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Schweigen im Walde
Schweigen im Walde
Der junge Mann aß schweigend im Lokal vor diesem großen Wald wie jeden Tag. Und wie jeden Tag wurde er als weltfremd abgestempelt, wenn er seine Suppe still und mit finsterer Mine langsam auflöffelte. Die Bedienung kam öfter und fragte: „Schmeckt es?“, oder „Alles ok?“, oder „Irgendein Wunsch?“ und der junge Mann nickte oder schüttelte den Kopf. Die Bedienung musste ja kommen, schließlich ist sie dazu verpflichtet, jeden nett und zuvorkommend zu bedienend. Der Mann fand das Personal nett, war aber an der ausschließlich weiblichen Bedienung nicht interessiert. Eigentlich interessierte ihn nichts. Es war ihm egal, ob es ihm schmeckte. Ob alles ok war. Ob er irgendeinen Wunsch hatte. Es wollte nur seine wässerige Suppe essen und ohne Nahrung starb er und das wollte er nicht. Er trennte die Suppe von den Klößen, dem Fleisch, den Buchstabennudeln und kleinen Porree- Fäden. Er aß zuerst immer die Suppe, und dann vermischte den Rest miteinander, so dass der feste Inhalt der Suppe zu einem ganzen Happen wurde. Den aß er sofort. Ich weiß, dass das nicht lecker ist, dachte er, aber er wollte nicht unauffällig sein. „Ein Mensch, der trotz seiner Unauffälligkeit auffällig wird, ist ein Held“, sagte sein Grundschullehrer immer wieder. Und er wollte schon als Kleinkind ein Held sein, der allen Gefahren zum Trotz in fremden Gegenden überlebt mit seiner unauffälligen Auffälligkeit sein.
Er stocherte lustlos in seinem zweiten Teller Suppe herum. Meistens aß er drei oder vier, dann aber nichts mehr am Tag. Doch heute hatte er keinen Hunger. Zurzeit war außer ihm ein älterer Mann mit seinem Kind oder Enkel da. Sie aßen fröhlich und lachten. „Dann leihen wir uns einen Film aus“, sagte der Vater.
„Ja! Mit vielen Explosionen!“
„Am Ende kannst du nicht schlafen.“
„Schlaf ist was für Feiglinge.“
Schlaf ist was für Feiglinge. Vielleicht hatte das Kind Recht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß das nicht, dachte er, denn zum Einen verpasst man beim Schlaf das Geschehen und Aktuelle, man kann beim Schlaf den Blick über seine Welt verlieren, all das könnte geschehen, wenn man zu viel schläft. Aber ohne Schlaf stirbt man und das will ich nicht, ich weiß nicht, ist Schlaf für Feiglinge? Ist das überhaupt von Interesse? Steht das zur Debatte? Vielleicht ist das Kind nur dämlich, dachte er, denn ich hab auch so gut überlebt, allein aber mit Schlaf. Soll ich was ändern, weil ein Kind einen Film sehen will? Und wieso so schnell. Da braucht man doch Zeit, dachte er, um in sich zu gehen. Vielleicht könnte eine Meditation helfen. Doch das ist egal, meditieren mochte ich noch nie. Am Ende versinkt man zu tief, dachte er, und dann ist es zu spät. Dann war das Leben frühzeitig beendet und man würde sterben und sterben, das will ich nicht. Sterben steht hier ohnehin nicht zur Debatte. Und wie bin auf den Tod gekommen? Bin ich zu depressiv? Achja, dachte er, durch das Meditieren. Und weshalb Meditation. Wegen der Lebensveränderung, ob das so schnell gehen soll, mit seinem alten Leben auf zu hören. Aber habe ich das nicht vor? Schlaf ist für Feiglinge. Ist es das? Ach, dachte er, nicht damit anfangen.
Er sah die Fettaugen in der Suppe, wie sie vor ihm hintänzelten und stieß sie mit seinem heißen Löffel weg. Weg mit euch. Weg. Weg. Weg! Doch sie bleiben. Er wirbelte mit dem Löffel, so dass ein kleiner Wasserstrudel, oder Suppenstrudel, entstand. Mann, das sieht aus wie ein Tornado. Wow! Wie ein Tornado. Die Fettaugen wurden von einem Suppentornado hinweggerafft, denn der junge Mann spielte Gott. Diese Suppe ist ein Planet, mein Planet. Ich kann Erdbeben erzeugen (er schüttelte den Teller und es lief viel über den Rand), Tsunamis erzeugen (er patschte mit dem Löffel flach über die Suppenoberfläche, so dass Wellen entstanden, die an Klößen oder Nudeln zersprangen), Tornados erzeugen (er wirbelte wieder mit dem Löffel). Strudel erzeugen, wie ein Tornado, nur dass es ein Strudel ist. Den Weltuntergang prophezeien, in dem ich etwas vom Planeten entferne (er aß von der Suppe). Oder, oder… eine Eiszeit schicken (er pustete kräftig, ein bisschen spritzte ihn ins Gesicht).
Das Kind und der Vater verließen das Lokal. Das Kind sagte:
„Wie wärs mit Armageddon? Ein toller Film.“ Die Tür schloss sich.
Wie wärs mit Armageddon. Ja, Armageddon. Armageddon wartet. Er aß den Teller leer.