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Schwein aus der Asche
Überarbeitete Version
Graf Orthold Radieschen von Schrägl wanderte durch die einsamen Straßen von Wuppertal und hoffte, in der nächsten Saison nicht wieder wegen eines Pfahls im Wamst als Häufchen Staub zu enden. Die gerade überstandene Reinkarnation aus 25 Gramm Asche und einem halben Liter Blut hatte ihm üble Kopfschmerzen verursacht. Drei schwarz angezogene Gestalten hatten ihren Herrn mit einem überlieferten Rezept wiederbelebt. Was danach folgte, hatten sie sich sicher etwas anders vorgestellt. Aber der Graf hatte nach 57 Jahren Dasein als Häufchen ziemlich trockener Asche verständlicherweise fürchterlichen Durst.
Etwas später stand Graf Orthold Radieschen von Schrägl vor einem Busfahrplan und verglich die abgedruckten Angaben mit der Armbanduhr, die ein gewisser Heilmar Wringst im Moment nicht benötigte. Der letzte Nachtexpress war vor zwei Minuten abgefahren, der nächste kam in 58 Minuten. Also machte der Graf sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt. Graf Ortholds Schuhe waren bei seiner letzten Vernichtung nicht mit verbrannt, so dass sie in der für die Reinkarnation verwendeten Asche nicht enthalten gewesen waren. Um nicht auf Socken durch Wuppertal wandeln zu müssen, hatte der Vampir sich die Fußbekleidung eines seiner Heraufbeschwörer geborgt. Am besten hatten ihm die bunten Schuhe mit den blinkenden Lämpchen im Absatz gefallen. Ferner waren deren Sohlen so dick, dass sie frühestens in hundert Jahren durchgelaufen sein würden. Für einen Vampir war das natürlich die ideale Fußbekleidung.
Nach einiger Zeit näherte der Graf sich einer wummernden Lärmquelle. Es schien sich um ein Art Lokal zu handeln – und der Lärm war wohl eher neumodische Musik. Radieschen von Schrägl verzog das Gesicht geringschätzig. Während jeder seiner Inkarnationen hatten die Menschen andere Musik gemocht, aber keine hatte ihn mehr berührt als das Totenlied der armen Bäurin, der gerade ein Bekannter Schrägls die letzte Kuh leergetrunken hatte. Schrägl hatte die Bäurin anschließend mit in sein Reich genommen und immerhin vierundneunzig romantische Jahre mit ihr verbracht, bis sie sich in einen eher versehentlich ausgesaugten Buchhalter verknallt hatte.
Auch Vampire haben übrigens einen Stoffwechsel, und der Graf sah sich schon einmal vorsorglich nach einem Ort um, wo er dessen Endprodukte loswerden konnte.
Drei erstaunlich wenig bekleidete Mädchen hatten den Vampir derweil bemerkt, grinsten und kicherten. Dass ihnen dabei die Schminke nicht aus dem Gesicht fiel, verdankten sie vermutlich der Tatsache, dass der Hersteller seiner Rezeptur eine beachtliche Menge Sekundenkleber hinzugefügt hatte.
»Du siehst echt aus wie ein Vampir«, sagte die blondeste von den Dreien.
Der Graf setzte sein bewährtes hypnotisierendes Starren auf.
»Du würdest uns wohl gerne Blut abzapfen, was?« fragte unbeeindruckt die kleine Dicke, der scheinbar jemand blaue Farbe über den Schopf gegossen hatte.
»Nein, im Moment bin ich satt«, entgegnete der Graf und hörte zu Starren auf. Die drei Mädchen fanden diese Antwort offenbar außerordentlich amüsant.
»Sollen wir reingehen?« fragte eine von ihnen.
»Klar. Mal sehen, ob unser Vampir auch zappeln kann, ohne dass ihm ein Arm abfällt oder so.«
»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass das passiert«, erklärte der Graf. »Allerdings würde ich gern zunächst einen gewissen Ort aufsuchen.«
Nun, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, würde diese Geschichte weiter dahinplätschern, so wäre das doch gänzlich undramatisch. Der Graf könnte beispielsweise mit einem der Mädchen im Bett landen oder mit allen dreien. Daher wird es Zeit, ein neues Element in die Handlung einzubringen. Es hat, soviel sei verraten, mit Schlamm zu tun.
Es fing damit an, dass dem Grafen irgendetwas komisch vorkam, als er sich auf die Klobrille setzte. Nachdem er leise tröpfelnd sein Geschäft verrichtet hatte, erhob er sich, um sich die Klobrille genauer anzusehen. Irgendwie hatte er den Eindruck gehabt, auf einer Unebenheit gesessen zu haben. Allerdings war nichts zu sehen, die Klobrille war vollkommen glatt. Also kratzte der Graf sich am Kopf, richtete seine Kleidung und begab sich auf die Tanzfläche. Und nicht viel später landete er doch mit einem der drei Mädchen im Bett. Mit der mittelblonden ohne blaue Haare.
