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Seelentröster
Seelentröster
"Ehrlich, ich hab keinen Bock mehr auf dich!"
Der Schreck ließ Julias Tränen versiegen. Entsetzt starrte sie Saron an. "Was?"
Er seufzte, strich sich eine silberglänzende Strähne aus dem Gesicht, elegant, wie immer. Die dunkelblauen Augen leuchteten wie Sterne. Wie Julia sie sich erdacht hatte. Saron saß auf ihrem Fensterbrett, seine Haare wehten leicht in der sommerlichen Abendbrise. Doch sein Gesicht war zornig verzerrt, so hatte Julia ihn noch nie gesehen.
"Was?", wiederholte sie, als er ihr keine Antwort gab.
"Ich hab' keine Lust mehr, ist das so schwer zu verstehen?"
"Worauf denn?"
"Auf diese ständige Jammerei. ‚Saron, heute haben mich wieder alle geärgert', ‚Mama lässt mich nicht bis zehn fortgehen', ‚Ich hab wieder keine Nikeschuhe bekommen'. Was glaubst du denn, wer ich bin? Dein seelischer Mülleimer?" Er presste die Lippen aufeinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Keine Spur des sonstigen Mitgefühls in seinen Augen. Auch sein üblicher Zimtduft war verflogen.
"Aber... aber dafür bist du doch da, ich meine, schließlich bist du..."
"Dein imaginärer Freund? Und du meinst, deswegen könntest du alles mit mir machen? Stimmt's?"
Verwirrt starrte Julia ihn an. Eigentlich hatte sie ihm ihr Herz ausschütten wollen, wegen Chris. Weil der sie den ganzen Tag in der Schule nicht beachtet, und dafür ständig zu Sabine gestarrt hatte. Und die blöde Kuh hatte ihm auch noch ständig zugezwinkert. Und so was nannte sich nun eine beste Freundin. Julia hatte es gerade so geschafft, ihre Tränen zurück zu halten, bis sie in ihr Zimmer gekommen war. Dann hatte sie sofort das Fenster aufgerissen und Saron gerufen, wie immer, wenn es ihr schlecht ging.
Und nun saß Saron da und starrte sie zornig an. Sie hatte gar nicht gewusst, dass er so aussehen konnte. Nein, eigentlich war sie überzeugt gewesen, dass er nie wütend wurde. Er war doch ihr Freund. Ihr Seelenbruder. Er würde ihr nie Vorwürfe machen. Er war für sie da.
Julia atmete tief durch. Dann fasste sie sich ein Herz. "Ja, das glaube ich. Ich hab mir dich schließlich ausgedacht. Du gehörst mir."
"Junge Dame, du bist viel zu eingebildet. Das wollte ich dir schon immer mal sagen." Saron schwang sich vom Fensterbrett, landete lautlos auf dem Parkett, und glättete sorgfältig sein weißes Wildledergewand.
Er hatte lange spitze Ohren, große Augen, ein herzförmiges Gesicht und war immer etwas altertümlich gekleidet. Julia hatte ihn in einer Freistunde ersonnen und in ihr Deutschheft gezeichnet. Mangas konnte sie ganz gut, und Saron war ihr Meisterwerk. Sie hatte sofort beschlossen, dass sie ihn kennen lernen wollte. Am nächsten Abend hatte er dann auf ihrem Fensterbrett gesessen, mit seinem freundlichen Lachen und seiner gütigen Art. Seitdem war er für sie da gewesen.
Jetzt spazierte er ungeniert durch ihr Zimmer, strich mit dem Finger über die ordentlich aufgereihten Buchrücken in ihrem Regal und betrachtete dann die Zeichnungen, die sie an die Wand geheftet hatte, darunter auch mehrere von ihm selber. Schließlich ließ er sich auf ihr Bett fallen, lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter seinem Kopf. Seine Miene war nicht mehr ganz so ärgerlich, nur noch erschöpft, und traurig. Ihn so zu sehen, erschreckte Julia beinahe noch mehr als sein vorheriger Zorn.
