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Seidenspinner

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10.11.2008
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Seidenspinner

Seidenspinner

Die Stadt gleicht einem Kompost-Haufen. Angehäuftes, liegen gelassenes und vergessenes Leben. Fußabdrücke in der Zeit. Unbeachtet von den meisten, ziehen sich die Zeugnisse unbedachten Lebens, kleine Hinweise, wie Brotkrumenspuren durch die Straßen. Sie machen uns verfolgbar, angreifbar, erkennbar und durchschaubar. Wie viele Spuren hinterlassen wir täglich, wie Hinweisschilder unserer Anwesenheit? Ist es Nachlässigkeit, oder Instinkt, dass wir diese Zeichen setzen?

Schon ihre äußere Erscheinung,ihre zarte Figur verpackt in braunem Wollrock und übergroßer Strickjacke, das schöne, stolz anmutende Gesicht verborgen hinter einer dicken, stets beschlagenen Hornbrille, die ihre erddunklen, mondgroßen Augen zu koboldhaften Stecknadelköpfen werden läßt, ihre Züge umrahmt von strähnigem, nachlässig gescheiteltem Haar, das über die Schultern fallend mit dem dunklen, ihren zarten Hals verbergenden, Seidentuch zu verschmelzen scheint, vermittelt dem aufmerksamen Betrachter den Eindruck, dass dieses Mädchen mit Geistern lebt.
Alice hat die große Gabe, nicht gesehen zu werden, stets unbehelligt zu bleiben von aufmerksamen Betrachtern. Manch einer würde wohl Leiden, konfrontiert mit dieser Isolation, mit dem bitteren Geschmack des Gifts, das der Neid auf die besseren, wahr genommeneren Menschen, den Gaumen herabrinnen läßt - das wie Kokain, batteriesauer den Rachen verätzt. Niemand sieht sie und spürt, wie sie mit Geistern lebt, sie ist selbst einem Gespenst zu ähnlich, so dass nur Menschen, die in der Lage sind, noch zwischen zwei Sekundenklicken, Universen von Geschehen zu Entdecken, sie wahrzunehmen vermögen. Menschen, die sich Zeit nehmen, auch zu betrachten, woran keine leuchtende Reklametafel angebracht ist. Alle anderen könnten Alice hunderte Male in ihrem Leben begegnen und sie würde nicht mehr Eindruck auf sie machen, nicht mehr im Gedächtnis bleiben, als einer der zahlreichen Kaugummiflecken auf dem Bordstein.
Alice sieht in diesen Flecken Vergangenheit, sie liest Geschichten im Dreck der Straße, natürlich nicht nur im Dreck, aber der ist eben mehr vertreten, im Kompost-Haufen, als die auf den ersten Blick schöneren Dinge. Für Alice ist's gleich. Ein Kaugummi erzählt ihr die Geschichte eines Kindes auf dem Schulweg, das seinen Kaugummi achtlos ausspuckt, nicht herunterschluckt. Vielleicht aus Angst, er könnte sich im Magen rollen, verhärten, die Gedärme durchbohren wie ein kleiner, scharf gewetzter Stachel, der als verschlucktes Insekt im Innern wütet. Sie sieht das Kind auf dem Schulweg, dann in der Schule sitzend, sieht es zu Haus vor seiner Play-Station. Eine festgetretene Süßigkeit lässt zahlreiche Filme auf der Kinoleinwand ihrer Phantasie flackern, sich gegenseitig überlagern. Sie sieht die tausend Möglichkeiten des Geschehenen. Je weniger augenscheinlich ist, desto mehr wird möglich.
Ein gebrauchtes Kondom auf dem Kinderspielplatz wird zu leidenschaftlich, heimlichem Sex in der Öffentlichkeit, zu zaghaftem Experimentieren Jugendlicher, außerhalb der elterlichen Macht entfesselt, zu einer Geschichte von Ehebruch und Flucht aus festgefahrener Unzufriedenheit, endlich zur Geschichte einer aus Angst verschwiegenen Vergewaltigung und zur Beruhigung wieder zum Spiel prä-pubertärer Kinder, die nach dem Sexualkundeunterricht aus Gummis Wasserbomben bauen.

