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Sehnsucht nach Nähe

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11.10.2003
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Sehnsucht nach Nähe

Es war ein regnerischer Tag, der erste Tag des wiederbeginnenden Studentenlebens auf dem Campus.
Die Erstsemester trudelten langsam zur Begrüßungsrede ein.
Prof. Kilian hinkte mit seinem kranken Bein in den Vorlesungssaal.
Das Überbleibsel eines Unfalls, sie mussten seinen Unterschenkel abtrennen.
Seit dieser Zeit lief nichts mehr in seinem Leben so, wie es eigentlich hätte laufen sollen.
Mit seinem Unterschenkel hatten sie ihm auch sein letztes Stück Lebensglück genommen.
Monatelanger Krankenhausaufenthalt, Schmerzen, Übellaunigkeit, Scheidung, gelegentliche Alkoholexzesse (was kam noch mal zuerst) und Isolation, sicherlich hervorgerufen durch einen gewissen Anteil Selbsthass.
Schon als er seinen zerfledderten Stapel Blätter aus der abgenutzten Tasche zerrte, bemerkte er die junge Dame in der letzten Reihe.
Sie hielt den Kopf gesenkt und blickte angestrengt auf ein vor ihr liegendes Blatt Papier.
Sie schien noch keinen Anschluss gefunden zu haben, jedenfalls saß sie allein.
Nun blickte sie auf, ihre stumpfen braunen Augen lagen in einem blassen Gesicht mit einem kleinen rosigen Mund, das Haar lag dünn um ihren Kopf herum und endete auf den Schultern.
Ihre schmalen weißen Hände ruhten auf dem Blatt, überhaupt wirkte ihre Gestalt eher zerbrechlich.
Als sein Blick ihren fand, schaute sie beschämt weg.
Die Begrüßungsrede nahm ihren Lauf und anschließend verließen die Studenten den Raum.
Der Professor blickte dem blassen Mädchen hinterher.
Dabei dachte er: „Seltsam, eigentlich ist sie unscheinbar, aber mir würde sie unter Tausenden auffallen.“
Dann verließ auch er den Vorlesungssaal.
Zuhause angekommen in seiner kleinen und dennoch endlos groß und leer wirkenden Wohnung aß er die Reste des Gänsebratens, den seine Bügelfrau gestern für ihn vorbereitet hatte und den er nun mit voller Hingabe verschlang.
„Ja das Essen war doch noch eine äußerst angenehme Sache, die das Leben einem alten frustrierten Mann zu bieten hatte.“ dachte er bei sich.
Während er die Stelle zwischen Oberschenkel und Prothese rieb, dachte er darüber nach wie lange er schon keine Frau mehr gehabt hatte und wie ausgehungert er nach Berührung war.

Kater Josef leckte Jessicas weißen kleinen Hände.
„Wie sanft und weich nur so ein kleines Fellbündel ist“ dachte sie.
„Jetzt muss ich aber weiter auspacken, Josef“ ermahnte sie den sich streckenden Kater.
Nun war sie also hier, in ihrem 20 m² großen Studentenzimmer, ganz allein, wie immer.
Sie hatte nie gerne viele Menschen um sich gehabt, zudem war sie extrem schüchtern und fand nur schwer Bekannte, geschweige denn Freunde.
Eine richtige Freundin hatte sie damals im Heim gehabt, aber das war Jahre her, als sie dann zurück zu ihrer Mutter kam, war der Kontakt abgebrochen.
Jessica fühlte sich noch ein wenig verunsichert in ihrer neuen Umgebung, aber gleichzeitig euphorisiert bei dem Gedanken daran, was jetzt alles Neues auf sie zukommen würde.


Jessica lauschte Prof. Kilian mit ungeteilter Aufmerksamkeit.
Sie hätte ewig so dasitzen können, er erzählte so angenehm, seine Stimme wahrzunehmen war ein einziger Genuss.
Jessica hatte nie zuvor einen charismatischeren Menschen erlebt.
Sie war aber auch leicht zu beeindrucken.
„Was wohl mit seinem Bein passiert ist?“ überlegte sie.
Für Jessica strahlte dieser Mann etwas unendlich faszinierendes aus.
Als die Vorlesung vorbei war bedauerte sie es.
Auf dem Weg zur Mensa kam sie sich etwas seltsam vor, sie ging alleine und die anderen um sie herum unterhielten sich angeregt.
„Irgendwie bin ich wohl auch komisch“ dachte sie.

