Schwindelnde Höhen
Die Schulglocke schellt, dieses scheppernde, unangenehme Getöse, das Schularbeiten, in denen man auf mysteriöse Weise nie fertig wird, auf brutale Art beendet, das die kommende Stunde, für die man die Hausaufgaben vergessen hat, ankündigt und das Zuspätkommenden ein schlechtes Gewissen gibt.
Ich bin natürlich wieder zu spät dran. Lasse das Fahrradschloss einrasten, nehme den alten Ranzen, gehe halb laufend, halb die Würde wahrend zum Schuleingang.
Dirk steht da, eine selbstgedrehte Kippe im Mundwinkel, süffisant grinsend: „Zu spät, Herr Rauch?“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch, was solls. Egal was ich antworte, er würde sich über mich lustig machen.
„Kommst du nicht?“, frage ich also neutral.
„Ist der Herr Hein schon einmal pünktlich zum Stundenbeginn gekommen?“, lautet seine Gegenfrage. Herr Hein, Mathelehrer, eigentlich ein lieber Lehrer, noch weniger motiviert als seine Schüler. Kommt systematisch zu spät.
Ich drücke die Glasschwingtür des Haupteingangs auf, laufe durch die Eingangshalle, die schwarzen Kunstmarmortreppen hinauf. Immer weiter, Stufe um Stufe, in den dritten Stock, unters Dach der Schule. Es ist wahr, ich bin dort angekommen. Auf die oberste Etage der Schule, letzte Schulwoche, dann Abiprüfungen. Ein blödes Gefühl. In zwei Monaten ist alles vorbei.
Das Treppensteigen hat mich doch angestrengt, ich atme schwer. In engen Jeans kann man eben nicht schnell Treppen hochlaufen.
Dort stehen sie vor dem Kursraum, allein für sich, vor sich sinnend hinschweigend, oder in Grüppchen, Smalltalk.
Gregor beharkt die gackernden Hühnchen unseres Kurses. Siebte Stunde, alle denken nur an den Nachmittag nach der Mathestunde, und er gräbt und gräbt. Heute ist die letzte Kursstunde, aber unser Gigolo, unser Kurs-Chameur flirtet, was das Zeug hält, so als ob es ein Abitur nicht gäbe. Und die Mädels wollen abgelenkt werden. Recht haben sie, einen Moment lang wäre ich auch gern ein Gigolo, alles vergessen, nur eines wissen: Alle Frauen lieben mich.
Komisch, heute, das alles ein letztes Mal, vor dem schallenden Ende…
Brillen-Stefan steht allein an der kalten Flurwand, wie immer, auch das wohl für alle Ewigkeit, und er stiert stumpfsinnig Zahlenlöcher in die Gangdecke. Der wartet nur auf den Stundenbeginn, um uns an seinen gemachten Erkenntnissen und säuberlich in sein Kursheft eingetragenen zu ersticken. Mir ist heiß.
Ich öffne das große Schiebefenster des Flurs. Der schwere Alurahmen rutscht langsam quietschend auf. Eine Windböe verschafft mir Kühlung. Da ist sie die Frühlingssonne, sie tritt hinter einer Regenwolke hervor. Drei Stockwerke unter mir breitet sich der Schulhof aus. So klein von hier oben. So viel Zeit habe ich hier verbracht. Wie weit ist das jetzt entfernt. Mir wird schwindelig.
Dirk sitzt immer noch auf seinem Mofa, raucht wohl seine dritte, lacht mit dem dicken Holger aus der 12, wird wie immer den Mathekurs, auch diesen letzten, schwänzen. Ich bin neidisch. Er ist so weit weg da unten, locker-lässig, fährt gleich weg, kümmert sich einen Dreck um das Abi, und ich? Der Wind bewegt mich, erhebt mich, ich schwebe…
„Mensch, du kannst ja rausfallen“, sagt Brillen-Stefan und schiebt das knirschend-schreiende Schiebefenster wieder zu.
Hein kommt.
Auf der Stirn seiner Brille dicke Schweißtropfen. Schlüsselklappern. Der Kursraum wird klackend aufgesperrt.
Die Stufenkameraden drängen wüst vorbei. Getrappel, Stuhlgeschiebe, Gemurmel. Auch ich nehme den Holzstuhl von meinem grauen Tisch, zweite Reihe, dritter Platz vom Mittelgang aus. Ranzen auf, Kuli, Heft, Übungsaufgaben raus.