Alice streift langsam und bedacht durch die Stadt, ihr Blick bleibt an Dingen haften. Sie denkt keine Geschichten aus, sie laufen einfach in ihr ab, zeigen ihr das Leben anderer und füllen damit ihre Leere. Sie lebt zwischen den Geistern des Gestern, des Eben und des Früher und den schemenhaften Fratzen des Morgen, Gleich und Irgendwann. Nun könnte man sagen, Alice habe eine lediglich von Einsamkeit und Angst gesteigerte und verwirrte Phantasie, sei reif für's Irrenhaus. Wahrscheinlich ist sie's auch, in den abertausend Augen, die wie ein einzelnes, in eine Richtung zu Blicken in der Lage sind. Alice wird zu ihrem Glück nicht gesehen, sie kreuzt den Blick der abertausend nicht, legt den Zauber der Blindheit durch ihre unscheinbare Erscheinung, legt einen Nebelschleier um den bohrenden Blick der Einheitlichkeit.
Sie ist keineswegs einsam, wenn sie durch die kompostierten Gassen schleicht. Transparent und schattenhaft folgen ihr die Geister der bedeutungslosen Momente, tragen die Möglichkeiten, das Multiple Choice des Daseins mit sich und mit ihr, um dann zu erblühen, in der verstaubten Wohnlichkeit ihres behaglichen Kokon's. Ja, Alices zu Hause ist ein Kokon. Kein Kokon, aus dem ein graziöser Falter hervorbricht, vielmehr eine Hülle, in der sie ihre Flügel entfalten kann, nachdem sie draußen als braune und unscheinbare Raupe über das Blattwerk aus vergessenem, unbedachtem und beiläufig geträumtem gekrochen ist. Im inneren spielt sie mit ihrer Beute, ihren Gefährten und breitet ihre Flügel aus. Sie legt die nun nutzlose Hornbrille ab, verbannt sie in eine kleine Schublade in ihrem stumpf - lacklosen und wurmstichigen Nachtschrank. Sie liebt ausgeblichenes Holz, die staubigen Oberflächen, kunstvoll gedrechselter und geschnitzter Möbel, die von Jahrhunderten schweigsamer und geduldiger Dienerschaft erzählen. Die fehlende Brille offenbart die tiefe Schönheit, die kühle Eleganz ihrer Facettenaugen, die anziehende Schauer über den Rücken jagen, wenn sie tief in Seelen blicken. Während sie sich der beige-wollenen Jacke entledigt, den Blick auf ihre weich gerundete Schulter preisgibt, den Schwung des Schlüsselbeins hin zum anmutigen Hals einer Gottesanbeterin, der in der Perfektion ihres scharf gezeichneten Unterkiefers mündet, während sie sich entfaltet, wahrnehmbar wird, verlieren fließend auch die Schatten um sie ihre Gestaltarmut, formen Züge, Körper, Glieder.
Schweigend verharren sie an einer unsichtbaren Barriere um Alice, eine Verschmelzung des nicht Wagens und nicht fähig Seins, sich ihr zu nähern. Alabastern schimmert ihre glatte Haut, marmorn wirkt ihre Statur, während Alice sich vor den Blicken ihrer Gefährten nach und nach enthüllt, verwandelt und es scheint, als würden fein bestaubte, transparente Falterschwingen oder Libellenflügel, da und doch nicht wahr, ihre Nacktheit noch mit Anmut würzen. Ihr dunkles Haar liegt nun straff um ihre Schläfen, schmiegt sich vorbei an ihren zarten Ohrenspitzen um die vollkommene Rundung ihres puppenhaften Hinterkopfes, endet dort in einem von zwei knöchernen Nadeln gehaltenen Knoten.
In ihrem Kokon ist Alice nicht mehr unscheinbar, sie wird vor den Augen ihres Fangs zur grausam vollkommenen und unantastbaren Göttin, grausam durch Schönheit, unantastbar durch ihre schweigende, wissende, verzeihende Überlegenheit.
Mit graziöser Anmut kleidet sie sich in ihr weiß-seidenes Nachthemd, das wie eine feenhafte zweite Haut, die feingliedrigen Rundungen ihres Körpers umfließt und entzündet die drei Flammen der kupfernen, stellenweise ergrünten, Öllampe in Mitten des Raumes.
Alles wirkt vergessen, staubig, die dichten Vorhänge, Polster und Teppiche verschlingen jeden Schall, jeden Widerschein des Lichts. Einzig die schwarzen Augen, jene samtenen Abgründe in Alice reflektieren die Flammen, die wie lodernde Zungen den Nektar aus der Luft ins innere der Lampe saugen. So saugen diese unergründlichen Augen jetzt an ihren Gästen, trinken die möglichen Vergangenheiten, während ihre sanften Spinnenfinger wie aus dem Nichts die Schicksalsfäden der Zukünfte zu seidenen Geschicken verweben, in die sie ihre schweigende Brut einschließt.
Alice kleidet ihre Gefährten in Geschichten, beobachtet wie der Kaugummi spuckende Junge zum Mann wird, die Träume seiner Kindheit sich in die Vernunft eines Erwachsenen verwandeln, wie er sich in jenes Mädchen verliebt, das, fast ein Kind auf einem Spielplatz noch, jenes Kondom in sich spürte und weinend, voller Scham und Schmerz verwirrt nach Hause lief, die Wut der Eltern ertrug, die Schläge für's zerstörte Kleid. Sie webt seinen Schmerz, seine Hilflosigkeit angesichts ihrer Geschichte. Sie webt seine Liebe, die unausgesprochene Ablehnung seiner Johanna und lächelt traurig, als er resigniert den Faden zerreißt, der beide verbindet und sich im Geschick ihres Peinigers verfängt, ihn gemächlich damit erdrosselt.
Sie sieht zufrieden zu, wie Johanna sich in ihren eigenen Faden schnürt, bis ihre Brust ganz eng wird.
Sie betrachtet die Leben, als wäre sie dabei, als sei sie mittendrin und genießt.
Dann geht sie auf Johanna zu, öffnet mit zärtlichem Geschick ihre schicksalsseidene Korsage und kleidet sich selbst darin, durchlebt die drückenden Gefühle voyeuristisch, spürt den schmerzenden, leidenschaftlosen Druck zahlreicher Glieder zwischen ihren Schenkeln und genießt ihre Qual, saugt das Fremde Leiden in sich auf, genießt den schalen Geifer ihrer Liebhaber, den Schraubstockgriff an ihren Gelenken. Während sie das Kaugummi Kind in seinem Männerkörper verführt verknüpft sie die beiden untrennbar Miteinander, um sich wieder aus ihrem geliehenen Schicksalskleid zu lösen. Zufrieden, erfüllt, mit prickelnden Schenkeln und brennenden Lippen, lässt sie sich endlich fallen und betrachtet das schwarzäugige Mädchen unter dem zarten Gewebe.
Mit einem zeitlosen Lächeln auf ihren stets verschlossenen Lippen, schließt sie langsam ihre Augen und fällt in traumlosen Schlaf, um als unscheinbare Raupe wieder zu erwachen.

