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Seenlandschaft
Ich bin auf den See hinausgerudert. In der Stille der mondklaren Nacht bricht das Glucksen der Ruder über mich herein wie eine Lawine, eine wohlige, beschützende Lawine, in der ich mich verkrieche. Im schwarzen Wasser spiegelt sich nur die fahle Münze Mond, keine Sterne. Mittlerweile bin ich vom Ufer so weit entfernt, dass die brennenden Lampen und Laternen der Orte am Wasser kaum mehr als ein fernes Funkeln aus längst vergangener Zeit sind. In der letzten Stunde sind viele erloschen, ich habe es erst bemerkt, als die Dunkelheit undurchdringlich geworden ist.
Meine Schultern beginnen zu schmerzen, ich lege die Ruder beiseite, in der windleeren Ruhe werde ich nicht abtreiben. Meine Zeit ist nicht unbegrenzt, doch ein oder zwei Augenblicke darf ich verweilen, ehe meine Reise weiter geht.
Die Luft ist gesättigt und schwer und gleichzeitig klar und kalt. Nachtluft. Frostluft. Herbstluft. Ich trinke sie, gierig. Das schadstoffgeschwängerte Gasgemisch dringt in meine Lunge, füllt sie aus, lagert Feinstaub an. Sauerstoff wird in mein Blut abgegeben, ich kann beinahe spüren, wie das frisch angereicherte Blut schwer durch meine Adern pulsiert. In meiner Vorstellung ist Sauerstoff schwerer als Kohlenstoffdioxid. Ich weiß, dass das chemisch unmöglich ist. Ich bin nicht dumm. Aber meine Gedanken sind naturwissenschaftlich ohnehin nicht nachvollziehbar.
Ich war so ins Atmen vertieft, dass ich unbemerkt doch abgetrieben bin. Nicht weit und nicht schnell, aber es wird Zeit die Riemen wieder aufzunehmen. Noch ist die Nacht lang, aber ich habe auch noch viel vor, bei dem ich ungern vom Tageslicht überrascht würde, das ja relativ früh die Welt in grelles Licht taucht. Ginge es nach mir, würde die Sonne nie etwas anderen als den bleichgesichtigen Mond bescheinen. Während die Ruderschläge mich weiter hinaus auf das Obsidianwasser tragen, summen meine Lippen eine unförmige Melodie. Geisterhaft irrlichtert sie über die spiegelschwarze Wasseroberfläche. Ob die Lichter hinter dem Schilf sie hören können? Oder wird sie weggewischt, vergehen die Töne unbemerkt im Nichts und zerstören damit die letzten Spuren meiner Existenz?
Ich muss ein wenig frösteln, doch das liegt am aufkommenden Wind, der säuselnd über mich hinwegstreift. Seine Berührung ist feuchtkalt und klebt an mir.
Die Sache mit der Existenz habe ich nie so wirklich verstanden. Außer meinen subjektiven Empfindungen habe ich keinerlei Beweis für sie. Doch die sind manipulierbar. Insofern kann ich nie wissen, ob ich existiere. Vermutlich ist all das also nur ein kitschig bemalter, obskurer Albtraum dessen Groteske mir nur unvollständig bewusst ist.
Ich bin jedoch froh, dass ich weiß, woran ich bin.
Es gibt mir Macht. Wenn man Macht über Nichts hat, hat man dann trotzdem Macht? Der Gedanke schleicht katzenpfotig wie auf Samt daher, mein Gehirn, falls es da ist, ist zu anfällig für Kuschelfellweiches.
Flüsternd und wispernd streicht der Wind an mir vorbei. Er wird stärker und ich muss weiter rudern. Ich möchte bis zur Mitte des Sees. So weit, dass ich die gesamte Seenlandschaft sehen kann und Teil von ihr werde.
Endlich bin ich da angekommen, wo ich hinwollte. Ein letzter unspektakulärer Erfolg, mir bedeutet er jedenfalls etwas. Das ist wie mit Mensch-ärgere-dich-nicht. Hat man zu oft nur Einser und Zweier gewürfelt, freut man sich irgendwann sogar über eine Drei oder Vier. Alles eine Frage der Perspektive. Ich blicke mich um, fast scheint es mir, als male sich da ein leichenblasser Morgenrotstreifen verräterisch am Horizont. Bis zum Sonnenaufgang sind es noch genau eine Stunde und siebenunddreißig Minuten und zwölf Komma sechs Sekunden. Meine Uhr kann solche Sachen anzeigen. Siebenundachtzig Prozent aller Menschen, die ich kenne, benötigen gar keine Uhr, die ihnen die Zeit bis zum Sonnenauf- oder untergang anzeigt. Aber wenn ich weg bin, wird es die Uhr noch geben und mich nicht. Sie ist wasserdicht, meine Nasenlöcher nicht. Ihr leises Ticken, fast wie ein Bienensummen überlebt Sauerstoffentzug, mein Herz nicht. Ich bin nicht depressiv. Ich war auch nie suizidal. Warum ich das hier durchziehe? Weiß ich nicht.
Ich habe alles genau überprüft, ich habe alles da, was ich brauche. Zuerst fessele ich mir die Beine mit einem Seil. Im Dunkeln ist das komplizierter, als ich gedacht hätte. Aber schließlich habe ich es geschafft, es sitzt und ich bin kaum in der Lage, mich zu bewegen. Ich habe die Taschen meines Anoraks schon zu Hause mit Steinen gefüllt, sie randvoll gepackt und schließlich zugenäht. Ich streife ihn mir jetzt über, es fühlt sich an wie beim Arzt, kurz vorm Röntgen. Wenn es vorbei ist, wird mein Körper nie mehr bestrahlt werden. Sollte irgendein Mediziner sich für seine Beschaffenheit interessieren, kann er Haut und Gewebe einfach mit dem Skalpell entfernen. Wieder streicht mir der Wind über die Haare, er greift hinein und pustet sanft auf meine Kopfhaut, als wolle er das Gehirn im Schädel, dieses geschwollene, geschundene, hässliche graurosa Ding abkühlen. Aber er kommt nicht einmal bis zur Subcutis und muss aufgeben. Von einer großen Rolle reiße ich Paketband und klebe es mir großzügig über den Mund, es fühlt sich kalt und eklig an. Mit demselben Paketband umwickele ich vorsichtig meine Hände, ein Fehler und alles verheddert sich. Wundersamerweise funktioniert es, ein unansehnlicher, im Fahllicht kotzgrauer Klumpen wächst an meinen zusammengepressten Handgelenken. Nur das Abreißen schaffe ich nicht, die Paketrolle hängt an dem Klumpen wie Rotz aus einem benutzten Taschentuch.
Vor Anstrengung ist meine Stirn verschwitzt, Haare kleben daran fest, ich will sie wegwischen und kann es nicht. Und so wird mein letzter Blick auf die Welt ein verschwommener, getrübt durch Haare und Tränen – ich bin mir nicht sicher ob es traurige Tränen sind, vielleicht sind sie einfach nur rot und gereizt von den salzigen Haaren. Meine Nase läuft, ich ziehe sie hoch, hier kann mich ja keiner hören. Mitten auf dem kalten See bin ich der einsamste Mensch der Welt. Dann robbe ich zur Seite, mit unförmigen Bewegungen nähere ich mich dem Rand des Bootes. Ich muss mit meinen verschnürten Händen nachhelfen, um meine Beine über die niedrige Brüstung zu hieven. Und dann sind sie drüber und ungelenk rutscht mein Körper fast von selbst hinterher. Über mir schlägt die Wasseroberfläche zusammen.