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Schweigselig
"Schreibst Du mir mal? Ich würde mich wirklich riesig freuen." Sie schaute ihm zum Abschied in die Augen. Lautstark fuhr sein Zug in den Bahnhof ein. Er nickte wortlos und schulterte seinen Rucksack. Der große Schweiger. Schon als er ihr das erste mal auf dieser Party begegnet war, hatte sie ihm diesen Namen gegeben. Es war ein rauschendes Fest, laute Musik, wilde Diskussionen, kreisende Haschtüten. Und er schweigend mittendrin. Es hatte etwas skurriles, wie er so da stand. Eine Insel im tosenden Meer. Er sprach mit keinem, keiner sprach mit ihm und niemanden schien das zu stören. Auch ihn nicht. Er stand einfach da, als wenn es das normalste auf der Welt wäre.
Auch später war es nicht anders. Wenn sie sich trafen, sagte er nichts. Er war einfach nur da. Manchmal schaute er sie an, aber meistens blickte er auf den Boden. Sie musste lernen, damit umzugehen. So war er nun mal, man konnte sich einfach nicht mit ihm unterhalten. Jeder Konversationsversuch schlug fehl. Ein kurzes "Ja" oder "Ich weiß nicht" begleitet von einem charmanten Lächeln war alles, was er beizusteuern bereit war. Aber dieses Lächeln war zuckersüß und wenn er ihr ab und zu in die Augen blickte und zustimmend nickte, schmolz sie dahin. Sein scheuer Blick war so tief, seine Augen so dunkel und wissend, seine stille Anwesenheit so angenehm und bereichernd. Sie wurde süchtig danach, wollte ihn ständig in ihrer Nähe haben. War es Liebe?
Er zog bei ihr ein. Mehr als einen Rucksack mit ein paar Klamotten schien er nicht zu besitzen. Wenn sie morgens zur Arbeit ging, lag er noch im Bett, abends saß er in der Küche und wartete auf sie. Er wohnte eigentlich irgendwo in Bayern, soviel hatte sie von ihm herausbekommen. Aber wo genau und was er dort tat, das erfuhr sie nicht.
Weil er nicht sprach, wusste sie also nichts über ihn. Stattdessen redete sie, erzählte ihm ihr ganzes Leben, jede Einzelheit ihres Tages. Er saß da und hörte ihr zu. Ab und zu blickte er auf, nickte, lächelte. Sonst tat er nichts. Er rauchte nicht, las keine Zeitung, schaute nicht fern. Er aß mit Appetit, was sie kochte und trank den Tee, den sie ihm reichte. Nie zuvor hatte ein Mann ihr so ausdauernd zugehört. Sie fühlte sich wie befreit, jahrelange, zwanghafte Zurückhaltung brach sich Bahn. Die Wörter sprudelten ihr nur so aus dem Mund.
Sie redete wie im Rausch, erzählte von ihrer Kindheit, den Marotten der Großmutter, dem strengen Vater, der kranken Mutter, dem Bäcker damals in ihrer Straße, wo sie als kleines Mädchen mit Zöpfen immer einen Weckmann geschenkt bekam. Sie erzählte von ihrer Arbeit, dem jähzornigen Abteilungsleiter, der neidisch, zickigen Kollegin aus der Buchhaltung, der Abteilungssekretärin, die ein Verhältnis mit dem Pförtner angefangen hatte. Sie berichtete von der Verkäuferin im Supermarkt, die die Quittungsrolle nicht in die Kasse einlegen konnte und erst den Filialleiter rufen musste, den sie noch kannte, weil der früher mal mit einer alten Schulfreundin von ihr zusammen war, die aber damals mit ihm Schluss gemacht hat, weil er sich nur für Fußball interessierte und mit seinen Kumpels jedes Wochenende besoffen in den Stadien rumgehangen hat, statt mit ihr mal nett abends essen zu gehen. Sie redete und redete und redete.
Bis sie eines Tages nichts mehr wusste. Sie hatte alles rausgelassen, ihr ganzes Wissen, ihre ganzen Erinnerungen, alles was sie jemals gehört, gesehen, gerochen und gefühlt hatte. Alles war ihr in den letzten zwei Wochen aus dem Mund geflossen. Übrig blieben gähnende Leere und Stille, unerträgliche Stille.
Der Zug nach München war zum Einsteigen bereit. Ein letzter tiefer Blick, ein letztes charmantes Lächeln und die Türen fielen zu. Durch die verspiegelten Zugfenster konnte sie ihn nur schwer erkennen. Sie lief dem Zug noch einige Meter auf dem Bahnsteig winkend hinterher, wollte noch ein letztes mal sein Gesicht erblicken. Doch er stand nur da und blickte auf den Boden. Immer kleiner wurde die Silhouette des Zuges, bis er schließlich in einer Kurve verschwand. Wie erstarrt stand sie am Bahnsteig. Tränen rannen ihr über die Wangen und der Schmerz in ihrer Brust entlud sich in einem hemmungslosen Schluchzen. Da fuhr es hin, ihr ganzes bisheriges Leben war auf dem Weg nach München.
EPILOG:
In Hannover bestieg eine Frau mittleren Alters, nicht gerade unattraktiv, den ICE nach München. "Entschuldigen Sie, ist der Platz noch frei?" fragte sie einen jungen Mann mit dunklen Augen, der ihr mit einem charmanten Lächeln wortlos zunickte. "Ach danke, endlich kann ich mich mal hinsetzen. Wenn man heutzutage keinen Sitzplatz reserviert, kann man sehen, wo man bleibt. Wie ein Stück Vieh wird man von der Bahn transportiert. Wissen sie was mir der Schaffner gerade gesagt hat? Ich mein er kann ja nichts dafür, ist ja auch nur angestellt und muss die Suppe auslöffeln, die die da oben ihm eingebrockt haben, aber trotzdem, da sagt er doch zu mir........"
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Lieber Leser, dieser Text hat die für eine Kurzgeschichte erlaubte Maximallänge erreicht und deswegen blenden wir den Text an dieser Stelle für Sie aus.