Ich weiß nicht, wie sie mich fand, oder wie oft ich bereits ihr Gast war, bevor sie meinen Körper fing, mich in ihr Mausoleum entführte. Vielleicht war es eine unachtsam geknickte Seite in einem der zahlreichen Bücher, ein vergessenes Lesezeichen, ein Kaffeefleck, eine getrocknete Träne an verräterischer Stelle. Ihre Kunst jedenfalls legte, auch auf mich, den Bann der Blindheit. Nur so kann ich mir erklären, dass ich all die Jahre meiner Studien, zwischen staubigen Bücherrücken, niemals ihrer Gewahr wurde. Sie war ein Schatten, der unbemerkt die Regale füllt, Stempel auf Karton drückt. Heute denke ich, sie hat mich beobachtet, meine Spuren gelesen. Meine Lektüre nach Hinweisen abgesucht, meinen Geruch in sich aufgesogen, ihn zwischen den Seiten isoliert. Vielleicht ausgefallene Haare gesammelt, wie gesagt, ich weiß nicht mehr, wie ich in ihr Netz ging, mich in ihr verfing und welche Berechnung, welcher Zauber dem voran ging, sie letzten Endes veranlasste, ihre Maske aus dicken Gläsern abzunehmen um mir den Fluch ihrer unirdischen Augen entgegenzusprühen, die mich bannten.
Sie sprach von Poe und De Sade, mit ungeübter Stimme, einem eigenartigen säuseln zwischen kindlicher Schüchternheit und nonnenhafter Frömmigkeit. Zitierte Baudelaire mit der gehauchten Stimme einer unsicheren Verführerin und legte mir „Les Fleurs du Mal“ beiläufig auf den Bücherstapel. Ich hatte ihn zuletzt als düster-romantisch gefärbter vierzehn jähriger gelesen, nicht verstanden und vergessen. Nun war meine Neugier geweckt, mich wieder in jene Nostalgie zu versenken, vielleicht war es auch bloße Höflichkeit. Ich kam nicht dazu, meine Hände ertasteten schnell den winzigen, trotzdem akribisch versiegelten Umschlag im Inneren. Ich ließ ihn vorerst in meiner Innentasche verschwinden. Ich drehte mich um, doch Alice stand unbeteiligt, sortierte Bücher und kehrte mir den Rücken zu. Es fiel kein weiteres Wort, kein Blick wurde getauscht.
So verließ ich die Bibliothek und ging unter grauem Himmel durch die Regennasse Stadt nach Haus. Ich hatte ein kleines Appartement in einem sanierungsbedürftigen Altbau gemietet. Die Holztreppen knarrten jedesmal bedenklich, wenn ich die 44 Stufen hinaufstieg. Im Kamin glommen noch die letzten Kohlereste vor sich hin und ich legte fein gehacktes Holz nach, um die klamme Kälte aus meinem Arbeitszimmer und den Gliedern zu vertreiben. Novembertage lassen sich am besten vor einem schweren Schreibtisch am Kaminfeuer verbringen, gewürzt mit schwerem Rotwein. Diesmal schenkte ich mir allerdings einen Brandy ein, setzte mich in meinen, mit glänzendem Leder bezogenen, Lesesessel und brach vorsichtig das Siegel.
Es zeigte das Bild eines in rotes Wachs gedrückten Schmetterlings. Ich zog einen sorgsam gefalteten Bogen, beinahe durchscheinend dünnen Papiers heraus, auf dem in filigran geschwungener Kaligrafie, Worte ineinander verschlungen waren, was die Entschlüsselung der Botschaft entscheidend erschwerte.

