Was ist neu

Schwarzweisse Freiheit

Mitglied
Beitritt
14.12.2009
Beiträge
1

Schwarzweisse Freiheit

Sehnsüchtig liess ich meinen Blick über die zerfallenen Hütten schweifen. Es war still. Ich hörte nur leise das Geschrei eines Säuglings, um den sich niemand kümmerte und von der Ferne ein Rauschen, es kam vom reichen Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Zu jener Zeit war ich noch nie dort gewesen. Hatte nur gehört, wie schön, sauber und verschwenderisch es dort ist. Dort wollte jeder leben, in die weissen Kissen wie auf den Werbeplakaten sinken und dazu ein farbiges Wasser trinken. Ein Auto haben oder einfach einmal in ein richtiges Haus eintreten. In einer Familie aufwachsen und eine liebende Mutter haben, die einem jeden Abend etwas Feines kochen würde.

Mühsam raffte ich mich auf, um etwas für meinen knurrenden Magen zu suchen. Die Mülltonnen in diesem Teil des Viertels waren alle schon leer. Der Abfall lag überall an den Wegrändern. Suchend ging ich umher. Wo ich meinen Durst löschen konnte, war ein noch grösseres Problem. Ich hätte alles gegeben für ein bisschen Wasser. Damals war das mein Alltag. Ich stromerte umher, hungrig, durstig und müde. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es irgendeinmal anders war. Seit ich denken konnte, immer dasselbe: allein, verwahrlost, schmutzig, hungrig. Ich musste mich selbst durchschlagen. Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, war es anders. Anders, schöner.
Auf ein Mal zog es mich Richtung Fluss. Der Fluss, hinter dem die andere Welt lag. Ich sehnte mich nach etwas. Wie magisch hingezogen strebte ich Richtung Stadt. Plötzlich fiel die ganze Müdigkeit und der quälende Hunger von mir ab. Es war, als würde mich ein unsichtbares Wesen vorwärts in die reiche Stadt stossen. Je näher ich kam, desto grösser erschienen mir die riesigen Häuser. Und plötzlich klaffte ein Abgrund vor mir, der Fluss. Wie ein gefährliches, endloses Wesen starrte er mich von unten an. Da stand ein Schild. Ein Schild, dass mein Leben veränderte – „Müllhalde“. Neugierig, und wie von Geisterhand vorwärtsgetrieben, überquerte ich den ganzen Platz. Und dann… Es war unbeschreiblich. Ich hatte noch nie so etwas gesehen. So perfekt schienen sich schwarz und weiss zu ergänzen. Zögerlich schritt ich auf das Ding zu. Ich hatte Angst, dass ich es kaputtmache. Was war das? Und warum fühlte ich mich plötzlich so aufgeregt? Vorsichtig strich ich mit meinen schmutzigen Händen über die Oberfläche. Langsam näherte sich mein Finger einer weissen Taste. Sie fühlte sich kalt und glatt an. Ich drückte darauf. Es war wunderbar. Dieser Klang! Dieses wahnsinnige Kribbeln, als würden sich tausend Ameisen von meinen Fingerspitzen im ganzen Körper ausbreiten, bis in den Kopf, bis in die Zehenspitzen. Noch nie in meiner grauen Kindheit empfand ich so starke Gefühle. Ich wusste, dass ich eine neue Lebensaufgabe bekommen hatte. Mein ganzes Leben bekam einen Sinn. Wieder und wieder drückte ich auf die Tasten. Mal eine schwarze, dann wieder ein weisse, zwei oder drei, manchmal auch mehr. Es tönte wie Schmetterlinge. Ich drückte schnell, langsam, laut, leise und es gefiel mir.
Daraufhin fühlte ich mich jeden Tag zu dieser Oase hingezogen. Ich drückte immer wieder auf die Tasten und liess schöne Reihenfolgen erklingen. Die Ameisen in meinem Körper führten schon ganze Tänze auf. Ich vergass den Hunger und die Müdigkeit. Ich war glücklich auf der Müllhalde.

