Von den Schreien der Gemeinde vernimmt er nur ein leises Beben. Das letzte, was seine Ohren wahrgenommen hatten, ist die Kugel gewesen. Jetzt verschwimmen die Stimmen und Laute werden leise. Bevor er die Lider schließen kann, wird im Schwarz vor Augen. Die Gemeinde, die Leute, alle wissen sie es. Es ist nicht der Pfarrer, der sich heute verabschiedet hat.
Er hat es schon immer gehasst. Alle wussten es. Schon zu Schulzeiten wollte er es nie tun. Niemals wäre er freiwillig diesen Schritt gegangen, aber er musste. Es blieb ihn nichts anderes übrig. Vergeblich versuchte er Ausreden zu finden, um dem zu entgehen, das zu meiden, was er nicht verstand. Als er jedoch lernte zu sündigen, da hat er erkannt, was es bedeutet, den Schritt zu gehen, den Fuß in den Beichtstuhl zu setzen.
Der Pfarrer erinnert sich. Die Stimme. Er kennt sie, denn damals konnte er noch hören, sehr gut sogar. Die Stimme, die zu ihm sprach, war heiser und unterdrückt, so gehemmt, als wäre der Sprecher zuvor gewürgt worden, aber genau das Gegenteil war der Fall.
Das Problem war einfach. Die Lösung zu schwer, obwohl sie so einfach hätte sein können. Sie hatte ihn gesehen. Sie hat es gewusst. Wäre er damals nicht so gierig gewesen wie er es später war, hätte er es vielleicht nicht getan. Aber er war es gewesen und er hat es getan, er hat es sich einfach genommen, die Bemühungen vieler Leute, die Spenden für das Waisenheim. Alleine, ungesehen, wäre es schlimm gewesen, aber dabei erwischt zu werden, dass war ein Problem, das gelöst werden musste und vor allem möglichst schnell. Am besten sofort. Stehend, die Augen weit aufgerissen, nichts wissend und erschrocken, hielt er die Scheine in seiner Hand. Die Gier verwehrte ihm den Gedanken, das Geld einfach wieder in die Büchse zurückzulegen. Zu sehr war er von den finanziellen Möglichkeiten, die ihm das, was zwischen seinen Fingern klemmte, fasziniert. Lange genug hat er auf solch eine Chance gewartet und jetzt, da sie greifbar nahe war, wollte er sie sich nicht nehmen lassen, nicht von ihr. Dieser Gedanke ist dem Mädchen zum Verhängnis geworden, hilflos, wehrlos, wie sie war. Zwar legte er das zuvor Genommen zurück, aber nur um die Hände zu befreien. Das war seine Lösung. In diesem Moment erschien ihm das für eine gute Idee, doch schon im nächstem Augenblick bereute er seine Tat. Völlig frei von Gefühlen ist er auf sie zugekommen, mit derselben Angst, die sie empfand, hat er sie dann gehalten. Er war nicht er selbst. Er erkannte sich nicht mehr und so schnell er die Lösung des Problems angegangen war, so schnell hat er von ihr abgelassen. Doch sie war zu sehr geschockt, als das sie sich über dessen Verhalten wundern, sich über die Erleichterung freuen hätte können. Mit sich selbst ringend, zwischen Gier und Verstand gefangen, blickte er auf sie herab. Er stand regungslos da, sich fragend, was wohl das Richtige wäre. Was sollte er jetzt nur tun? Er hatte keine Ahnung. Er war hilflos, doch ihm wurde geholfen. Die Hilfe schrie und befahl, das zu vollenden, was er begonnen hatte und als er nicht handelte, da tat sein Freund es selbst.
Der Pfarrer erinnert sich. Die Stimme. Er kennt sie, er kennt sie gut. Er vernachlässigt all die Aufregung in der Kirche, das Geschrei, all die Angst und Furcht welche mit dem Schuss einher gezogen ist, all die Mütter, wie sie ihren Kindern die Augen und Ohren zu halten, all die Flüchtenden, all die, die hinter Bänken Schutz suchen. Sicher hilft ihm dabei seine Taubheit, aber seine nahezu blinden Augen erlauben ihn einen Blick auf den Mund des Bürgermeisters. Er versucht die Stimme auf die Lippen des Gestürzten zu projizieren. Sie passt. Er war es, der als erster den neuen Beichtstuhl betreten hatte, er war es, der diese schlimme Tat beichtete, er war es, der um Vergebung für seine Sünden bat, dabei hatte er doch gar nichts getan. Vielleicht war seine Handlungsunfähigkeit seine Tat, aber es selbst hat keine Sünde begangen. Es war sein Freund und dieser hatte mit diesem Tage wieder eine Sünde mehr. Diesmal tötete er nicht aus Gier, sondern aus Rache. Er wollte nicht, dass es alle wissen und als der Pfarrer sagte, dass der erste im neuen Beichtstuhl über einen Mord erzählte, da wusste er, was geschehen war. Und da wollte er alles ändern, rückgängig machen. Er konnte aber nicht und so erlischt erneut ein Leben.