Mechthild kommt auf den letzten Drücker, setzt sich neben mich. Die patente Frau im Kurs, was sage ich, unseres Jahrgangs. Managt sich und alle Situationen. Hat keine Angst, weder vor dem Schulende noch vor dem Abi. Sie packt ihr Häkelzeug aus. Ultimes Zeichen weiblicher Leck-mich-Haltung. Irgendwie habe ich Ehrfurcht vor ihr.
„Wer trägt die Übungsaufgaben vor?“, fragt Hein uninteressiert. Der arme Mann, jedes Jahr das Gleiche und das seit gut zwanzig Jahren.
Stefans Zeigefinger zuckt in den leeren Höhen des Kursraums.
Alle anderen ducken sich instinktiv. Alle außer Mechthild natürlich. Gregor schwätzt mit einem Küken in der letzten Reihe.
„Weißt du, wie das geht?“, raune ich Mechthild zu.
„Das haben wir doch letztes Mal durchgesprochen“, ist ihre etwas hölzerne, laute Antwort, meinen verschworenen Unterton vollkommen ignorierend.
Letztes Mal? Erinnerungslücke.
„Du hast gefehlt“, hilft mir meine Banknachbarin auf die Sprünge und nimmt ihre Häkelarbeiten auf, während Brillen-Stefan anfängt, die grüne Tafel mit Kreidezahlen zu füllen.
Stimmt, ich war nicht da. „So schlimm ist das auch wieder nicht“, relativiere ich meine nicht erbrachte Leistung.
„Du willst doch Abi machen in Mathe“, erinnert mich Mechthild an meine Pflichten.
Ja, das ist richtig. „Revidierst du schon mit den Übungsaufgaben?“, will ich wissen.
„Na klar.“
„Bist du mit den besonderen Funktionen und Ableitungen schon durch?“, erinnere ich mich eines besonders leidigen Themas.
„Na klar, und du?“
„Ich arbeite dran. Sind die Übungsblätter schwer?“
„Geht“, antwortet die Alleskönnerin.
„Ist es viel?“
„Für dich schon.“
„Warum?“
„Wo sind deine Geometrie-Übungsblätter?“
Gute Frage. Ich blättere in dem Stapel eselsohriger Blätter auf dem Tisch. Keine Geometrieaufgaben. In meinem Ranzen herrscht darüber hinaus gähnende Leere.
„Tja vergessen“, entschuldige ich mich.
„Vergessen? Du hast sie gar nicht“, weiß Mechthild. „Dabei ist Geometrie richtig viel Arbeit.“
Das wird viel Nacharbeit, denke ich. Doch Mechthild ist richtig in Fahrt: „Wie viel Zeit hast du dir vorgenommen zum Lernen?“
„Zwei Wochen“, antworte ich nach kurzem Überlegen.
„Zwei Wochen für zweieinhalb Jahre Unterricht? Und du hast noch nicht mal die Übungsaufgaben für die Integralrechnung gesehen…“
Sie schüttelt den Kopf, ich wende mich ab, drehe mich weg, wälze mich herum, der Wecker steht auf 4 Uhr 10. Mein Kopfkissen ist schweißnass.
Ich muss an heute Vormittag denken. Um 9 Uhr Präsentation meines Produktionskonzepts vor der Geschäftsleitung.
Ich sehe sie schon vor mir. Die Mitglieder der Geschäftsleitung, den Alten, der mich müde aufrufen wird: „So Rauch, jetzt tragen Sie mal vor.“ Am liebsten wäre der Seniorchef in seinem Gewächshaus, würde den ganzen Firmenrummel seinem Filius überlassen.
Doch der steht immer noch bei den Sekretärinnen im Vorzimmer, bringt sie zum Lachen.
„Kommst du bitte auch?“, lautet die eigentlich geduldige, aber im Unterton genervte Aufforderung des Alten an den Juniorchef.
Und dann muss ich zeigen, was ich vorbereitet habe.
Unsere Krähe, der bebrillte Finanzchef, wartet schon auf meinen ersten Rechenfehler.
Und die Verkaufschefin wird mir sagen: „In welchem Zeitrahmen wollen Sie die Produktion umstellen, Herr Rauch? In einem Jahr für eine Firma, die 30 Jahre lang gewachsen ist?“
Mir wird schwindelig. Klar, die werden mich rausschmeißen. Am liebsten wäre ich weit weg von hier.
Ich mache die Nachttischlampe an und drehe mir eine. Ich stecke sie an, atme durch. Wische mir den Schweiß von der Stirn.