Verzeihen sie mir, dass ich Sie auf diese Weise nötige. Es ist mir nicht möglich, auf anderem Wege auszudrücken, was ich Ihnen mitteilen möchte. Sie sind mir mit der Zeit, ein wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden. Nein, nicht im eigentlichen Sinne, aber in Form der Fragen und Gedanken, die sie in meiner Phantasie aufwerfen. Ich möchte Sie bitten, mir die Gelegenheit zu geben, Sie noch heute Abend zu treffen. Ich werde gegen 20 Uhr vor Ihrer Tür stehen. Sollten Sie mir nicht öffnen, werde ich Sie nicht weiter behelligen.

Alice


Ich kann nicht direkt beschreiben, was diese Zeilen in mir hervorriefen. Eine Begebenheit, wie man sie jedenfalls nur selten erlebt, für die man keine Handlungsweisen vorbereitet hat. Ich sah auf die Uhr, noch eineinhalb Stunden. Frohe Erwartung, Beklemmung, Furcht – ich wusste nicht, was in mir überwog, wusste nicht einmal, ob ich öffnen sollte. Was würde mich erwarten? Die verzweifelte Verliebtheit eines einsamen Mädchens? Ein erotisches Abenteuer mit einer als Büchereigehilfin getarnten Nymphomanin? Ein endloses Gespräch über Literatur, Philosophie und Poesie?
Ich sah mich in meinem Appartement um, räumte vorsorglich das alltägliche Chaos, die verräterischen Utensilien meiner latenten Alkohol – und Kokainabhängigkeit aus dem Sichtfeld des möglichen Besuchers, fütterte das Kaminfeuer und wartete. Ich wollte nicht den Eindruck erweckten, mich sonderlich auf den Besuch vorbereitet zu haben. Wider Willen und Vernunft wurde das Warten mir zur Qual, die Minuten schlichen dahin, zogen sich wie Schleimfäden einer vertrocknenden Qualle. Die Stille wurde zur unbeweglichen Masse und hätte ich sie nicht im Gespräch mit mir selbst vertrieben, sie hätte mich erstickt.
Mein Herz schlug Triolen, als es läutete, ich zögerte den Öffner zu betätigen, öffnete erst, als es zaghaft an die Wohnungstür klopfte.
Da stand sie, verborgen in einem dunklen Wollumhang mit verspielt Spitzer Kapuze und lächelte mich unsicher an: „Ich hatte schon befürchtet, sie würden mich vor der Tür stehen lassen.“
Meine eigene Schüchternheit kann ich mir nicht anders erklären, als dass sie mich mit dem ersten Blick ihrer Augen verzaubert hat. Heute glaube ich, sie war sich ihres Siegs von vorn herein bewusst. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Sprache wiederfand, eine Weile, die noch unendlich länger schien, da Alice ihren Umhang öffnete, ihn achtlos über ihre Schultern auf den Boden gleiten ließ und im purpurnen Kleid aus reinem Brokat auf mich zu trat. Erst jetzt fiel mir auf, wie klein sie war, als ihre Falteraugen zu mir auf sahen. Sie wirkte vergangener Zeit entglitten, ihr Haar war in Locken gelegt, die ihre weißen Schultern umspielten. Nichts glich mehr dem unscheinbaren Schemen, der getarnten Alice. Sie hielt mich mit dem Blick gefangen. Bis heute weiß ich nicht, ob ihre fesselnde Schönheit nicht ebenso ihr Blendwerk war, wie ihre Unscheinbarkeit. Blendwerk oder nicht, ich war dem Bann verfallen, spürte das dringende verlangen diesen pittoresque Geschwungenen Mund zu küssen, der mich, einen leicht geöffneten Lippenspalt erahnen lassend, anlächelte und meine Gedanken zwischen Kirschblüten und Honig kreisen ließ. Wortlos führte ich sie in mein Kaminzimmer, wir ließen uns auf Sitzkissen um den runden, flachen Messingtisch nieder, der wie eine gedämpfte Sonnenscheibe, den Schein der schummrigen Beleuchtung und des Feuers widerspiegelte. Ich entkorkte eine Flasche Wein, eine jener Raritäten, welche noch mit einer Nuance Coca verfeinert zu den verbotenen Hochgenüssen des vergangenen Jahrhunderts zählte.
Ihr wissendes Lächeln beim Klingen der Gläser, ließ mich meine Worte wieder finden.
Auf meine Frage erwiderte sie in ihrem vertraut säuselnden Tonfall, sie zeige sich ungern aller Menschen Blicke, verschleiere viel lieber, offenbare sich nur dem, von dem sie zu Träumen beschließt. So sei ihre Schönheit, und bleibe es, ein besonderes Geschenk für die wenigen Betrachter. Die unerwartete Arroganz bohrte sich wie ein Stachel in meine Brust, erfüllte mich mit warmem Stolz, der Behaglichkeit aufrichtiger Schmeichelei. Wie in einer Opium schwangeren Groteske Poes erschien mir die Situation. Als sie später am Abend meinen Hals zum Abschied mit den Lippen berührte, wollte mir vor Aufregung das Herz zerspringen. Ich lag noch lange, wie im Rausch, wach wagte nicht meinen Trieben nachzugeben, der aufgestauten Lust Befriedigung zu verschaffen. Als ich es doch tat, spürte ich jene schrecklichen Gewissensbisse eines Pubertierenden, der glaubt, er habe seine Angebetete beschmutzt, missbraucht und sei selbst unrein und ihrer nicht wert.