Vorsichtig ließ sie sich neben ihm auf der Bettkante nieder. Er zeigte mit keiner Reaktion, dass er sie wahrgenommen hatte.
"Saron?"
Er schwieg.
"Saron? Was soll ich denn nun tun?"
Der Elf seufzte und setzte sich wieder auf. "Ich hab' doch keine Ahnung Julia. Als du mich zuerst erfunden hast, da war ich so glücklich. Froh, am Leben zu sein. Und da du mir Leben geschenkt hast, war ich bereit, alles für dich zu tun. Ich würde dir zuhören und dir helfen bis ans Ende meiner Tage, dachte ich. Aber inzwischen merke ich, dass ich das nicht mehr kann."
"Warum nicht?"
"Niemand kann sich von morgens bis abends nur Probleme anhören. Tagein, tagaus immer das Gleiche. Mein gesamter Lebenszweck besteht darin, dein Unglück zu lindern. Das deprimiert mich, verstehst du?"
Julia schwieg. Eine Weile lang dachte sie nach, während Saron sich abermals auf das Bett zurück sinken ließ und die Decke anstarrte. Schließlich nickte sie langsam. "Doch, ich glaube, das verstehe ich."
"Siehst du?"
"Und was soll ich jetzt machen?"
"Keine Ahnung. Kannst du dir nicht einen sturen Troll erfinden? Einen stoischen, gleichmütigen Riesen, der nicht genug Verstand hat, sich von deinen Problemen beeindrucken zu lassen? Oder vielleicht einen Priester? Die sind schließlich dazu da, sich anderer Leute Geständnisse anzuhören? Ich jedenfalls kann einfach nicht mehr. Du hättest mich ruhig ein bisschen weniger sensibel erfinden können."
Der Vorwurf in seiner Stimme schmerzte Julia. Aber sie fühlte sich auch ein klein wenig beleidigt. Dieser Elf könnte doch wenigstens ein bisschen Dankbarkeit zeigen, dass sie ihn erfunden hatte.
"Ich will aber keinen Troll, ich will dich. Du bist doch mein einziger Freund."
Saron verdrehte die Augen. "Siehst du, da fängt es schon wieder an. ‚Keiner hat mich lieb, du bist mein einziger Freund'. Ätzend. Und weißt du eigentlich, wie beschissen ich das finde, dass du ständig von anderen Kerlen schwärmst? Glaubst du denn, das gefällt mir? Ich bin dir wohl nicht gut genug, was?"
Betreten sah Julia auf ihre Fingerspitzen. "Ich wusste nicht, dass dich das stört", flüsterte sie.
"Meine Güte, das würde jeden Mann stören. Ich bin schließlich auch nur ein Elf." Er sah sie nicht an, während er sprach, sondern stierte weiterhin gerade nach oben.
Betretenes Schweigen füllte den Raum. Julia spürte, wie ihr schon wieder die Tränen kamen. So ein beschissener Tag, und nun ließ sie auch noch ihr einziger Freund im Stich. Das war einfach nicht fair. Sie schniefte, schluchzte ein wenig und hoffte, dass Saron es bemerken würde, und sie trösten, so wie immer. Doch er gab nur ein verächtliches Schnaufen von sich. Beleidigt wischte Julia ihre Tränen wieder ab. Was nutzte es schon, zu weinen, wenn es niemanden gab, dem man leid tun konnte. Vielleicht würde Saron sie ja auch loben, dass sie sich so schnell wieder gefasst hatte. Aber der Elf schwieg weiterhin.
Was sollte sie nun tun? Sie war es nicht gewohnt, anderen bei ihren Problemen zu helfen. Sie hatte schließlich selber Probleme genug. Aber sie wollte Saron auch nicht so einfach verlieren. Schließlich war er so etwas wie ihr Eigentum.
