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Schwere
Ich wiege zwei Kilogramm zu viel. Das darf nicht sein. Diese zwei Kilo muss ich mindestens loswerden, sonst lassen sie mich hier sterben. Ich möchte zu meiner Familie, von der niemand zu schwer war und die deswegen schon weg durfte. Auch all meine leichten Freunde und Bekannten sind fort von hier. Ich beneide sie. Es gibt nur die Wahl zwischen Weggehen oder Sterben. Und zum Weggehen darf man nicht über fünfundachtzig Kilogramm wiegen. Undurchschaubar und rätselhaft bleibt diese Trennung nach Gewicht. Mit Sicherheit wird es in der neuen Welt einen Frauenüberschuss geben, zumindest bei den schweren Menschenrassen.
So gehe ich auf die Toilette und drücke heraus, was geht. Es kommt nicht mehr viel, weil ich schon seit einer Woche nichts mehr gegessen und kaum getrunken habe. Mein Gewicht ändert sich nicht merklich. Aber ich habe ja noch bis Morgen Zeit. Da könnte sich noch was tun. Den letzten Popel fummle ich von weit hinten aus der Nase und werfe ihn auf den Boden. Es klebt Blut an ihm. Dann mache ich Liegestützen, hopse im Zimmer herum und beuge die Knie, bis ich schwitze. Ein paar Tropfen Schweiss, kaum erwähnenswert.
Meine Sorge wächst. Wie kann ich überleben? Haare und Nägel sind jetzt dran. Ich schneide die Finger- und Zehennägel so kurz bis Blut kommt. Dann verpasse ich meinem Körper eine Komplettrasur. Meine Haut ist jetzt glatt wie bei einer Frau. Doch am Gewicht ändert sich immer noch nicht viel. Der Zeiger der Waage wehrt sich, nach unten zu gehen. Meine Befürchtungen wachsen, dass es nicht ohne Schmerzen gehen wird. Mein Herz pocht und der Blutdruck steigt. Ich spucke ein paarmal, aber auch das hilft nicht.
Ich betrachte meinen nackten Körper. Alles, was nicht angewachsen ist, kratze ich herunter, denn auslutschen kann ich mich nicht. So feile ich Haut von meinen Narben ab, an den Knien und Armen. Dann die Hornhaut an den Füssen. Alles immer bis es blutet. Doch es reicht bei weitem nicht, um spürbar leichter zu werden.
Ich überlege, was ich als nächstes opfern könne. Die kleinen Zehen! Nein! Sie gefallen mir und ich mag keine grossen Schmerzen, freiliegende Knochen und Blutlachen. Aber es steht nicht gut mit mir. Weiterleben muss ich. Mein Kopf dröhnt, während ich meinen Körper absuche. Die Vorhaut könnte vielleicht weg? Es gibt ja viele ohne und die sollen sich dabei wohlfühlen. Leider sind keine Schmerzmittel mehr verfügbar. So werde ich die Schmerzen aushalten müssen. Ich bringe es schnell hinter mich. Mit der Geflügelschere. Meine Finger gehorchen nur unter einem gewaltigen Willen. Die Schere und das Fleisch knirschen; die Vorhaut fällt auf den Boden. Ein wahnsinniger Schmerz lässt mich beinahe ohnmächtig werden und es sieht aus, als ob ich Blut pinkle. Alles sehr schade, früher hätte man wenigstens noch eine Zellkultur aus den Vorhaut-Fibroblasten angelegt. Aber ich stelle mich hier der Realität, um meine Familie wiederzusehen. Auch die Vorhaut ist lächerlich leicht und die angefangene Sache muss weitergehen, wenn ich überleben will.
