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Schwarze Magie
Das neue Museum für moderne Kunst setzt dem kulturellen Leben unserer Stadt ein neues, weithin diskutiertes Glanzlicht auf. Seit der Eröffnung im letzten Jahr sind Hunderttausende von bildungshungrigen und neugierigen Menschen zu diesem Kunsttempel gepilgert. Medien, Kritiker und Besucher sind des Lobes voll. Es wird nicht nur auf die feinsinnige und sachverständige Auswahl der ausgestellten Werke hingewiesen, nein, auch dem Museumsgebäude selbst, und dessen Schöpfer, wird gehuldigt. In der Tat haben es die Architekten wunderbar verstanden, moderne Kunst im wahrsten Sinne des Wortes ins rechte Licht zu setzen. Der Umgang mit Tages- und Kunstlicht in diesem Gebäude ist überwältigend. Die Stadt und die Jury hatten mit der Wahl des Siegers im Architektenwettbewerb eine absolut sichere Hand bewiesen. Dass die Realisierung dann das Budget um rund achtundvierzig Prozent überschritten hatte (soviel haben die Verantwortlichen jedenfalls bis jetzt zugegeben), wird in den Zeitungsberichten höchstens am Rande erwähnt. Lediglich ein links orientiertes Blättchen regte sich darüber auf und nannte das Ganze einen Skandal und eine Unverschämtheit. Aber unter uns gesagt: es ist doch wirklich sinnvoller, dass die Stadt das Geld hier ausgibt, statt zum Beispiel neue Kindergärten zu bauen. Immerhin zeigen die Statistiken, dass die Geburtenrate in den letzten Jahren deutlich gesunken ist; wäre es unter diesen Umständen denn richtig, Kindergärten auf die grüne Wiese zu setzen, wo doch jedermann weiß, dass in den nächsten Jahren eher weniger, als mehr Kinder diese Leistung nutzen werden?
Also, ich kann nur sagen: ein Besuch des neuen Museums lohnt sich.
Was? Sie waren noch nicht dort? Das ist ja fast so was wie ein Loch in Ihrer Bildungslücke! Ich habe zwar im Moment nicht so viel Zeit, dass ich Sie durch die ganze Sammlung führen könnte, aber ich zeige Ihnen den ultimativen Höhepunkt, den Sie auf keinen Fall verpassen dürfen. Kommen Sie!
Wir gehen von der großen Eingangshalle, nachdem wir unseren Obolus an der Kasse entrichtet haben, vorbei an der Garderobe, dem Restaurant und dem Museums-Shop. Das sind übrigens die Bereiche, wo der schnöde Mammon verdient werden soll. Ab jetzt geht es um reine Kunst. Die breite Freitreppe im Inneren des Gebäudes nimmt uns auf und geleitet uns nach oben.
Der Raum, den ich Ihnen präsentieren möchte, liegt am oberen Ende der Treppe, geradeaus. Man gerät fast automatisch hinein, wenn man sich in das Obergeschoss begibt. Sowohl der Raum selbst, als auch das einzige dort gezeigte Werk: beide wirken wie ein Magnet auf den Besucher. Er kann sich einer gewissen Magie nicht entziehen.
Beim Betreten des Raumes stellt sich das Exponat zunächst als Silhouette dar: mächtig, kantig und überwältigend. Eine geschickt dahinter angebrachte Leuchte bewirkt diesen Effekt. Die Besucher sollen geistig auf den Kunstgenuss eingestimmt werden. Es soll erreicht werden, dass Sie sich, angesichts dieses Meisterstücks, klein, jämmerlich und minderwertig fühlen. Geschickt gemacht, finden Sie nicht? Dadurch wirkt das Exponat um ein Vielfaches stärker.
Erst wenn Sie nähertreten, wird – durch einen Bewegungsmelder ausgelöst – eine Reihe zusätzlicher Spots eingeschaltet, die das Objekt von allen Seiten beleuchten. In seiner vollen Größe und Schönheit, in seiner Farbenpracht und Herrlichkeit wird es erstrahlen und die Phantasie des Besuchers beflügeln. Sie werden spüren, wie Ihr Atem schneller gehen wird, wie sich Schweißperlen auf Ihrer Stirn bilden und die Handflächen feucht werden. Gespräche werden unter dem gewaltigen Eindruck von selbst verstummen.
