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Schwarze Augen
»Kathrin?« Es ist das Erste, was mir einfällt.
Und ihre Antwort kommt wie die Erlösung: »Ja? Gustav?«
Ich huste und meine Brust schmerzt. Ich würge irgendetwas hervor, ich weiß nicht was, es ist eklig, weich, fühlt sich auf meiner Zunge an wie Wackelpudding.
Mein Arm tut weh und ich kann ihn nicht richtig bewegen.
»Wo bin ich?«, bringe ich heraus. Meine Stimme...
»Im Krankenhaus.«
»Was... ist passiert?« So schwer, alle Gedanken zusammenzubringen. Im Krankenhaus? Warum?
»Wir wissen es nicht...«, sie unterdrückt mühsam ein Schluchzen, warum? »Du hattest einen Unfall, heißt es.«
Ein Unfall? Wann? Wie lange ist das her? Wieder huste ich. »Kathrin?«
»Ja?«
Warum antwortest du nicht?
»Ja?«, fragt sie erneut.
Rede! Beweg deinen Mund! »Wann... ist das passiert?«, würge ich hervor.
»Vor über zwei Monaten.«
Zwei Monate?
Mein Arm... ich kann ihn nicht bewegen... ist er weg? »Mein Arm«, rufe ich und versuche aufzustehen. Irgendjemand drückt mich sanft zurück ins feuchte, heiße Bett, ins vollgeschwitzte Kissen.
»Ruhig«, sagt eine tiefe Stimme.
»Kathrin?«, rufe ich. »Warum kann ich meine Augen nicht aufmachen?«
Sie weint. Leise erst, doch ich höre es deutlich.
»Kathrin?«
»Deine Augen... sind offen, Gustav«, flüstert sie.
Dunkelheit.
»Papa?«
»Ja, Liebes?«
»Wie geht es dir?«
»Es geht mir gut, Tamara.«
»Kannst du mich wieder sehen?«
»Nein, aber ich weiß, dass du da bist.«
»Wie viele Finger halte ich hoch?«
»Fünf?«
Sie lacht. Es sind immer fünf Finger, die man hochhält.
Ich kann meinen linken Arm nicht mehr bewegen. Aber ich kann sowieso nicht mehr schreiben, weil ich die Buchstaben nicht sehen kann. Aber ich hätte nie gedacht, dass es so schwer sein könnte, mit Rechts zu essen. Einen Löffel zu halten. Oder eine Gabel. Die meisten Menschen essen mit rechts. Nur ich habe meine Probleme damit.
Mein linker Arm ist nicht kaputt, aber ich habe keine Kraft mehr darin. Manchmal befühle ich ihn mit der anderen Hand, aber ich spüre nichts. Er fühlt sich tot an. Kalt. Eklig. Als würde er nicht mir gehören. Sondern niemandem. Und er wird dünner und dünner. Die Muskeln bauen schnell ab, wenn man sie nicht mehr benutzt.
Wenn ich mich nur erinnern könnte... erinnern daran, was passierte.
Tamara krabbelt auf meinen Schoß und umarmt mich. Ihr Körper fühlt sich warm an. Schwer ist sie geworden. Ob sie auch gewachsen ist?
»Papa, in der Schule erzählen sie von dir.«
»Was erzählen sie denn?«
»Das es ein Wunder ist, dass du wieder gesund geworden bist.«
»Ja«, sage ich und habe Mühe, nicht zu weinen.
Um mich Schwärze.
Nacht.
Ich gebe mir Mühe, nicht zu laut zu sein, aber sie hört es trotzdem.
»Was ist denn?«, fragt sie mich und wischt mir die Wangen trocken.
»Ich habe geträumt«, erzähle ich in die Dunkelheit hinein.
»Wovon?«, fragt sie.
»Da war ein Haus. Ein Schloss, mit großen Türmen, dunklen Fenstern. Und Feuer. Und ich ging hinein, ins Innere. Und da war ein Fest.«
Feuer. Rauch. Hitze. Glut.
»Kam ich auch darin vor?«
»Nein. Es waren Kreaturen. Merkwürdige Kreaturen. Sie sahen mich an und waren erschrocken, mich zu sehen.«
Dunkle Augen. Lange Zungen. Braune Schuppen. Rote Münder. Spitze Zähne.
»Es war nur ein Traum.«
Licht.
»Ich habe… gesehen«, murmle ich und weine weiter.