Die kleinen Zehen werde ich leider nicht behalten können. Ich muss tapfer sein. Heldentaten liegen vor mir. So weh mir das auch tut. Die Schere ist bereit für die nächsten panischen Schnitte. Um keinen der Füsse zu benachteiligen, müssen gleich beide kleinen Zehen weg. Mit einem Knacksen bricht der erste Knochen durch, dann gleich der nächste. Ich könnte schreien vor Schmerzen, beherrsche mich aber. Verglichen mit dem Aufwand ist der Gewichtsverlust enttäuschend. Ich hätte nie gedacht, dass kleine Zehen so leicht sind. So muss ich auch die zweitletzten Zehen entfernen. Auch die wiegen erschreckend wenig. Daher gleich noch die kleinen Finger, wenn ich mich schon zu solch einer abscheulichen Arbeit überwunden habe. Dann aber lassen mich die Knackgeräusche und die Blutschösse doch noch mulmig und weich werden. Ich halte es kaum noch aus vor Schmerzen. So kann ich nicht weitermachen! Die restlichen Finger und Zehen müssen bleiben. Zudem sehen alle Schnitte so aus, als ob ein Theoretiker, der ich nun mal bin, zum ersten Mal Fleisch und Knochen schneidet. Nichts ist glatt, Haut und Fleisch zerfranst, die Knochen gesplittert. Da könnte ich noch viel dazulernen. Gut, dass mich niemand sieht.
Der Überlebenswille treibt mich weiter. Ich bin immer noch zu schwer. Welche massigen Körperteile könnte ich entfernen? Irgendwo einen Knochen rausholen? Ich muss mich aber noch bewegen können. Sonst lassen die mich liegen. Vermehren werde ich mich nicht mehr. Kinder sind schon auf der Welt und, wie gesagt, bereits in Sicherheit. Also werde ich mich von den Hoden am ehesten trennen können. Wieder mit der Schere. Noch nie hat etwas so weh getan. Ich kann nur hoffen, dass sich der Verlust auszahlen wird. Blut sprudelt wie aus einer Quelle auf die Waagskala, so dass ich das Gewicht nicht mehr ablesen kann. Den Hodensack mit seinem Inhalt lege ich auf dem Tisch neben die Finger und Zehen. Diese Ordnung wird man sicher auch berücksichtigen. Das muss man mir sogar hoch anrechnen, weil man doch gleich sieht, dass ich leichter bin!
Noch mehr muss von meinem Körper runter. Die Zähne, die kann man nachbauen. Aber die Schmerzen wären nicht zum Aushalten. Ziehen? Nein, das kann ich nicht. Mit der Flex? Da komm ich nicht ins Maul. Also hole ich die Feile. Ich feile den Schmelz jedes Zahnes soweit herunter, bis es gerade anfängt, weh zu tun. So kann ich die Gesamtschmerzen im Mund noch aushalten. Ich steige auf die Waage. Der Zahnstaub kratzt im Rachen. Auf der Waage sehe ich nur geronnenes Blut. Und immer noch läuft Blut aus all meinen Wunden. Ich muss würgen und mich übergeben. Nur wässriger, bitterlicher Schleim fällt auf die Waage, denn mein Magen ist ja fast leer. Um wieviel ich leichter bin, sehe ich nicht. Es kann aber nicht viel sein.
Ich muss auf jeden Fall so leicht werden, dass sie mich nicht töten. Jetzt kommt es nicht mehr so darauf an. Schmerzen habe ich fast am ganzen Körper. Inmitten meiner Qualen ziehe ich an einer Brustwarze, was normalerweise ein bisschen kitzeln würde. Aber ich fühle nichts mehr. Mit der Schere schneide ich sie ab, dann die andere. Ich sollte mich eigentlich darüber freuen, dass ich kein Bluter bin, denn über den ersten Wunden bilden sich bereits Krusten.
Ich fühle meine Nase ab. Sie ist gross. Doch ich weiss nicht, wie man da was abschneiden kann. Dass ich im Schneiden kein Experte bin, sieht man meinen Wunden an. Aber die Ohrmuscheln! Ja, das sollte gehen. Die anderen müssen den Anblick eben ertragen. Also gehe ich gleich über zur Tat. Schnelligkeit hilft bei schweren Entscheidungen. Beide Ohrmuscheln sollen fallen, wegen der Symmetriegerechtigkeit. Die Arbeit verläuft schmatzend, zäh und reissend. Gut, dass die Haare schon abrasiert sind und ich dem Schneiden nicht zusehen kann. Mit flachen Zähnen und abgeschnittenen Ohren wird der Kopf zu einer dröhnenden Schmerzkugel. Ich lege die beiden Ohrmuscheln schliesslich neben die Finger. Eine beeindruckende Sammlung, die plastiniert werden könnte.
