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Schwul!
von Stephan Möller
kennt ihr mich?
Wisst ihr nicht, wer ich bin?“
(Böhse Onkelz)
„Dieses verdammte Scheißbett!“ Steffen platzte der Kragen. Er hatte sich gerade zum dritten Mal in zwei Tagen den Kopf gestoßen, als er sich in seinem Bett aufsetzen wollte. Das Bett war ein Hochbett – ein Doppeldeckerbett, wie er es als Kind immer genannt hatte – und er hatte natürlich das untere erwischt.
„Nur die Ruhe, mann“, versuchte Jan – sein bester Kumpel –, ihn zu beruhigen.
„Ach, lass mich“, fauchte Steffen ihn an.
„Ist ja schon gut – komm mal runter, Alter!“ Jan drehte sich um und wendete ihm den Rücken zu.
Sie waren mit ihrer Klasse – der 10c eines Wilhelmshavener Gymnasiums – auf Klassenfahrt in Dänemark. Die Jugendherberge an sich war nicht schlecht – es gab jede Menge Freizeitbeschäftigungen wie einen Fussballplatz, einen Raum mit Tischtennisplatte, Billardtisch, Kicker und so weiter, ein Volleyballfeld und noch weitere Dinge; und auch das Essen war in der siebten Klasse auf Wangerooge deutlich schlechter gewesen –, aber die Zimmer waren eine Katastrophe: der Abstand zwischen den Betten war viel zu klein, und außerdem waren diese auch noch zu kurz, sodass Steffen mit seinen 1 m 88 in der Nacht fast seine Füße auf dem Kissen von Mark hatte, der auf dem anderen Doppelbett unten schlief.
Und als ob das nicht schon Grund genug für Steffens miese Laune war, war da noch Melanie, die sich in ihn verliebt hatte. Er hatte kein Problem mit Melanie – sie war nett, beliebt und hübsch. Nein, aber da gab es ein anderes Problem.
Das Problem war seine Homosexualität.
Er war schwul, aber er traute sich nicht, es ihr beizubringen. Zum einen war da die Angst, ihr wehzutun; aber zum anderen die Hemmung, ihr zu „beichten“, dass er schwul war, und das war das eigentliche Problem: er würde nicht sagen, dass er Probleme mit sich selbst hätte, aber dennoch hatte er ... keine Angst, sondern eher eine Hemmung, „es“ anderen zu erzählen. Er hatte es einmal bei seiner Mutter versucht, das aber ganz schnell wieder gelassen, als er ihre zunehmend komischer werdenden Reaktionen bemerkt hatte; und einmal wollte er es auch Jan – seinem besten Freund – sagen. Er hatte gewartet, bis die beiden alleine waren, und dann Andeutungen in eben diese Richtung gemacht, aber Jan hatte sie nicht verstanden und dann hatte sich wieder Steffens alte „Outing-Angst“ breit gemacht, sodass er es gelassen hatte.
Er würde sich gerne outen – es gäbe wesentlich weniger Probleme, wenn es alle von ihm wüssten, dessen war er sich sicher –, aber er traute sich einfach nicht.
„Hallo, träumst du“, sagte Jan und fuchtelte mit seiner Hand vor Steffen herum.
„Oh“, sagte dieser und wurde rot, „sorry, war gerade in Gedanken. Was hast du gesagt?“
„Ich habe gefragt, ob du Bock hast, Billiard gegen mich zu spielen.“
„Eigentlich nicht – ich verlier sowieso.“
„Ach komm schon, oder biste `ne Schwuchtel?“
Ja, bin ich, dachte sich Steffen, sprach es aber nicht aus. Was sollte er machen? Er würde sich ja gerne outen, er würde es gerne der ganzen Welt erzählen, aber was, wenn Jan – sein bester Kumpel, mit dem er über fast alles sprechen konnte – dann nicht mehr mit ihm redete, weil er keinen Bock hatte, „mit `ner Schwuchtel befreundet zu sein“, oder so? Oder noch schlimmer: was, wenn seine Eltern ihn herauswerfen würden? Dass sein Vater gegen Schwule war, offenbarte er bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, und seine Mutter mit ihrem beschissenen Katholikengehabe würde auch nicht allzu begeistert sein.