In der Mensa gesellte sich nun doch eins von den anderen Mädchen zu ihr.
„Du hast doch auch grad angefangen, oder? Wie heißt du denn?“
„Ich, ähm, Jessica. Und, ähm, du?“
„Judith. Ich saß eben in der Vorlesung fast neben dir. Hast mich gar nicht bemerkt. Wirktest irgendwie ein bisschen geistesabwesend.“
Jessica wurde rot.
„Ich, ich. Ja, ich fand die Vorlesung so interessant.“ erwiderte sie schließlich verlegen.
„Ach so, ja. Ich mein es ging so. Die anderen meinen der wäre ziemlich fies. Wohnst du eigentlich auch auf dem Campus?“
„Ja, ich wohn hier jetzt, genaugenommen seit gestern.“
„Das ist ja klasse, ich auch. Wollen wir rüber gehen? Ich zeig dir mein Zimmer.“
„In Ordnung.“
An diesem Tag freundeten sie sich vorsichtig miteinander an.
Judith wusste nur manchmal nicht so richtig mit Jessicas Verschlossenheit umzugehen.

Jessica umschloss mit beiden Armen ihren Karton mit Einkäufen, sie musste nun nur noch schnell in den Schreibwarenladen, dann hatte sie es geschafft.
Sie merkte nicht das sie beobachtet wurde.
Prof. Kilian hatte sie sofort gesehen.
Als sie den Supermarkt betreten hatte, lief er sofort hinter ihr hinein.
„Das ist absolut peinlich. Was tust du überhaupt hier Christian? Wenn du das jemandem erzählen würdest...“ ging ihm dabei ständig durch den Kopf.
Dann hatte er sich hinter Konserven versteckt und sie beobachtet, er konnte nichts dafür, es war nun einmal wie es war, sie zog ihn an und zwar auf eine unbeschreibliche Weise.
Sie war wie ein Funke Licht in seinem dunklen tristen Leben.
Seit er sie entdeckt hatte, wusste er wieder warum er morgens aufstand, er freute sich auf seine Vorlesungen, rasierte sich nun auch wieder ausgiebig morgens.
Er hatte sich sogar eingebildet, sie würde ihm ganz besonders andächtig bei seinen Ausführungen lauschen, zumindest die Vorstellung das es so wäre, war sehr angenehm.

Nun sah sie ihn, er ging auf der anderen Straßenseite, dann kehrte er um und ging in einen Imbiss.
Ohne zu überlegen rannte sie auf die andere Straßenseite in den Imbiss.
Dort stand er, groß und mächtig.
Und sie stellte sich ganz klein hinter ihm an.
„Und sie, was kann ich ihnen anbieten, junge Frau?“
„Ich, ähm, ja, das ist so... . eine Portion Pommes rot-weiß, bitte.“
„Hier, bitte schön. Macht zwei fuffzisch.“
Sie tastete in ihrer Hosentasche und mit hochrotem Kopf musste sie da erwidern:
„Tut mir leid, ich habe nur noch 10 Cent.“
Bevor der Imbissbesitzer ansetzen konnte, meinte eine Stimme aus dem Hintergrund:
„Ich lade sie ein.“
Es war der Professor.
Jessica war die Situation unangenehm, da sie sich nun auch zu dem Professor setzen musste.
Ihre Hände zitterten und ihr Herz schlug wie wild, in was für eine Situation sie sich nur gebracht hatte, er flößte ihr ungeheuren Respekt ein.

„Haben Sie sich eigentlich schon eingelebt auf unserem schönen Campus?“
„Ja. Schon, ist sehr nett hier.“ Bei dieser Erwiderung landete ein Tropfen Ketchup ihrer Pommes rot-weiß auf seinem Hemdärmel.
Schnell nahm sie die Serviette und begann hektisch auf seinem Arm herumzutupfen, bis er ihre Hand nahm und meinte: „Lassen Sie nur, das muss sowieso in die Reinigung.“
Daraufhin stammelte Jessica: „Ich muss auch gehen, ich habe ganz vergessen, das ich ....einen wichtigen Termin habe.“
Sie verabschiedete sich schnell und verließ den Imbiss.
Der Professor schaute ihr nach, die kurze Berührung hatte ihm eine innere Erregung bereitet.
Wie lange war er schon nicht mehr berührt worden?
Er, der nur noch schwer Nähe ertragen konnte fühlte in der Erinnerung an ihre Berührung großes Verlangen in sich aufsteigen.