Umso quälender wurden die nächsten Tage. Alice wich mir aus, oder ich bekam sie gar nicht zu Gesicht. Zwar lächelte sie mich an, doch fiel kein Wort. Das in mir geweckte Verlangen, die Faszination bohrten in mir und nagten. Nach einer Woche hielt ich es nicht mehr aus, ich hielt sie am Ärmel und flüsterte ihr ein rasches, „Ich muss dich wieder sehen.“ zu.
Zu meiner Enttäuschung wand sie sich aus meinem Griff wie ein Schatten, warf mir einen nicht zu deutenden Blick zu und verschwand im Wald der Regale.
Eben noch ein erwachsener, selbst bewusster Mann, fühlte ich mich nun in die erbärmliche Lage des aufblickenden Schuljungen versetzt, der angesichts seiner Liebe beginnen möchte, sich im Boden zu vergraben. Alice hatte gewonnen, sie hatte mich auf irgendeine unbegreifliche Weise verzaubert, mir den eisernen Willen zu Kompott zerquetscht.
War es nur der Wunsch, ihr die Unnahbarkeit zu entreißen, ihre Geheimnisse zu entschlüsseln, vielleicht ihren Körper zu besitzen? War es ihre Fremdheit, die mich zog, oder doch ein Zauber, eine Gewalt, mittels derer sie mich zur Marionette machte. Ich war verzweifelt, gefangen im Gefühl meines machtlosen Spielball Daseins und freute mich, schwanzwedelnd wie ein junger Köter, als sie um acht an meine Tür Klopfte. Wieder warf sie wortlos, mit unergründlichem Lächeln, ihre Ummantelung ab, wieder wortloses niederlassen am Kaminfeuer. Diesmal hatte ich keine Zeit, meine Makel zu verbergen. Sie nahm augenscheinlich keine Notiz davon, erklärte mir, sie habe darauf gewartet, dass ich ihr ein Zeichen geben möchte. Sie wolle jedoch zu diesem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit keine Verbindung mit mir vermuten lassen, kein Gerede, vor allem aber keine Aufmerksamkeit. Mir leuchtete ein, dass ihre verborgene Person dadurch greifbar würde. Diesmal trug sie ein dünnes, grünes Kleid, giftgrün, mit passenden Armstulpen und bodenlang, ihr Haar war kunstvoll zurechtgesteckt, gab den Blick auf ihren zierlichen Hals die dezent gespitzten Ohren Preis. Ihre Augen glühten, als wollten sie sich dem Kleid anpassen in jenem seltsamen Ton zwischen schwarz und grün, wie man es von einigen Fliegenarten kennt.
Aus dem richtigen Blickwinkel, oder bei unbedachten Bewegungen gab sie Sekundenbruchteil kurze Einblicke auf ihre Zarten, unbedeckten Brustwarzen Preis. Ein erotisch geladener Schauer nach dem anderen lief mir über den Rücken. Wir lasen zusammen in meinem letzten Manuskript, es war mir teilweise unangenehm, aber sie ließ nicht locker. Unangenehm, da es vor Vulgarismen und offenen Geheimnissen männlicher Phantasmagorien durchsetzt war, wie Krieg und Ungerechtigkeit sich durch die Menschheitsgeschichte ziehen. Ich wusste nicht, wie mir Geschah, als sie völlig unerwartet begann, erst meinen Hals und dann meine Lippen zu küssen, ich verlor mich wie im Rausch meines Körpergefühls. Wir sanken auf den Boden, vor dem noch schwach flackernden Kaminfeuer und küssten uns voller gieriger Leidenschaft, der sie sich spielerisch wechselnd hingab und wieder entzog. Sie wusste meine Lust zu beherrschen, wie eine Virtuosin ihr Instrument.
Wieder blieb ich, selig, glücklich, verwirrt und unter sexuellem Hochdruck zurück. Angst überfiel mich wie ein meuchlerischer Schatten, diesmal wirkliche Angst, dieses Wesen zu verlieren, eines Tages ein langweiliges, liegen gelassenes Spielzeug zu sein, unbeachtet von seiner unbeständigen Besitzerin, ein verhungerndes und verdurstendes Haustier. Tief in mir spürte ich wohl schon, dass es irgendwann so sein wird, trotzdem konnte mich bereits nichts mehr davor retten, nicht blind, sondern bewusst, sehenden Auges in die ausgebreiteten Arme meiner Falle, meines Schicksals, ihr, zu rennen. Leidenschaft kann ein Todesurteil sein, das spürte ich und genoss es.