Aber Melanie würde er`s erzählen ... das hatte er soeben beschlossen, und er war sich ziemlich sicher, dass er nicht wieder einen Rückzug machen würde. Mädchen verstanden sowas besser, die meisten waren sogar froh, einen schwulen Freund zu haben, mit dem sie über Frauensachen quatschen konnten, aber trotzdem einen Männer-Sichtweise zurückbekamen. Das hoffte er zumindest, aber wer sagte ihm, dass das nicht irgendein Fernsehklischee war? Außerdem war Melanie in ihn verknallt – da sah die Sache dann schon wieder ein bisschen anders aus.
Ach, draufgeschissen, sagte er sich selbst. Ich mach`s einfach ... was hab ich bei ihr schon zu verlieren?
Jan und Steffen spielten Billiard. Wie ihm schon von vornherein klargewesen war, verlor Steffen haushoch, aber das lag nicht unbedingt – oder zumindest nicht nur – an seinen äußerst bescheidenen Billiard-Kenntnissen, sondern daran, dass Melanie zusah und ihm immer, wenn er zu ihr hinsah, zulächelte. Das machte ihn nervös – er lächelte immer zurück, aber würde sie nicht genau daraus schließen, dass er sie auch mehr als nur „mochte“?
„Boah, konzentrier dich doch mal auf`s Spiel“, blöckte Jan ihn an. „Kein Wunder, dass du verlierst, wenn du nur Augen für Melanie hast!“
„Stimmt doch gar nicht, du Arsch“, machte Steffen Jan an – doch noch im selben Moment tat es ihm leid.
„Mann, reg dich ab, so war`s doch nicht gemeint“, versuchte Jan, die Situation zu retten, aber Steffen nahm das kaum war, denn Melanie war aufgesprungen und rannte aus dem Aufenthaltsraum hinaus in Richtung Mädchentrakt – ihr Gesicht war purpurrot angelaufen und Steffen meinte, Tränen in ihrem Gesicht sehen zu können.
Er sah Jan an und wollte ihm mit bösen Blicken ein schlechtes Gewissen bescheren – doch Jan musste sich nur ein Lachen verkneifen. „Du bist so ein dummes Arschloch, weißte das“, sagte Steffen ihm ins Gesicht und ging ebenfalls aus dem Aufenthaltsraum.
Er lief Melanie nach und hoffte, dass sie noch allein war, wenn er sie einholte. Warum hatte Jan nicht einfach die Klappe halten können?
„Melanie“, rief er. Er war um die Ecke gebogen und hatte gerade noch gesehen, wie sie in ihr Zimmer ging. Doch anscheinend hatte sie ihn noch gehört, denn die Tür, die fast zugefallen wäre, ging wieder auf und Melanie guckte schüchtern heraus. In ihrem Kopf arbeitete es, das konnte Steffen in ihren Augen sehen. Wahrscheinlich dachte sie gerade darüber nach, ob sie mit ihm reden oder ihn in den Wind schießen sollte, nachdem er sie gerade verleumdet hatte.
Steffen wurde es bange. Bitte, red mit mir, dachte er. Bitte, bitte, bitte!
Anscheinend gab es einen Gott, der sein Bitten erhört hatte, denn sie machte die Tür jetzt ganz auf und kam heraus. „Was ist“, fragte sie mit harter Stimme, die aber dennoch gebrochen war – so, wie nach dem Weinen, und tatsächlich rollten ihr Tränen über das Gesicht.
„Kann ich dich kurz irgendwo sprechen, wo wir alleine sind“, fragte Steffen, immer noch mit einem schlechten Gewissen.
„Hmh.“ Sie nickte. „Am Strand?“
„Ja, okay!“
„Ich will mir noch eben was Warmes anziehen – in einer Viertelstunde?“
„Geht klar.“
Das Jugendheim, in dem sie wohnten, lag direkt an der dänischen Nordseeküste, sodass man nur vom Gelände herunter und einmal über die Düne musste, um am Strand zu sein, der auf den ersten Blick sehr ungemütlich aussah mit dem Sand, der bedingt durch das Wetter ständig feucht war, und dem ausladenden grauen Meerwasser. Doch wenn man am Strand nur etwa hundert Meter weiter nach Norden ging, kam man zu einem alten, verlassenen Ruderboot, das eine prima Sitzgelegenheit bot, wenn man sich ungestört unterhalten wollte.