»Ja?«
»Hast du es? Hm.«
»Klar.«
»War schwer zu bekommen, oder? Hm.«
»Ging so.«
»Dann sehen wir uns heute um Halb Zwölf wie verabredet. Hm.«
»Genau. Tschüss!«
Mickel Hensel drückte die rote Taste und beendete so das Gespräch. Irgendwie fühlte er sich nicht wohl bei der Sache. Abschätzend wog er die Tüte mit der Plastikflasche darin in der Hand. Es würde wohl kaum einen Unterschied machen. Und sicher niemandem auffallen.
Hier irrte Herr Hensel, aber er sollte es zu Lebzeiten nicht mehr erfahren.
Übrigens: Linearität ist was für Lineale. Diese Szene fand daher vor der ersten statt.
Graf Orthold Radieschen war ziemlich außer Atem und vollkommen durchgeschwitzt. Das war ihm zuletzt vor etwa hundert Jahren passiert, als er vor einem Kerl geflohen war, der ihn mit Weihwasser bespritzen wollte. Diesmal lag es an der Wärme lebender Körper in einem stickigen Raum. Und an dem Getränk mit dem verlockenden Namen »Bloody Mary«. Und an Verena. Die gerade damit angefangen hatte, ihn auszuziehen. Sie kreischte.
»Ääää! Du hast ja einen Schwanz!«
Der Graf wollte zuerst »schön, dass du ihn gefunden hast« sagen, dann erinnerte er sich an das komische Gefühl auf der Klobrille. Er griff an sein Hinterteil. Und ächzte. Er hatte wirklich einen Schwanz. Vollkommen fassungslos ächzte er noch einmal, weil ihm im Moment nichts besseres einfiel. Angestrengt versuchte er, sein eigenes Hinterteil anzusehen.
Verena erkannte, dass Orthold mindestens so überrascht war wie sie.
»Wieso hast du den da?«, fragte sie.
»Ich... weiß es nicht...«, stotterte der Graf. So etwas war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert. Und während seines Untodseins auch nicht.
Verena schob sich hinter ihn. »Halt mal still. Moment.« Ruhe trat ein, während sie Ortholds zusätzliches Körperteil eingehend untersuchte. Es fühlte sich beunruhigend echt an.
»Es ist... ein Ringelschwanz«, gab Verena schließlich als Ergebnis ihrer Untersuchung bekannt. »Ich kenne mich mit sowas nicht aus, aber ich würde sagen, dass Schweine solche Schwänze haben.«
»Siehst du irgendeinen Hinweis, wie das Ding dorthin gelangt sein könnte?«
Wieder folgten Stille und ungewohnte Berührungen an noch ungewohnterer Stelle.
»Nein. Tut mir leid. Keine Ahnung. Sieht aus wie angeboren. Tja.«
Der Graf tastete erneut nach seinem Schwanz. Er grübelte. »Es muss bei der Reinkarnation etwas schiefgelaufen sein«, murmelte er.
Verena kam in sein Blickfeld. »Du bist nicht wirklich ein Vampir. Es gibt ja gar keine«, stellte sie fest, aber es war eigentlich eine Frage.
»Doch, das bin ich. Aber keine Angst. Ich hatte nicht vor, dich auszusaugen. Ich ziehe... ich ziehe Männerblut vor. Es... schmeckt besser.«
Verena lächelte ihn vielsagend an. »Aha. Was hast du vorhin gemeint, es ist was schiefgegangen?«
»Ja«, entgegnete der Graf. »Bei der Reinkarnation. Heute um Mitternacht. Davor war noch alles in Ordnung. Ich meine, in meiner Existenz davor, vor 57 Jahren, hatte ich keinen... Schwanz. Keinen Ringelschwanz.«
»Du bist heute nacht wieder zum Leben erwacht? Wie ging das vor sich?«
»Nun, gewöhnlich nimmt man die Asche des, nun, also, meine Asche in diesem Fall, vermischt sie mit Blut und singt rituelle Lieder. Wobei letzteres aber nur die Stimmung heben soll«, dozierte Orthold.
»Das kenne ich aus dem Fernsehen. Ohne die mystische Musik wären diese Dinge viel weniger... eeh... mystisch.« Verena unterbrach sich, als sie sich dabei ertappte, wie sie mit dem Ringelschwanz des Grafen spielte.
»Ist schon okay«, sagte der Graf. »Übrigens, denk doch bitte daran, morgen früh die Vorhänge nicht aufzuziehen.«
»Ein guter Hinweis.«
Orthold kam eine Idee. »Vielleicht könntest du meinen Körper nach weiteren... Unregelmäßigkeiten absuchen?«
»Sicher«, lachte Verena.