"Vielleicht... kann ich dich ja mal ins Kino mitnehmen, oder so, würde dir das gefallen?", wagte sie einen vorsichtigen Vorstoß.
"Hm." Er klang nicht sonderlich begeistert.
"Oder vielleicht möchtest du ein Eis essen gehen?"
"Hm."
"Disco?"
"Viel zu laut. Ich hab größere Ohren als du, weißt du?"
"Zoo?"
"Ich mag keine eingesperrten Tiere. Weißt du doch. Hast du entschieden."
"Mist."
Wieder Schweigen. Verzweifelte Gedanken jagten einander in Julias Kopf. Irgendetwas musste es doch geben, das Saron wieder glücklich machen würde. Irgendetwas...
Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Wenn sie unglücklich war, dann brauchte sie einen Zuhörer. Saron eben. Aber wenn Saron auch unglücklich war, konnte er sie nicht trösten, soweit verstand sie. Und sie konnte offensichtlich auch nichts für ihn tun. Was er brauchte war...
"Saron?"
"Hm?"
"Möchtest du vielleicht einfach Gesellschaft haben?"
"Gesellschaft?" Julia bemerkte, dass er sich bemühte, noch immer unbeteiligt zu klingen, aber sie konnte das Interesse in seiner Stimme hören. "Was für Gesellschaft?"
"Ich dachte, vielleicht kann ich dir jemanden erfinden. So wie ich dich erfunden habe. Dann könntest du, könntet ihr, wenn ich nicht da bin... na ja, irgendwelche Sachen machen halt. Was meinst du?"
Er setzte sich auf und sah sie aus seinen durchdringenden Augen an. "Na ja... vielleicht. Könnte klappen." Er wirkte ruhig, aber sein Blick funkelte.
"Klasse!" Julia sprang auf, und schnappte sich ihren Zeichenblock und Bleistift vom Schreibtisch. Dann ließ sie sich wieder neben Saron fallen. "Also, wie soll er aussehen?"
"Sie", verbesserte Saron trocken.
"Also gut, sie."
Sie brauchte fast eine Stunde, bis die Zeichnung fertig war. Vielleicht hätte sie Saron weniger anspruchsvoll erfinden sollen. Immer wieder schüttelte er den Kopf und befahl Julia, einen Teil des Bildes wieder weg zu radieren. Doch schließlich war er zufrieden.
"Das ist es."
Etwas überrascht betrachtete Julia ihre fertige Zeichnung. Sie selber hatte ja eine große schlanke Elfe zeichnen wollen, ähnlich elegant und überirdisch wie Saron selber. Doch die Frau auf dem Block war nicht sehr groß, etwas pummelig, hatte eine Stupsnase, zerzaustes Haar und merkwürdigerweise Katzenohren. Ihr Gesicht zierte ein breites freches Grinsen. Ein ganz kleines bisschen sah sie Julia ähnlich. Bis auf die Ohren vielleicht.
Saron strahlte sie begeistert an, fuhr zärtlich mit dem Finger über das Papier und zeichnete so ihre Figur nach. Dann sah er zu Julia auf. "Danke dir. Wann wirst du sie lebendig machen?"
Julia überlegte. "So bald wie möglich. Ich werd mir noch heute Abend einen Namen für sie ausdenken, und eine Geschichte. Spätestens morgen kann sie dann da sein. Ist dir das recht?"
Er nickte. Dann schien er sich auf einmal wieder auf seine Rolle zu besinnen. Er trat zu Julia und legte ihr leicht eine Hand auf die Schulter. "Worüber wolltest du mit mir eigentlich vorhin reden?"
Julia dachte wieder an Chris und Sabine und suchte nach ihrem Kummer. Doch irgendwie kümmerte der sie gar nicht mehr besonders. Sie betrachtete lange ihre neue Zeichnung, dann trennte sie vorsichtig das Blatt vom Block, griff sich ein paar Reißnägel und heftete das Bild neben die anderen an die Wand.
"Nicht so wichtig", antwortete sie etwas verspätet.