Kaum hatte er sich hingesetzt, erschien Melanie am Strand, sah sich kurz um und entdeckte ihn dann winkend im Boot sitzend. Während sie auf ihn zu kam, überlegte Steffen nochmals, wie er „es“ ihr sagen sollte. Er dachte hin und her, aber er fand nichts Plausibles, und dann war sie auch schon da.
„Hi“, sagte sie und setzte sich neben ihn.
„Hallo“, erwiderte er und rückte etwas zur Seite, um Platz für sie zu machen.
In den nächsten Sekunden entstand eine furchtbare Stille, da Steffen nachdenken musste, wie er anfing, und sie wahrscheinlich darauf wartete, dass er endlich begann zu reden. Tu es, sagte ihm eine Stimme in seinem Hinterkopf. Tu es jetzt, oder du wirst es nie hinter dich bringen! Also begann er.
„Du, ich muss dir was sagen“, begann er und fand, dass sich seine Stimme ganz, ganz furchtbar anhörte ... so dünn und schüchtern irgendwie.
„Ja, ich weiß, ich dir auch.“ Also hatte sie doch nicht nur abgewartet, sondern auch über den Anfang nachgedacht? Oder hatte sie doch gewartet, weil sie auf dem, was er ihr sagen würde, aufbauen wollte?
Scheiß doch drauf, meldete sich die Stimme zurück. Sag es ihr endlich!
„Ähm ... ja ... .“ Na toll, das fing ja großartig an.
„Keine Panik“, sagte Melanie. „Ich denke, ich weiß eh, worauf du hinauswillst.“
„Nein, das glaube ich eher nicht.“ Gut, jetzt war sein Alibi-Geständnis dahin, jetzt gab es keinen Rückzug mehr: er musste ihr hic et nunc die Wahrheit sagen. „Ähm ... .“ Er stockte erneut. Wie sollte er es ihr nur sagen? „Aber du musst mir versprechen, dass du es keinem erzählst“, kam es dann aus ihm heraus. Nicht, dass er erwartet hatte, dass sie es nicht für sich behielt, wenn er sie nicht drauf aufmerksam machte, aber das war – so hatte er gerade beschlossen – der beste Weg, es ihr beizubringen.
„Du ... du willst mir doch sagen, dass du mich liebst, oder“, stammelte Melanie hervor. Wow, dachte Steffen bei sich, das war ein Schlag ins Gesicht. Also nun, alles oder nichts!
„Nein – aber geh jetzt bitte nicht, das war es nicht, was ich dir sagen wollte.“ Aber das zu sagen war überflüssig, denn sie wäre so oder so nicht gegangen: Tränen liefen ihr wieder über das Gesicht und sie kauerte sich zusammen als wäre ihr kalt, obwohl die Lufttemperatur eigentlich angenehm war und sie einen dicken Wollpulli trug.
„Das wollte ich dir aber sagen“, kam sie nun auch aus der Reserve. Sie sah hoch und ihre schönen, jetzt aber vom Weinen geröteten Augen sahen ihn an. „Ich liebe dich.“
Er nickte. „Ich weiß.“ Boah, war das doof. Das war das Dümmste, was er hätte sagen können, dennoch wiederholte er es etwas leiser und einfühlsamer: „Ich weiß.“ Ihm kamen nun auch die Tränen – jetzt war es soweit. Er würde es ihr sagen. „Aber ... .“ Seine Stimme versagte ihm. Er räusperte sich und versuchte es erneut. „Aber ich kann dich nicht lieben ... es tut mir leid, aber ... da ist etwas, was du wissen musst.“
„Liebst du jemanden anders?“
Er war versucht, „Ja“ zu sagen, aber was hätte das gebracht? Jetzt war er schon soweit, also musste er es zu Ende bringen – in jedem anderen Fall würde er nicht nur Melanie sondern auch sich selbst auf das Übelste belügen, also schüttelte er den Kopf.
„Nein“, fragte sie und schniefte.
Erneut schüttelte er den Kopf. „Nein“, schluchzte er.