Was Hellseher noch so beharrlich behaupten, aber trotzdem nicht können – in einer Geschichte ist es möglich: In die Zukunft zu sehen. Riskieren wir also einen Blick.
Kurz vor Morgengrauen hockt Mickel Hensel in einer Ausnüchterungszelle, weil er einer Polizeistreife erklärt hat, ein Vampir habe ihm die Turnschuhe geklaut.
Nach stundenlangen, erfolglosen Versuchen, sich in eine Fledermaus zu verwandeln, bekommt er Besuch von einer... Fledermaus. Neidisch beobachtet er, wie das Flattervieh zu einem ganz bestimmten Vampir wird.
»Das war keine gute Idee«, zischt Orthold Radieschen von Schrägl.
»W... w... was«, bringt Hensel hervor.
»Das mit dem... Schweineblut.«
»Ich... es... ich hab kein anderes gekriegt, und die anderen...«
»Die anderen. Immer sind die anderen schuld. Zumindest, solange sie abwesend sind.« Der Vampir macht eine Pause. »Genaugenommen sind sie aber durchaus anwesend«, erklärt er, während er ein Einmachglas hervorholt. Es scheint grauen Staub zu enthalten.
Hensel schluckt.
»Keine Angst«, sagt Radieschen von Schrägl. »Ich werde sie zurückholen, aber wann und wo, entscheide ich. In dieser Form können sie wenigstens keinen Schaden anrichten.«
»Aber du mußt uns doch dankbar sein, dass wir dich...«
»Ja. Ich bin euch dankbar. Deswegen bewahre ich euch auch vor Schaden, indem ich euch an einen sicheren Ort bringe, an dem ihr erst einmal lernen könnt, was es bedeutet, Vampir zu sein.«
»In ein... Einmachglas?«
Der Graf stellt das Glas zur Seite und bringt eine Wasserflasche zum Vorschein.
»Was ist das?« fragt Hensel mißtrauisch.
»Weihwasser«, erklärt der Graf. »Keine Angst, es tut nicht weh. Jedenfalls nicht besonders. Du mußt es nur trinken, dann kommst du in das Einmachglas zu den beiden anderen und ich nehme dich mit.«
Hensel zögert.
»Die Alternative«, sagt Schrägl, »wäre, hier auf den Sonnenaufgang zu warten. Dein Fenster liegt ja auf der Ostseite, es dauert also nicht mehr lange. Dann bin ich allerdings nicht mehr hier, um dich aufzusammeln. Deine Asche, meine ich. Das übernimmt dann morgen früh die Putzfrau. Mit Eimer und Lappen und Seife und ... «
Hensel nimmt zitternd die Flasche. »Schon gut, schon gut! Ich trinke ja schon.«
Hensels Gesicht hat bereits die Farbe der Asche angenommen, der er in Kürze Gesellschaft leisten wird.
»Im Jahr 1260 ist es passiert.«
»Wie denn?«
Orthold zeichnete mit dem Finger nachdenklich Kreise auf die Bettdecke. »Ich war Probst im Stift Schrägl. Bauern brachten uns einen Jungen von einem Hof, den sie spät abends bewusstlos aufgefunden hatten. Er hatte diese Bisswunde. Ich habe ihn untersucht.«
»Und er hat dich gebissen?«
»Ja.«
Eine Pause entstand, bis Verena ihre nächste Frage formulierte.
»Wieviele hast Du gebissen?«
»Ich habe sie nicht gezählt. Wieviele Schweine hast du gegessen?« Als Verena das Gesicht verzog, wechselte Orthold das Thema. »Damals hatten wir zwei Könige, Richard von Cornwall und Alfons von Kastilien. Einen Engländer und einen Spanier, der Deutschland nie gesehen hat. Keiner von ihnen hatte wirklich Macht. Das war ganz gut, denn ohne Macht kein Krieg. Es waren recht friedliche Jahre.«
Verena interessierte sich im Augenblick nicht für die Geschichte des Hochmittelalters. »Du bist unsterblich, oder?«
»Das weiß ich nicht genau. Die Narbe an meinem Hinterkopf hast du ja gefunden.«
»Ja.«
»Mit einer Axt kann man mich also nicht umbringen.«
»Gut.«
»Andererseits kann ich zu Asche zerfallen.«
»Oder ewig leben.«
»Ich lebe ja eigentlich nicht.«
Verena sah ihn an, als hätte er im Lotto gewonnen. »Ich habe Lebende gesehen, die einen toteren Eindruck gemacht haben als du.«
Orthold ließ zwei Finger seiner rechten Hand Verenas Oberarm hinaufklettern. »Tot sein finde ich eben ziemlich langweilig.«
»Und über den Tod zu reden, ist auch langweilig.«
»Okay, reden wir also über das Leben.«
»Oder wir tun's einfach. Leben, meine ich.«