Eines Tages, ich hatte heute eine sehr schöne Reihenfolge erfunden und spielte sie schon eine Weile, immer und immer wieder, stand ein Mann da. Er trug glänzende Schuhe, elegante Kleider und hatte strahlend weisse Zähne. Er sah aus, wie jemand auf den riesigen Werbeplakaten. Ich wusste nicht, wie lange er schon dagestenden war, ich habe ihn nicht kommen hören. „Sehr schön, wie du spielst, hast du das selber komponiert? Bei wem hast du das gelernt?“, fragte er mich. Fragend sah ich ihn an. „Es ist sehr alt und verstimmt, findest du nicht auch? Weisst du was? Komm mit mir, du sollst richtig spielen können. Es tönt tausendmal besser.“ Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, aber zögerlich folgte ich dem Unbekannten, ohne zu wissen warum. Wir überquerten eine gigantische Brücke, weit unter uns lag der Fluss. Der Mann führte mich in die Welt der Reichen. Es war ziemlich lärmig von den Autos. Überall schöne, saubere Häuser. Werbung. Riesig. Stolz, dass ich einmal die Welt der Reichen zu Auge bekam, hastete ich hinter dem Mann her, er ging so schnell, dass ich fast nicht mithalten konnte. Ich war überfordert. Meine Augen kamen nicht nach mit Sehen. Meine Ohren nicht mit Hören. Und die Leute rochen wunderbar, jeder hatte seinen eigenen Duft. Der Mann schritt durch eine durchsichtige Türe in einen angenehm kühlen Raum. Viele Leute redeten durcheinander und eilten umher. Schnell haftete ich mich an die Fersen des Mannes und achtete darauf, ihn nicht zu verlieren. Wir betraten einen neuen Raum, der fast leer was. Nur in der Mitte stand ein schwarzer, glänzender Kasten. Die Ameisen begannen wieder zu kribbeln. Ich war ja so gespannt wie es klingen würde. Unsicher schaute ich zum Mann hoch. Aus seinem kurzen Nicken deutete ich, dass ich gehen durfte. Es klang so wundervoll. Mir war schwindelig von diesem bezaubernden Klang. Der ganze Raum füllte sich mit meiner Musik. Rauf und runter, schnell, leise, langsam, laut. Ich konnte den Klang in jede Bahn lenken die ich wollte. In die rechte obere Ecke zum Beispiel. Dann kam er sehr schnell wieder zurück. Ich schwebte in einer Klangwolke und wollte, dass dieses Gefühl nie endete. Ich habe gedacht, mein Leben bliebe immer so grau und eintönig. Aber jetzt wusste ich was ich wollte, ich hatte eine Aufgabe, ich wusste was Musik war und es war das Wundervollste. Der Mann unterbrach mich, ich tauchte auf als würde ich von einem schönen Traum aufwachen: „Wo hast du das gelernt? Du bist ein Wunderkind! Mein Name ist Mr Caughan. Ich kann dir helfen. Du hast noch viel technische Arbeit vor dir.“ Ich hatte das Gefühl, Mr Caughan wollte mein Bestes, ich vertraute ihm und stimmte ihm lächelnd zu.

Von nun an musste ich nie mehr mein Essen suchen. Ich bekam täglich dreimal ein feines Gericht aufgetischt. Auch für meinen Schlafplatz war gesorgt. Ganz in der Nähe des Hauses wohnte Mr Caughan und dort hatte ich eine kleine Kammer ganz für mich alleine! Mit einem richtigen Bett. Es hatte sogar weisse Kissen. Sie waren weicher, als ich mir je hätte vorstellen können. Jeden Tag durfte ich so lange spielen, wie ich wollte. Mr Caughan gab mit Unterricht, ja so nannte er es. Er zeigte mir wie es einfacher geht, wie ich meine Finger schneller und neue Melodien spielen konnte. Er lehrte mir, die Noten zu lesen. Ich habe auch gelernt, eine Melodie, die ich spielte, aufzuschreiben. Es machte mir so viel Spass. Ich lebte in der reichen Welt, hatte schöne Kleider, durfte Musik machen, träumen, es ging mir ausgezeichnet.

Stimmengemurmel erfüllte den ganzen Saal. Meine Hände zitterten. Kalter Schweiss trat auf meine Stirn. Nach vielen Jahren war ich so gut geworden, dass ich ein Konzert geben durfte. Tausende von Leuten waren gekommen, um mich zu sehen! Als ich ins Scheinwerferlicht trat übertönte der Applaus mein pochendes Herz. Nervös setzte ich mich auf den Hocker. Jetzt war es totenstill im Saal. Mein Herz schien zu zerspringen. Doch kaum spielte ich die ersten Töne, war alles wie verflogen. Ich spielte, als gäbe es nur mich und die Musik. Meine Hände flogen über die Tasten, sie wussten genau was zu machen war. Ich schwebte in der Klangwolke weit über der Welt. Immer höher und schneller spielte ich. Ich war so frei. Frei wie ein Vogel. Ich blickte herab in meine alte Welt. Dort, wo man sein Essen suchen muss und es keine weichen Kissen hat. Es war nicht mehr meine Welt. Meine Welt war die Musik. Die Ameisen kribbelten von Kopf bis Fuss in mir. Sie sind zahlreicher geworden. Viel zahlreicher. Mit jedem Spielen werden sie zahlreicher. Ich möchte, dass es allen so gut geht wie mir. Jeder sollte so viele Ameisen spüren dürfen. Alle sollen dieses Gefühl von absoluter Freiheit kennen, wenn man musiziert. Fasziniert sah ich meinen Händen zu wie sie atemberaubend über die schwarzen und weissen Tasten flogen. Dann war der ganze Zauber vorbei. Tosender Applaus erfüllte den Konzertsaal. Stolz verbeugte ich mich mit dem Gedanken: „Ich will, dass jeder Mensch auf dieser Erde die Möglichkeit hat, dieses wahnsinnige Gefühl zu empfinden.“