Der Besucher wird hier nicht nur an die Kunst herangeführt, sondern emotional in sie eingebettet. Feine Mikrophone nehmen die Pulsschläge der Besucher auf, übertragen die empfangenen Signale zu einem Synthesizer, der den Herzrhythmus in eine geisterhafte Melodie verwandelt. Das Kunstwerk fängt durch den Besucher an zu leben. Ist diese Idee nicht phantastisch?
Die Verantwortlichen haben sich wirklich was gedacht bei ihrer Arbeit: Der Kunstgenuss soll zuerst ein rein individueller sein; erst im zweiten Schritt soll er sich kollektiv auf die Besucher auswirken. Zu diesem Zweck haben sie vor dem Kunstwerk ein kleines Podest aufgestellt, gerade so groß, dass sich eine einzelne Person darauf stellen kann. Und auf diesem Podest, das werden Sie mir sicher gleich bestätigen, haben Sie als Besucher den besten Blick auf das Exponat. Experten und andere Fachleute haben wochenlang getüftelt, um genau diesen Betrachtungswinkel zu definieren. Sie wissen natürlich alle ganz genau, dass exzellente Kunst eben nur dann optimal wirkt, wenn alle Details genau darauf abgestimmt sind.
Jetzt versuchen Sie es! Wagen Sie den ultimativen Schritt auf dieses kleine Podest. Lassen Sie sich in den Bann der modernen Kunst ziehen!
SIE sind jetzt dem Kunstwerk ganz nah. So nah wie keiner sonst. Nur auf SIE wirkt es jetzt. SIE genießen ganz privat, völlig ungestört. IHRE Herzfrequenz bestimmt die Musik und deren Rhythmus. SIE sind Teil der Kunst. Spüren Sie es? Erkennen Sie den Schatten, der auf die gestaltete Oberfläche der riesigen Plastik fällt? Es ist IHR Schatten. Er modelliert das Objekt durch Einwirkung von Hell und Dunkel auf IHRE ganz persönliche Weise.
Ja, Sie haben recht, das Geländer, das am Rande des Podestes angebracht wurde, gefällt mir auch nicht. Es war auch ursprünglich nicht geplant. Nachdem aber einige Besucher vom Eindruck dermaßen überwältigt waren, dass sie vom Podest sanken, musste es aus Sicherheitsgründen angebracht werden.
Nein, bleiben Sie bitte stehen, es kommt noch besser. Das kleine Bedienpult, das jetzt in Ihre Nähe geschwenkt wird, bringt Sie mit IHREM Kunstwerk noch näher zusammen. Betätigen Sie einfach den großen grünen Knopf und lassen Sie sich überraschen!
Die Tafel, welche Auskunft über den Schöpfer dieser Herrlichkeit gibt, wird erleuchtet. Ja, das ist er, der große Name! Timbuktu Natastase. Der schwarze Gegenwartskünstler aus Angola. Der Mann, der es schaffte, sich ganz an die Spitze dieser Gattung zu stellen. Die Person, die richtungsweisend tätig ist und der die ganze Welt zu Füßen liegt. Der göttliche Natastase! Auch der diabolische? Einzig in diesem Punkt sind sich die Kritiker noch nicht einig. Aber fest steht: er hat sie alle beeindruckt mit seiner Ausdruckskraft und seinem handwerklichen Können. Er fuhr praktisch im ICE-Tempo ins Elysium der Kunst auf, nachdem ihn ein finanzstarker Mäzen in seiner kleinen Werkstatt am Rande eines Dorfes im Savannenhochland entdeckte hatte. Und das, obwohl er keine speziell edlen Materialien verarbeite in seinen Skulpturen. Vergeblich sucht man nach seltenen Steinen, exotischen Hölzern, oder nach wertvollen Metallen. Natastase kann es sich erlauben, mit einfachem Schrott und Abfall zu arbeiten. Einfach mit dem, was er seit etwa zwei Jahren vor seinem Haus finden konnte, seit die ersten Pauschal-Touristen eingefallen sind. Sein Dorf liegt unmittelbar an einer Piste für Angola-Abenteuer-Safari-Touren.