Sie kann nichts darauf sagen und drückt mich fester.
Ein grauer Film vor meinen Augen.
»Das Essen steht vor dir.«
»Danke.«
Ich nehme den Löffel in die rechte Hand. Es riecht nach Gemüsebrühe. Ich schmecke klein gehackte Karotten. Petersilie. Pfeffer. Salz. Es ist gut.
Im Hintergrund tickt unsere große Wanduhr. Ich habe sie vorher nie gehört. Wenn Tamara über den Teppich läuft, dann klingen ihre Schritte dumpf, wenn sie über Parkett läuft, dann klingen sie heller. Ich weiß jetzt besser als früher, wo im Haus sie sich aufhält.
»Mama war beim Friseur«, sagt Tamara.
Ich weiß es längst, habe den neuen Duft ihrer Haare schon eingesogen, als sie durch die Haustür betrat, habe mit meinen Fingern über ihren Kopf gestrichen. Nur die Farbe musste sie mir beschreiben.
»Sie sieht schön aus«, sagt Tamara.
Auch das weiß ich längst.
Wieder nehme ich einen Löffel Suppe.
»Wie war es in der Schule, Tamar...?«
Da ist etwas. Da IST etwas. Ich... sehe es. Sah es. Es ist... weg.
»Gustav?«, fragt Kathrin.
»Papa?«, fragt Tamara.
»Es ist... nichts«, sage ich. Ich muss mich geirrt haben. Vielleicht nur eine... Täuschung. Mein Gehirn gaukelt mir dumme Dinge vor, Dinge, die längst nicht mehr da sind. Es kann sich nicht daran gewöhnen, dass ich nicht mehr sehe.
Wieder nehme ich einen Löffel Suppe.
Dann sehe ich es wieder. Deutlich und scharf. In dem Grau, das mein Blickfeld geworden ist. Die Kreatur ist groß, fast mannshoch. Mit dunklen Augen starrt sie mich an, lauernd, wachsam. Ihre Bewegungen sind echsenartig, langsam, abgehakt. Die Ohren spitz, die Haut schuppig, braun und dunkel, die Zunge feuerrot und dünn, tastend schiebt sie sich aus dem Mund zwischen spitzen, gelben Zähnen.
Sie verharrt, starrt mich weiter an.
Ich weiche zurück, spüre, wie ich falle, schlage auf den Boden, schreie, werfe meine Hände in die Luft, schütze mein Gesicht, schütze meine Augen und...
... Dunkelheit.
»Gustav?«
Das Grau ist zurück. Ich spüre Hände an mir, wehre mich im Reflex und schlage alles weg, was mich berührt.
Jemand schreit. Kathrin!
»Was?«, keuche ich.
»Papa«, sagt Tamara. »Papa.« Es klingt enttäuscht. Traurig.
Jemand neben mir atmet schwer.
Was ist hier los? Ich taste mit meinen Fingen über den Boden. »Kathrin? Was ist passiert?«
Wo bin ich? Der Teppich...
Wo bin ich?
»Kathrin?«, schreie ich.
Schwarz.
Schwarz ist das Auge, das mich ansieht. Tiefschwarz. Die Iris schimmert dunkel. Das Auge nähert sich mir, kommt auf mich zu, ich versinke darin, bin gelähmt von seinem Blick. Näher, näher, immer näher, ich verschwinde darin, löse mich darin auf, werde zur Schwärze selbst...
Kälte auf meiner Stirn.
Ich öffne die Augen, die Dunkelheit bleibt. Das Auge - verschwunden.
Ich taste den nassen Lappen, der meinen Kopf kühlt.
»Kathrin?«, rufe ich.
»Gustav?« Ich höre Schritte (ihre Schritte auf schwerem, dichtem Teppich - das Wohnzimmer!). »Wie geht es dir?«
»Was... ist passiert?«, frage ich.
»Du bist ohnmächtig geworden«, erzählt sie mit schneller Stimme. »Beim Essen. Du hast geschrieen.«
»Wie lange war ich ohnmächtig?«
»Nur ein paar Minuten«, sagt Kathrin. »Wir haben dich aufs Sofa gelegt. Wie fühlst du dich?«
»Gut«, antworte ich. »Kopfschmerzen, mehr nicht.«
»Ich werde den Arzt anrufen«, sagt Kathrin.
»Ja.« Sie geht zum Telefon.