Ich wiege immer noch zu viel und meine Furcht treibt mich weiter. Ich will und darf nicht sterben. Aber wo sitzt denn überhaupt diese elende Angst? Im Kopf, im Dickdarm, oder irgendwo dazwischen? Im Moment, glaube ich, überall. Ich erinnere mich, dass der Darm des Menschen sehr lang sei und man gut auf ein Stück verzichten könne. Mit Ehrfurcht denke ich an die japanischen Helden. Was die können, müsste ich doch auch schaffen. Jetzt werde ich aufs Ganze gehen! Ein Stück Darm mit Inhalt, das müsste viel wiegen. Ich wäre gerettet. Ich nehme ein Messer und ramme es mir in den Bauch. Etwas rechts unten, denn dort sitzt der Blinddarm. Ein wahnsinniger Schmerz durchfährt mich wieder. Er bohrt sich durch den gesamten Unterleib. Wie viele müssen das auf den Schlachtfeldern durchgemacht haben? Dann riecht es wie im Schlachthof, Operationssaal oder auf dem Klo. Da ich weder Chirurg noch Metzger bin und ich mich inzwischen vor Qual auf dem Boden im Blut winde, finde ich den Darm im offenen Bauch nicht. Ich sehe nur Blut und dünnflüssige Scheisse. Ich suche den Blinddarm in einer warmen, weichen und etwas klebrigen Masse. Dann schneide ich irgendetwas Längliches heraus, das ich gerade zu greifen bekomme. Wenn meine Familie nicht im Irgendwo auf mich wartete, ginge ich jetzt schonungsloser mit mir um. Aber meine Familie will mich wiedersehen, ich werde von ihr gebraucht. Ich kann es wirklich nicht riskieren, mich durch Darmverstümmelungen umzubringen. Daher versuche ich – da die Wunde schon mal da ist -, das Fett unter der Bauchhaut herauszuschneiden, aber das Messer ist zu stumpf dafür. Ich nehme die Schere und schaffe es tatsächlich, ein paar Fettfetzen abzutrennen. Diese lege ich ordentlich auf den Tisch neben die anderen Teile. Den Darm taste ich jetzt lieber nicht weiter an. Es schmerzt zu sehr und meine Befürchtungen wachsen, ich könne an einer Darmverschlingung sterben, oder, dass sich die Darmenden, nachdem ich ein Stück herausgeschnitten hätte, nicht mehr zusammenfügen liessen. Damit wäre letztendlich nichts gewonnen. Ich trenne noch ein paar Hautfetzen ab und lege mich auf den Bauch, so dass möglichst viel Darminhalt herausläuft und mich leichter werden lässt. Es kommt auch noch viel Blut. Schade um das Hämoglobin, das hätte ich sicher bei der bevorstehenden Reise gebrauchen können. Auch mein Immunsystem wird schwach sein. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht ans Blutspenden gedacht habe; aber der Markt für Menschenblut ist sicher verschwunden. Auf jeden Fall muss ich um einige Gramm leichter geworden sein und habe damit möglicherweise mein Ziel endlich erreicht: mindestens zwei Kilogramm weniger! Ich will noch Fett aus meinem Gesäss schneiden. Aber vor Schmerzen und Schwäche kann ich mich nicht mehr drehen.
Ich bin vorne vollkommen mit Blut und Darmsaft versaut. Dabei muss ich zufrieden sein, dass kaum feste Partikel dabei sind, weil ich genug gehungert habe. Die Entzündungen werden nicht stark sein. Ich atme schwer aber gleichmässig und ich denke daran, dass ich mit jedem Atemzug um zehn Milligramm leichter werde. So kann ich bis Morgen noch ein paar Gramm abnehmen. Ich freue mich über den an Sauerstoff gebundenen Kohlenstoff, den mein Körper so ganz ohne Schmerzen entfernt. Mit diesem Trost lege ich mich hin und versuche trotz der Wunden einzuschlafen. Ich rede mir ein, dass ich eigentlich ein starker und immer noch schöner Mann sei, nun eben ein Held, der ein weiches Bett braucht.