Achten Sie auf die Details, die jetzt speziell für Sie an diesem Kunstwerk durch diskrete Punktbeleuchtung hervorgehoben werden! Zum Beispiel diese Cola-Dose auf halber Höhe der Plastik.
Was sagen Sie? Eine ganz normale Cola-Dose?
Aber nicht doch! Sie müssen genau hinsehen, um zu entdecken, was diese Kunst so wunderbar macht. Es ist eben keine „ganz normale“ Dose! Achten Sie auf die Adresse der Firma, die das Getränk unter Cola-Lizenz abgefüllt hat. Ganz rechts, am unteren sichtbaren Rand steht sie. Eine Firma aus Südafrika, aus dem Staat, gegen den Angola 1975/76 im Krieg lag. Ist sie nicht wunderbar, diese Geste der Versöhnung, die hier ein Künstler, der damals gerade in den Windeln lag, macht! Haarscharf schrammte Natastase dieses Jahr am Friedensnobelpreis vorbei, und das nur, weil er ganze elf Tage zu spät berühmt wurde. Elf Tage, nachdem das Nominierungs-Komitee in Schweden tagte.
Oder diese andere Cola-Dose ganz oben rechts. Erkennen Sie worauf es ankommt? Sehen Sie die leise Andeutung, die der Göttliche macht? Er wagte es, die von Coca-Cola gesetzlich geschützte Farbe rot ganz leicht zu verändern. Es ist fast nur im Vergleich mit dem Originalrot erkennbar, dann aber ganz eindeutig. Natastase, der Freidenker! Er nimmt sich die Freiheit heraus, an diesem schon fast sakralen Rot etwas zu verändern. Unzweifelhaft ein Mann mit großem Mut! David gegen Goliath! Zivilcourage in seiner feinen, und trotzdem eindeutigen Art.
Das, mein Lieber, macht die heutige Kunst so groß und bedeutend. Die Summe dieser Kleinigkeiten! Früher genügte es, eine formvollendete Figur aus hartem Stein zu meißeln. Der „Sterbende Sklave“, zum Beispiel von Michelangelo. Sicher ein Kunstwerk. Damals. Aber heute? Welche Botschaft transportierte es? Richtig: gar keine. Es war einfach nur eine schöne Statue. Heute kommt der Kunst eine höhere Weihe zu. Heute muss eine Mission damit verknüpft sein. Moderne Kunst muss verändern! Muss provozieren! Muss Klischee-Standbilder vom Sockel reißen! So wie dieses einmalige Kunstwerk von Natastase, dem Göttlichen!
Aber genug jetzt, mein Lieber! Andere wollen das Werk auch noch auf sich wirken lassen. Machen Sie den Platz auf dem Podest frei. Wenn Sie bitte mit mir in den Bereich hinter der Statue kommen wollen.
Bis jetzt lautet das Motto in diesem Raum „Kunst für den Betrachter“.
Hinter dem Kunstwerk befinden wir uns im Schatten; wir sind den hellen Lichtkegeln entrückt. Und ab hier heißt es: „Betrachter für den Betrachter“. Ein grandioser Einfall der Museums-Psychologen. Hier wird dem Besucher der Betrachter vorgeführt. Sehen Sie sich das Gesicht der jungen Frau an, die jetzt auf dem Podest steht! Die Verzückung und gleichzeitig die Beklommenheit, die es ausstrahlt! Und die Spannung, die sich in ihrem Körper aufbaut! Fast wird die Betrachterin selbst zur Statue, zum Kunstobjekt.
Das ist die doppelte Wirkung unserer heutigen Kunst.
Wer Natastases Werk nicht gesehen hat ist eine bedauernswerte Kreatur. Und Sie würden dazugehören, hätte ich Sie nicht hierher geführt.