»Papa?« Ich habe gar nicht gewusst, dass Tamara da ist.
»Ja, Liebes?«
»Mama hat ein blaues Auge.«
Grau und grau.
Manchmal zieht ein großer Schatten vorbei, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schiebt. Es riecht nach Frühling, nach frischen Dingen. Hätte ich nur den Blüten mehr Beachtung geschenkt, hätte ich doch nur gelernt, wie die Blüte, die da so herrlich riecht, aussieht. Mein Tee schmeckt nach Zimt, die Reste vom Winter werden überall verzehrt. Hier draußen und in unserem Haus.
Ich höre Tamara durch das Gras laufen. Die Sonne leckt an meinem Gesicht.
Die dunklen Augen sind wieder da und starren mich an. Wie viele es doch geworden sind.
Ich versuche, nicht zurückzublicken und konzentriere mich ganz auf das Grau um mich.
Die Echsenwesen bewegen sich langsam und ohne Laut. Fast ist es, als suchen sie meinen Blick. Neugierig, gespannt, lauernd. Mit ihren schwarzen Augen.
»Tamara«, sage ich heiser.
Sie kommt zu mir gelaufen. »Ja, Papa?«
»Setz dich auf meinen Schoß«, bitte ich sie und sie gehorcht ohne Murren. Ich umarme sie fest.
Die Echsenwesen kommen näher, lecken mit ihren Zungen, starren.
Ihre Kiefer bewegen sich, als würden sie reden, aber ich höre keinen Ton.
Könnte ich doch nur meine Augen schließen.
Grelle Dunkelheit.
Die ganzen Geräusche bringen mich fast zur Verzweiflung. Hupen, Schreien, Motorenlärm, Hunderte von Schritten.
»Na, das ist doch wohl was«, hat der Arzt gesagt, als ich den Gummiball mit meiner linken Hand zusammendrücken konnte.
Ja, das ist was! Meine Kraft kommt langsam zurück. Und mein Gefühl. Mein linker Arm und meine Finger kribbeln. Ich spüre, dass sie sich bewegen - auf meinen Befehl hin.
Nur meine Augen sind noch immer nutzlos.
»Wird das wieder?«, habe ich gefragt und keine Antwort gekriegt.
Kathrin hält meine linke Hand und ich spüre ihren sanften Druck. Ich kann mir denken, dass sie lächelt.
»Wir stehen an der Ampel«, sagt sie. »Dort drüben ist ein Schuhgeschäft. Und daneben die Bücherei.« Sie erzählt mir immer alles, damit ich mich erinnern kann. »Es sind nur noch ein paar Minuten zum Auto.«
Ich nicke. Hier ist einfach zu viel los. Meine Hand zittert.
Sie kommen aus dem Nichts.
Es sind so viele wie nie. Lautlos eilen sie auf mich zu, mit schnellen, aber ungelenken Bewegungen, ihre Echsenkörper steif und braun. Sie strecken ihre verhornten Finger aus.
Nein! Ich reiße mich los und flüchte.
Die schwarzen Augen. Die schwarzen Augen.
Sie holen mich ein, laufen neben mir her, lecken mit ihren Zungen nach mir. Einer streckt seine Hand nach mir aus.
Nein!
Nei...
Dunkelheit.
Ich höre ein Piepsen. Gurgeln. Pumpen.
Ich will meine Augen öffnen, doch es geht nicht.
Dann erinnere ich mich.
»Gustav?« Es ist Kathrins Stimme, ganz schwach und leise.
»Ja?«, würge ich hervor. Mein Körper fühlt sich leicht an, so als hätte er kein Gewicht. Ich kann meine Arme nicht bewegen. Und auch meine Beine nicht.
»Was...?«
»Du hattest wieder einen Unfall«, erzählt Kathrin und weint. »Du bist einfach auf die Straße gelaufen. Du warst in Panik.«
Ich habe ihr nie von den Echsenwesen erzählt. Niemandem.
Ich höre ein Scharren. Etwas schleift über den Boden. Träge. Schwer.
Ich wende meinen Kopf.
»Gustav?«
Sie sind wieder da.
Ihre Zungen lecken aus den großen Mündern, ihre Hornschuppen dunkel und rau. Ich höre ein Zischeln, ein Röcheln.
Ich kann sie hören. Ich kann sie nun hören!
»Wir kommen«, gurgeln sie. »Wir kommen.«