Seidenspinnerin, meine fatale Künstlerin. Noch einige Male saugtest du von meiner Kraft, bis sie erschöpft war. Schenktest mir Gipfel der Lust und Geborgenheit, Nähegefühl und ließt mich, deiner Insektennatur entsprechend, ausgesaugt zurück. Die Leblose Hülle eines gealterten Mannes, der resigniert weiß, dass das Gift in seinen Adern auch zukünftiges Glück erstickt.
Ich sitze vergraben in mir und meiner Wohnung gefangen, verfasse wirre Verse, resignierte Monologe, lebensfeindliche Pamphlete, fülle die Leere, dein Geschenk mit wärmenden Rauschzuständen. Ich habe aufgehört, meine Bewunderinnen, diese großäugigen Kinder zu verführen. Dein Gift lässt mich unwillkürlich und schmerzhaft an dich erinnern, die mir liebreizend den ersehnten Todesstoß versetzte. Einzig der Wahnsinn meiner Leidenschaft treibt mich voran, dich zu verfolgen, zu beobachten, dir endlich auf die Schliche zu kommen. Ich habe deine Unerkanntheit, deine Tarnung , dein Versteck durchschaut.
Ich bin mir sicher, ich könnte dich zurückverfolgen bis zum Ursprung vampirischer Mythen, Hexenwahn und anderen Spukgeschichten. Wie geschickt du doch deine Spuren verwischt, wie wenig ich doch weiß, und wie verbissen ich auch suche – ich finde keines deiner Opfer.
Ich werde aus der Bücherei geworfen, eine Einstweilige Verfügung macht mich zum Irren, verbietet mir, mich dir zu nähern. Während du grinsend am Gerippe meiner Seele nagst, ersticke ich in Rechnungen und Müll, verfaule bei lebendigem Leib und stoße wilde Schreie aus, die meine Nachbarn veranlassen, die Polizei zu rufen.
Die Wachtmeister sind sehr freundlich zu mir, sie haben versprochen, mich zu dir zu bringen. Es werde alles gut, wird mir beteuert. Ich soll jetzt bei dir wohnen, bis meine Wohnung wieder in Ordnung ist und es mir besser geht. Jetzt sitze ich im Kokon, eingesponnen und renne gegen die Wände, höre deine Stimme säuseln: „Du bist noch nicht bereit, Liebling! Du musst dich erst entfalten.“