Am folgenden Morgen holen mich die fremden Lebewesen ab. Mein ganzer Körper ist noch mit Schmerzen übersät. Es sticht und brennt und beisst. Ich weiss nicht, ob die kleinen Kunststoffwesen, die mich umringen, überhaupt eine Vorstellung von solchen Qualen haben. Ich kratze noch schnell etwas von der Oberfläche der Blutgerinnsel ab. Besonders vom Bauch kann ich ein grosses Teil entfernen und verliere dabei noch ein paar Tropfen Blut. Ich zittere; die Entscheidung kommt gleich. Die Kunststoffwesen führen mich in einen anderen Raum und dort zu einer sauberen Waage. Ich bringe kaum meine Füsse auf die Waage; so nervös bin ich. Doch der Zeiger bleibt knapp unter der roten Markierung. Ich bin gerettet.
Als wir aus dem Gebäude gehen, stehen draussen Scharen dicker und nackter Menschen. Sie alle werden hierbleiben und sterben müssen. Eine Frau mit riesigen Brüsten schreit erschrocken, wie ich denn aussehen würde. Überhaupt starren mich die wenigen Frauen entsetzt an; die Männer scheinen mich eher zu beneiden, weil ich als einziger wegkomme. Dabei dachte ich, Frauen würden nicht so sehr auf das Äussere achten. Gerade jetzt, wo ich Heldentaten hinter mir habe. Ein Mann versucht zu mir zu kommen. Die Kunststoffwesen bilden aus ihren weichen Körpern sofort stabförmige Fortsätze, mit denen sie den Mann berühren. Er zuckt zusammen und bleibt stehen. Es riecht nach verbranntem Fleisch. Auch mich berührt so ein Stabglied an der Hüfte, aber scheinbar aus Versehen. Ich gehe reflexartig zur Seite, es fühlt sich an wie ein Elektroschock. Es bleibt ein roter, schmerzender Brandfleck.
Ich habe es wirklich geschafft; ich darf weggehen. Man bringt mich in die Raumkapsel. Zehn der Kleinen steigen mit ein. Aber mir ist nicht klar, warum die ganze Prozedur notwendig war. Ginge es nur um das Gewicht, so hätte doch einfach einer der Kleinen nicht mit einsteigen müssen. Alle Verstümmelungen nur wegen einer Zahl? Einer Zahl, die über Leben und Tod entscheidet. Sie hätten doch auch eine Farbe nehmen können, dann wäre die Entscheidung nicht so digital, hellbraun oder dunkelblond zum Beispiel. Da könnte man sich noch rausreden, oder nachfärben.
Ich weiss immer noch nicht, wer die Kleinen sind und was sie auf der Erde wollen. Kein Mensch weiss es. Fühlen sie wie Menschen, wie Tiere, fühlen sie überhaupt nicht oder ganz anders? Wie sehen sie im Innern aus? Blut und Knochen werden sie nicht haben. Drähte oder Flüssigkeiten? Schleim oder Zellen? Sie sind sehr flexibel. Gummiartig. Gliedmassen formen sich und verschwinden wieder. Vielleicht sind sie die Roboter anderer Lebewesen. Ich habe nur erfahren, dass sie einen anderen Planeten ansteuern. Dort sollen die anderen, die Leichten, sein.
Das Raumschiff fliegt. Ich bin festgebunden, ohne Rücksicht auf meine Wunden. Alle Sprechgeräte sind ausgeschaltet. Aber das ist auch gut so, denn wenn die Kleinen den Menschen etwas mitteilen, ist das meist nicht erfreulich. Wie lange wird der Flug dauern? Was passiert inzwischen auf der Erde? Wie töten die Kleinen? Auf Schmerzen nehmen sie sicher keine Rücksicht.
Die Beschleunigung lässt nach und die Gurte spannen nicht mehr. Endlich kann ich ausruhen und über die neue Welt nachdenken. Gibt es dort ein Fünfundachtzigkilo-Rahmengesetz? Wenn ja, kann man natürlich nichts dagegen machen. Nur gut, dass solche Gesetze auch wieder verschwinden. Auf jeden Fall wäre das Gesetz fast schon überflüssig, denn es gäbe ja bald niemanden mehr über fünfundachtzig Kilogramm. Wie auch alles sei, ich jedenfalls freue mich, meine Familie wiederzusehen. Die werden staunen, dass ich noch komme.