„Was ist es dann?“
Er holte tief Luft, schniefte noch einmal und sprach es dann einfach aus. „Ich bin schwul.“
Im Nachhinein hatte er keine Ahnung mehr, wie und in welchem Tonfall es über seine Lippen gekomen war, aber es musste in einem ziemlichen Tempo gewesen sein, denn innerhalb von einer Sekunde war es draußen und er hörte, wie Melanies Schluchzen versiegte. Er konnte sich vorstellen, wie sie jetzt verwundert mit ihren verweinten Augen zu ihm aufsah, aber er hatte sein Gesicht in seinen Händen vergraben und traute sich nicht, sie wegzunehmen – er hatte Angst vor dem Ausdruck in ihrem Blick. War sie enttäuscht? Verletzt? Oder gar sauer auf ihn?
Doch als er aufsah, merkte er, dass es keines davon war. In ihrem Blick spiegelten sich Verwunderung und – natürlich – auch ein kleines bisschen Traurigkeit wieder, aber den größten Anteil trug – jetzt zu Steffens Verwunderung – Freude.
„Echt“, fragte sie.
„Ja, sicher.“
„Du erzählst mir das nicht nur, um mich loszuwerden, weil du `ne Andere hast?“
„Nein. Das ist wirklich mein Ernst: ich bin schwul.“
Und wieder war es ihm über die Lippen gekommen. Diese drei Worte, vor denen er sich so lange gefürchtet hatte, die er nie ausgesprochen, und die er jetzt gleich zwei Mal gesagt hatte: Ich bin schwul!
„Warum ... warum freut dich das so“, fragte er. „Ich meine ... ich denke, du bist in mich verliebt. Wieso bist du so froh, dass ich auf Jungen stehe?“
„Keine Ahnung“, sagte sie, „ich bin einfach froh, dass du mich vorhin nicht abgelehnt hast, weil du mich nicht magst, sondern weil es einen anderen, viel besseren Grund gibt. Und dass du mich magst, weiß ich jetzt, sonst hättest du mir nicht so weit vertraut und es mir erzählt – denn sonst dürfte es doch keiner wissen, oder?“
„Nein.“
„Na also ... .“ Sie lächelte nun wieder und legte einen Arm um ihn. „Und außerdem habe ich jetzt einen schwulen Kumpel – das hab ich mir schon länger gewünscht.“
Nun konnte er auch wieder lachen. Es fielen ihm nicht nur Steine, sondern riesige, tonnenschwere Brocken vom Herzen, dass es Melanie nicht kränkte oder traurig machte, und dass sie außerdem noch dazu bereit war, die Freundschaft zu halten.
„Aber sag mal“, setzte sie etwas zögerlich an und Steffens Euphorie verflog sofort wieder – jetzt kam bestimmt die Einschränkung. „weiß denn nicht mal Jan davon?“ Puh, doch nicht ... aber dafür eine Frage, die ziemlich unbequem war.
„Nein ... sonst hätte er vorhin nicht diesen doofen Satz rauskrakeelt, oder?“
„Nee, stimmt schon, hast Recht ... aber warum nicht?“
„Ach, weißt du – ich hatte bis vor fünf Minuten immer riesige Probleme damit, darüber zu reden, dass ich schwul bin. Oder, um genauer zu sein: ich konnte nicht darüber reden. Ich hab`s einmal bei Jan versucht, indem ich Andeutungen gemacht habe ... aber er hat`s nicht kapiert, und ich konnte halt einfach nicht darüber reden, verstehst du? Das hat mich gerade eine riesige Überwindung gekostet, es überhaupt dir zu sagen.“
Sie nickte. „Und deine Eltern?“
Tja, seine Eltern. „Da geht in der Hinsicht gar nichts! Ich hab einmal versucht, es meiner Mutter zu erzählen. Hab sie halt gefragt, ob sie was dagegen hätte, wenn ich schwul wäre. Dann ist sie mir mit irgendwelchen katholischen Moralvorstellungen gekommen und hat schließlich gefragt, ob ich es bin. Da hab ich dann schnell den Kopf geschüttelt.“
„Kann ich verstehen ... ehrlich.“ Eine kurze Pause entstand, die Melanie dann aber sofort wieder unterbrach. „Und was ist mit deinem Vater?“
„Ach der ... ich glaube, bei dem sollte ich gar nicht erst fragen, ob er was dagegen hätte, wenn ich schwul wäre – der würde mich sofort rausschmeißen!“
„Wirklich?“
„Naja ... weiß nicht, ob`s so extrem sein würde, aber er tut bei jeder Gelegenheit seine Meinung über Schwule kund.“
„Dann tust du mir ganz schön Leid ... .“
„Danke.“ Erneut kamen ihm die Tränen.