Unter dem Einfluss deiner Beschwörung, spüre ich die Verwandlung in mir voranschreiten. Ständig begleitet mich dein Ruf, während meine Haut verhärtet werde innen zu lebendigem Brei.
Als man am Morgen meine Zelle öffnet, findet man nur noch meine transparent-seidige Haut, an spinnwebigen Fäden, fußüber von der Decke hängend. Eiskalter Schauer überläuft die gänsehäutigen Rücken meiner ahnungslosen Wärter, bis sie das gesehene beschließen, in ihren Köpfen als Suizid zu werten und das Hirngespinst ihrer überreizten Wahrnehmung zuzuschreiben.
Ich bin mit triefenden Mottenschwingen aus dem Fensterspalt gekrochen, hinaus in die laue Sommernacht entflohen, wo ich endlich erwartet wurde.
Liebevoll hast du meine Flügel glatt gestrichen, mit mir gewartet, bis der Sommernachtwind mich zur Vollkommenheit getrocknet und flugbereit gemacht hat.

Jetzt, endlich fliegen wir dem gemeinsam unerkannten Leben entgegen. Unscheinbar am Tag, vollendet in den mystischen Stunden der Nacht. Gemeinsam sammeln wir Vergessenheit und spinnen Schicksale aus euren unbeachteten Momenten, liegen gelassener Lebenszeit.

 

Hallo B Beck.

Zum Schreibstil habe ich mich schon in Einzelschicksal geäußert, also finde den immer noch super. ^^

Hier erkenne ich eine besondere Tiefgründigkeit in der Geschichte. Diese Alice, die aus den Kleinigkeiten Dinge liest, bzw. sich Geschichten zu ihnen ausdenkt, erinnert mich an "Die fabelhafte Welt der Amelie".
Da du dieses schreibst und selbst deine Phantasie beim Schreiben spielen lässt, halte ich dich für äußerst phantasievoll! Ich möchte keine anderen Herangehensweisen an Geschichten schlecht machen, aber sowas lese ich selten.
Alice hast du so detailliert beschrieben, dass ich meinen würde, sie auf der Straße wiederzuerkennen, würde sie mir dort begegnen ...

Eigentlich habe ich bloß noch gelesen und die Worte auf mich wirken lassen, hab die nächsten Zeilen herbeigesehnt, um mich in ihnen zu verlieren, ohne nach Fehlern zu suchen, wie ich das sonst tue ... Hm, ich glaube, dein Stil inspiriert mich ...

Faszinierend finde ich auch, wie realitätsnah die Geschichte am Anfang erscheint und wie sie dann Stück für Stück abdriftet. Was voher bildliche Metaphern waren, entpuppt sich als durchaus ernster gemeint, trotzdem bleiben am Ende Zweifel, ob die Geschichte nun fantastisch endet oder ob das Ganze nur Illusion eines Verwirrten ist.


Ein paar kleine Schreibfehler sind drin, aber über die sehe ich mal hinweg.

Wie gesagt, hab ich gerne gelesen. Mach weiter so! :)

Viele Grüße von Jellyfish

 

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