Jessica kauerte hinter der Hecke und beobachtete das dreistöckige Haus.
Dort wohnte er also.

„Was machen Sie denn hier? Geht es Ihnen nicht gut? Wollten sie mir etwas sagen?“
Sie konnte es selbst kaum glauben, sie hatte geklingelt, sie die sonst so schüchtern in sich zurückgezogene.
Wahrscheinlich war sie jetzt einfach nur total durchgeknallt.
Bald würde sie wirklich eingeliefert, so wie ihre Mutter es schon prophezeit hatte.
Sie konnte nichts auf seine Frage erwidern, sie fühlte sich einfach nur starr.
Er nahm ihre Hände und zog sie ein paar Schritte mehr in seine Wohnung.
„Wie kalt ihre Hände sind“ dachte er dabei.
Er schloss die Tür hinter ihr.
Sie sahen sich tief in die Augen, standen sich einfach gegenüber und starrten sich an.
„Was tust du nur hier? Was möchtest du von mir?“
Daraufhin folgte ein Schulterzucken.
„Was soll ich denn tun?“
Jessica sank in sich zusammen und die ersten Tränen rannen über ihre Wangen.
„Ich weiß es nicht“ brachte sie hervor.
„Nein, nicht weinen, nicht weinen. Das kann ich nicht ertragen.“

Im nächsten Augenblick trafen sich ihre Lippen.
Dann war der Bann gebrochen, es gab nun kein zurück mehr.
Weder sie noch er konnten sich nun gegen die Macht des anderen wehren.
Als er ihren Pullover hochschob und nach ihrem Hosenknopf tastete, stöhnte sie vor Erregung.
Im Bruchteil von Minuten waren sie nackt und weideten sich am Körper des anderen.
Sein fehlender Teil des Beines war ihr egal, es ging ihr nur darum ihm nahe zu sein, ihn zu spüren.
Er klammerte sich an sie, wie ein Ertrinkender.
Am Ende kamen sie beide heftig stöhnend kurz hintereinander und sanken auf den Boden nieder.
Sie schnappte nach Luft und fühlte sich wie von einer Lawine überrollt, er fühlte sich von einer Last befreit.
Beide suchten sie nach dem Körper des anderen um friedlich in dessen Armen zu liegen.
Anschließend begaben sie sich ins Bett und liebten sich noch einmal.
„Von dir könnte ich nie genug bekommen. Es ist fast so, als hättest du mich gerettet.“
„Wovor“ flüsterte sie.
„Vor dem entgültigen Zusammenbruch. Wir könnten so glücklich miteinander sein.“
„Wieso könnten?“
„Ach überleg doch mal mein Engel. Ich bin ein alter Mann und du, ja du hast dein Leben noch vor dir, ich habe meins gelebt.“
„Aber, wieso, wir können doch glücklich miteinander sein, für einander da sein und so.
Brauchst du mich denn nicht so, wie ich dich brauche?“
„Sicher du könntest mir viel geben und ich vielleicht zu einem gewissen Teil auch dir.
Aber sei doch nicht so naiv, das mit uns würde auf Dauer nicht funktionieren.
Jeder muss seinen eigenen Weg gehen.“
„Du willst mich also alleine lassen. Du willst das ich wieder einsam bin, jetzt nachdem ich zum ersten mal erlebt habe was einem anderen nah sein bedeuten kann.“
„Ja. Für mich war es auch der schönste Augenblick seit langem, doch glaube mir mehr würde uns beide nicht glücklich machen. Wir müssten zuviel Rücksicht aufeinander nehmen. Ich würde dich am Ende mit hinunterziehen in ein tiefes dunkles Loch, was mein Leben nun einmal ist.
Zudem würde ich mich lächerlich machen.“
Sie schaute ihn nicht an, sondern starrte auf ihre Hände.
Er redete sanft auf sie ein: „Ach kleines, lass uns dieses Ereignis doch in guter Erinnerung behalten. Es hat dir und mir etwas gegeben und es war einmalig schön. Aber mehr geht nicht.
Mehr lasse ich auch nicht zu.“
„Gut.“ Sagte sie nur und verließ seine Wohnung.
Er lag lange wach und dachte nach.