„Ach, komm mal her“, sagte sie und umarmte ihn.
Es war ein schönes Gefühl für ihn ... einfach nur wissen, dass es jemanden gab, dem man sich anvertrauen konnte. Er spürte, wie sich große Dankbarkeit in ihm breitmachte.
Irgendwann löste sie ihre Umarmung wieder, ohne dass Steffen hätte sagen können, wie lange sie gedauert hatte.
„Aber wenn ich nochmal auf das Thema kommen darf ... .“ Sie sah ihn an, er nickte. „Meinst du nicht, du solltest es zumindest Jan sagen?“
„Ich weiß nicht ... eigentlich schon, und ich will es ihm ja auch sagen, aber ... es ist so schwer.“
„Ich weiß ... ich versteh das! Aber dennoch ... überleg es dir!“
„Werd ich machen ... versprochen!“
Wieder entstand eine Pause, die diesmal aber etwas länger anhielt. „Wollen wir gehen“, sagte Steffen, nachdem sie sich etwa eine Minute lang angeschwiegen hatten.
„Ja, lass machen.“
Also standen sie auf und gingen zurück zum Jugendheim.
„Wo kommt ihr her“, kam ihnen Frau Wücke – ihre Klassenlehrerin – wütend entgegen. „Ihr wisst genau, dass ihr nicht alleine oder zu zweit an den Strand sollt!“
„Entschuldigung, aber wir ...“, versuchte Steffen, eine Ausrede hinzubekommen, aber Frau Wücke ließ ihn nicht.
„Ich will nichts hören! Ihr habt nachher beide Küchendienst!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand.
Steffen kam auf sein Zimmer, wo Jan, Mark und Alex saßen. Er sah sie an und setzte sich auf sein Bett. „Hör mal ...“, begann Jan. Also wollte er sich anscheinend entschuldigen.
„Warte mal ...“, kam Steffen ihm dazwischen. „Ich muss mal mit dir reden. Hast du vielleicht Zeit, irgendwohin zu gehen?“ Er sah zu den anderen beiden. „Sorry, Jungs, aber ... .“ Er wusste nicht, was er sagen sollte – wahrscheinlich würden sie beleidigt sein, wenn er ihnen erzählte, dass er ein Geheimnis hatte, das er Jan erzählen wollte, ihnen aber nicht; deshalb zuckte er einfach nur mit den Achseln.
„Schon gut“, sagte Mark, also gingen Jan und Steffen raus.
Sie schlenderten über das Gelände des Jugendheims. Vorbei am Volleyballfeld, wo ein paar Mädchen mehr schlecht als recht versuchten, den Ball hin und her zu pritschen und dann auf das gegnerische Feld zu schmettern; vorbei am Fußballplatz, wo zwei Jungen Elfmeterschießen spielten; und auch vorbei an den zwei Außentischtennisplatten, die so gut wie nie benutzt wurden, jetzt aber von Frau Ellendorf und Herrn Meissner – den beiden mitgereisten Sportlehrern – belegt waren.
Sie gingen, bis sie zu einem kleinen Rondell kamen, an dessen Rand Bänke standen. Das Rondell war fast völlig von Bäumen umgeben, nur der Weg, über den man hierher kam, war frei. So war man hier schön unbeobachtet und wenn man sich ganz ans hintere Ende des Rondells setzte auch sicher vor Lauschern.
„Du“, begann Jan, „ich wollte mich entschuldigen für das, was ich vorhin gesagt habe. Aber irgendwie war ich wohl eifersüchtig auf Melanie, dass du viel mehr auf sie geachtet hast, als auf mich und unser Spiel.“
„Ist schon okay ... ich habe mit Melanie geredet und ... .“ Und ihr etwas erzählt, das ich dir jetzt auch erzählen möchte, hatte er sagen wollen, aber Jan unterbrach ihn.
„Seid ihr jetzt zusammen“, fragte er interessiert.