Taumelnd stand ich auf. Hatte ich mir das alles nur ausgedacht? Die Sonne stand schon tief am Himmel. Die Müllhalde war eingetaucht in goldenes Licht. Fasziniert liess ich meinen Blick über das Gelände schweifen. Der Fluss war immer noch da. Etwas weiter hinten bemerkte ich die Brücke. Was war passiert? Ich begriff damals nicht ganz, dass ich mir alles nur vorgestellt hatte. Ich war verwirrt. Langsam setzte ich einen Fuss vor den andern. Immer schneller schritt ich Richtung Brücke. In Richtung neues Leben. Es war mir bewusst, dass ich eine Aufgabe hatte. Ich wusste ganz genau, was ich wollte. Voller Hoffnung überquerte ich den Fluss. Während die Sonne den Tag beendete, begann ich den weiten Weg, auf dem ich der Menschheit etwas ganz Wichtiges erzählen werde.

 

Salü Leila

Deine Geschichte ist recht flüssig geschrieben. Nur einmal holpert es:

Dort wollte jeder leben, in die weissen Kissen wie auf den Werbeplakaten sinken und dazu ein farbiges Wasser trinken.
Mein Vorschlag: "Dort wollte jeder leben, wie auf den Werbeplakaten in die weissen Kissen sinken und dazu ein farbiges Wasser trinken.

Es gefällt mir auch, wie du die Faszination am Klavierspiel beschreibst.

Leider gibt es inhaltlich einige Mängel, eigentlich Details, die du gut korrigieren könntest, würdest du die Gegend besser kennen. Du gibst der Gegend ja keinen Namen, für mich ist es ganz klar ein Dritt-Welt-Land oder ein Schwellenland, wo eben die Gegensätze von Reich und Arm enorm sind.
Hier was mir aufgefallen ist:

> "farbiges Wasser": jeder der in einer Stadt lebt, egal ob Slum oder nicht, auch bis weit in den Busch hinein, kennt Coca-Cola, Fanta und co unter dem Begriff "Soda". Ab und zu leisten sie sich sogar ein Fläschchen für einen wichtigen Besucher, der bewirtet werden soll.

>

In einer Familie aufwachsen und eine liebende Mutter haben, die einem jeden Abend etwas Feines kochen würde.
Auch in einer armen Familie aufwachsen kann man eine liebende Mutter haben. Das mit dem Essen kann unter Umständen schwieriger sein. Und ja, natürlich gibt es auch Mütter die nicht gut für ihre Kinder sorgen (können) oder auch Strassenkinder. Aus deiner Geschichte heraus, wird nicht ganz klar, aus welchen Verhältnissen deine Protagonistin kommt, ich vermute mal Strassenkind?? Und in der Vorstellung einer reichen Familie ist es selten, dass die Mutter kocht, denn eine bessergestellte Familie in solchen Ländern hat sehr oft (natürlich kein muss) eine Bedienstete fürs Kochen.

> "Mülltonnen": In Armenvierteln habe ich noch nie Mülltonnen gesehen. Wenn es hoch kommt hat es total überfüllte Container (jene die wir in Europa bei Renovationen mit Bauschutt füllen). Aber meistens liegt der Abfall eigentlich einfach so irgendwo auf Mülldeponien die es ca alle 500 meter gibt. Allgemein ist es auf öffentlichen Plätzen, Strassen etc recht dreckig. Das hast du ja auch so beschrieben.

Der Abfall lag überall an den Wegrändern.
Also, streiche die leeren Mülltonnen, sowas gibts nicht.

>

Da stand ein Schild. Ein Schild, dass mein Leben veränderte – „Müllhalde“.
Ich habe noch nie gesehen, dass eine Müllhalde mit einem Schild als solche angeschrieben wird.