Die Herbstblätter tanzten über den Boden und es wehte ein kalter Wind, als Prof. Kilian sich am nächsten morgen zu seiner Vorlesung aufmachte.
Das Mädchen fehlte, das merkte er sofort.
Er verdrängte das Gefühl von Traurigkeit das sich in ihm ausbreitete.
Als er sie in ihrem Zimmer aufsuchen wollte, um zu erfahren ob alles in Ordnung war, fand er es leer vor.
Ein Mädchen namens Judith erklärte ihm, nicht zu wissen wo Jessica sich aufhält.
„Sie ist weg, einfach so. Können Sie sich das vorstellen?“
Der Professor verließ das Gebäude, gesenkten Kopfes steuerte er seine kleine Wohnung an.
Dabei murmelte er: „Besser so. Ja, das ist einfach besser so.“
Dabei fiel ihm ein, er hatte vergessen zu fragen, wie das Mädchen denn nun eigentlich hieß.

 

Hi Brantony!

Hm - ich bin zwiegespalten. Die Grundidee der Geschichte gefällt mir, aber mir verläuft die Entwicklung zu vorhersehbar und zu schnell. Ein einsamer Professor, eine einsame Studentin und schon haben sich zwei Seelen gefunden, wenn auch nur für sehr kurze Zeit.
Ob das in real ebenso ablaufen würde?
Morgen beginnt auch bei mir wieder das Semester und vermutlich sitzen da auch in meinen Vorlesungen verschücherte Erstemester. Und vielleicht bemerkt das auch der eine oder andere Dozent. Aber dass ein Professor danach sogleich so viel an die junge Frau denkt, ich weiß nicht ...
Was ich aber noch störender fand war, dass sie so einfach seine Wohnung aufsuchte. Und das ohne einen Vorwand! Ich meine, sie konnte doch noch nicht wissen wie sehr er sich nach ihr sehnte und dass sie sich sogleich in die Arme fallen würden. Es erscheint mir zu konstruiert, dass sie dieses Risiko eingeht, noch dazu wo sie doch eigentlich so ein verschlossener Charakter ist. Diese Stelle:

Im nächsten Augenblick trafen sich ihre Lippen.
ist also ein regelrechter Glücksfall für die Frau, sie muss sich nicht erklären, es wird ihr abgenommen, beide sind sich einig. Und das ist schon, naja, ungewöhnlich, wenn man die Situation bedenkt. Ein Dozent und eine Studentin, so eine brisante Verbindung könnte für unheimlichen Ärger sorgen und er riskiert das ...?
Tja, so ganz glücklich bin ich damit nicht, wie man merkt.
Wenigstens gab es kein Happy-End, das hätte hier wohl auch nicht gepasst.

Ginny

 

Hallo Brantony,

ich glaube auch, dass sich deine Geschichte im Leben nicht so abspielen wird.
Aber deine Überschrift lässt ahnen, dass es eine Sehnsucht gibt, deren Erfüllung du mit der Geschichte zurechtgeträumt hast.

Goldene Dame

 

Danke für Eure Kritiken.

Ja, der Verlauf der Geschichte wirkt zu konstruiert, damit war ich auch noch nicht wirklich glücklich.
Ich glaube ich habe mich zu kurz gefasst, ich hätte mehr die langsame Entwicklung beschreiben müssen, die Annäherung.
Aber, ich möchte kein Verhältnis mit meinen Professoren, das möchte ich doch nochmal betonen.:D

Gruß
Brantony

 

Aufgrund aller Lehrer, die mir in meinem Leben zugeteilt wurden, kann ich nichts Schönes an der Geschichte finden, aber, Brantony, dafür kannst du ja nichts. Ehrlich gesagt ist die Geschichte für mich, wie vorher von anderen erläutert, ziemlich zusammengeträumt und eher unwahrscheinlich. Aber wozu schreiben wir denn Geschichten? Um die Realität anders ausssehen zu lassen.

Liebe Grüße, die Oh

 

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