„Nein ... genau darüber will ich ja mit dir reden: ich bin nicht in Melanie verknallt.“
„Hä? Komm, mann, das kannst du mir doch nicht erzählen! Du hattest vorhin nur Augen für sie!“
„Ja, aber ... nicht deshalb.“ Er machte eine Pause. „Du ... ich muss dir was erzählen!“
„Und was?“
„Ähm ... .“
„Ja?“
„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.“ Steffen merkte jetzt, dass es bei einem Jungen doch etwas anderes war. Jan war sein bester Freund, seit er denken konnte, und der Gedanke, dass er etwas gegen seine Homosexualität haben könnte, war irgendwie niederschmetternd. Bei Jungen – das merkte Steffen jetzt – war das doch etwas anderes, da diese eher direkt „betroffen“ waren, als Mädchen.
„Komm schon ... mir kannst du`s erzählen!“
„Behältst du`s für dich?“
„Klar ... du kennst mich doch!“
„Naja ... ich ... ich ... .“ Er holte einmal tief Luft und presste es dann heraus, damit es vorbei war: „Ich bin schwul!“ Und so war es jetzt draußen. Steffen wagte es nicht, seinen (ehemals?) besten Kumpel anzusehen, aus Angst, dass dieser sich angewidert abdrehen würde.
„Wirklich? Oder willst du mich jetzt verarschen?“
Steffen sah hoch und blickte in ein verwundertes und zweifelndes Gesicht, aber nicht in ein angeekeltes. Soweit so gut. „Nein ... das ist mein Ernst!“ Wieder entstand eine kurze Pause, in der er nachdachte. Hoffentlich, dachte er, macht`s ihm nichts aus!
„Und ... und ... seit wann weißt du das?“
„Schon länger ... keine Ahnung. Ich hätt`s dir echt schon früher erzählt, aber ich hatte einfach Angst, dass ... dass ... dass dich das anekelt.“
„Ach, was, du kennst mich doch. Du bist mein bester Kumpel, und das wird sich auch so schnell nicht ändern ... egal, ob du auf Weiber stehst oder auf Typen.“
Steffen musste lachen – das aus Jans Mund zu hören, war irgendwie lustig. Jan, der sonst gerne „Schwuchtel“ und „schwul“ als Schimpfwörter benutzte, jetzt aber so lässig darüber redete.
„Aber hey“, unterbrach Jan nochmal sein Lachen, „wie merkt man sowas eigentlich?“
„Ach, weißt du ... wenn dein bester Kumpel bei der DSF-Nachtwerbung voll abgeht, sich bei dir aber nichts regt, dann gibt dir das schon Rätsel auf. Außerdem ... .“
„Ja?“ Jan musste grinsen. „Willst du mir jetzt erzählen, dass du `ne Latte bei meiner Stripshow bekommen hast?“
Jetzt lachte Steffen lauthals auf. Die Stripshow – richtig! Vor ein paar Monaten hatte Jan auf einer Party eine Wette verloren und musste vor allen Gästen einen Striptease hinlegen. Angetan waren hauptsächlich die Mädchen gewesen ... und Steffen, der dies aber nicht so offen gezeigt hatte. „Nee, darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus, aber das hatte ich auch. Nein, ich hab mal bei Google nach Josh Hartnett gesucht, da kam dann auch ein Nacktfoto von ihm bei raus. Und na ja ... irgendwie finde ich ihn geil!“
„Alter Schlingel.“ Jan knuffte ihn und sie lachten. Es war alles prima und wie immer.
Nach dem Abendessen blieben Melanie und Steffen wegen der Strafarbeit in der Küche.
„Und“, fragte sie. „Hast du`s ihm erzählt?“
„Ja.“
„Und wie hat er reagiert?“
„Naja ... er war erst total verblüfft, genau wie du.“ Er zwinkerte ihr zu. „Naja ... dann hat er mich ausgefragt, genau wie du.“
Sie musste lachen. „Hey!“
„Aber ansonsten hat`s ihm nichts ausgemacht – zum Glück.“
„Worüber redet ihr denn“, fragte Frau Wücke, die plötzlich in der Tür stand.
„Über nichts.“
„Achso, Geheimnisse.“ Sie grinste.
„Ja, so kann man das sagen“, antwortete Steffen ihr und fing ebenfalls an zu grinsen.
Stephan Möller
Schortens, den 02. – 03.10.2005