>

Ich hatte noch nie so etwas gesehen. So perfekt schienen sich schwarz und weiss zu ergänzen. Zögerlich schritt ich auf das Ding zu. Ich hatte Angst, dass ich es kaputtmache. Was war das? Und warum fühlte ich mich plötzlich so aufgeregt? Vorsichtig strich ich mit meinen schmutzigen Händen über die Oberfläche. Langsam näherte sich mein Finger einer weissen Taste. Sie fühlte sich kalt und glatt an. Ich drückte darauf. Es war wunderbar. Dieser Klang! Dieses wahnsinnige Kribbeln, als würden sich tausend Ameisen von meinen Fingerspitzen im ganzen Körper ausbreiten, bis in den Kopf, bis in die Zehenspitzen. Noch nie in meiner grauen Kindheit empfand ich so starke Gefühle.
Das finde ich sehr schön beschrieben :-) Und es stört mich kein bisschen, dass es recht unwahrscheinlich ist. In solchen Ländern würde ein altes Klavier kaum auf einer Müllhalde landen, sondern zuerst immer billiger weiterverkauft werden, falls es doch auf die Müllhalde käme, würden es die Finder weiterverkaufen, wenn nötig in Stücken. Es gibt Händler fürs Holz, Händler fürs Plastik, Händler fürs Metall, ... was gibt es noch so für Stoffe im Klavier drin?

> gleich der nächste Satz:

Ich wusste, dass ich eine neue Lebensaufgabe bekommen hatte. Mein ganzes Leben bekam einen Sinn.
Das finde ich hingegen übertrieben und unglaubwürdig. Ich glaube dem Kind, dass es fasziniert ist vom Klavier und gerne darauf spielt und seine Zeit vertreibt. Aber ich glaube nicht, dass es dadurch das Gefühl bekommt für einen Sinn im Leben, sogar eine Lebensaufgabe - ja welche Aufgabe denn eigentlich? Davon sprichst du nirgends. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt sehe ich es nicht möglich einen Lebensaufgabe darin zu entdecken. Wenn, dann erst nachdem das Kind von dem Klavierlehrer entdeckt wurde. Ab da ist es möglich und logischer.

>

Eines Tages, ich hatte heute eine sehr schöne Reihenfolge erfunden und spielte sie schon eine Weile, immer und immer wieder, stand ein Mann da. Er trug glänzende Schuhe, elegante Kleider und hatte strahlend weisse Zähne.
Wieder recht unwahrscheinlich, was tut ein solcher Mann auf einer Müllhalde?? - Aber ich drücke sehr gerne ein Auge zu, bin auch ein bisschen eine Träumerin manchmal :-)

>

Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, aber zögerlich folgte ich dem Unbekannten, ohne zu wissen warum.
Strassenkinder müssen sich vor allem möglichen in Acht nehmen, insbesondere vor solch fein ausschauenden Herren, die meistens eben keine Samariter sind, sondern ganz anderes mit den Kindern vorhaben. An dieser Stelle würde ich daher gerne etwas lesen, warum sie zögert, was genau ihre Ängste sind, und warum sie sich dann doch davon überzeugen lässt und mit ihm mitgeht.

>

Mein Name ist Mr Caughan. Ich kann dir helfen. Du hast noch viel technische Arbeit vor dir.“
Das sollte viel früher im Text kommen, als er das Mädchen überzeugen will mit ihm zu kommen. Oder gehst du mit einem Fremden mit, von dem du nicht mal den Namen weisst und was er von dir will? (Oder vorgibt von dir zu wollen)

>

Ich begriff damals nicht ganz, dass ich mir alles nur vorgestellt hatte. Ich war verwirrt. Langsam setzte ich einen Fuss vor den andern. Immer schneller schritt ich Richtung Brücke. In Richtung neues Leben. Es war mir bewusst, dass ich eine Aufgabe hatte. Ich wusste ganz genau, was ich wollte. Voller Hoffnung überquerte ich den Fluss. Während die Sonne den Tag beendete, begann ich den weiten Weg, auf dem ich der Menschheit etwas ganz Wichtiges erzählen werde.
Alles nur ein Traum, ja das kann sein. Aber welche Aufgabe hat sie entdeckt? Das wird mir echt nicht klar. Was will sie der Menschheit erzählen?
Hier habe ich übrigens auch wieder ein Realitätsproblem. Einem solchen Kind hört kein einziger Mensch zu, ganz egal was sie alles zu erzählen hätten. Und dass sie selbständig einen Klavierlehrer findet der sie einfach so unterstützt, genau wie in ihrem Traum... das kannst du ja wohl nicht meinen, sonst hättest du es ja nicht als Traum beschrieben. Scheinbar ist dir da ja auch klar, dass es nicht wirklich Realistisch ist. :-( Aber Träumen darf jeder und macht jedes Leben schöner :-)

Liebe Grüsse,
Siiba Bulunji

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom