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Seine Prüfung
„Du packst das!“, hatte Rudi ihm nach ein paar Schritten noch einmal hinterher gerufen. Doch den erwartungsvollen Optimismus seines Kumpels konnte Simon nicht wirklich teilen. Während er die nächsten Meter seines Heimwegs von Rudis Zuhause aus noch zügig hinter sich brachte, sank seine Stimmung gemeinsam mit der gefühlten Außentemperatur. Rudi hatte leicht reden: Obwohl er selbst noch keine einzige Fahrstunde hinter sich hatte, erwartete er von Simon dennoch eine sauber abgelegte Prüfung. Alles andere würde ihn schwer enttäuschen.
Unvermittelt blieb Simon stehen. Den hellen Dampf, den seine Nase in rhythmischen Abständen ausstieß, hatte er vorhin nur beiläufig beachtet. Doch jetzt, wo die Wärme des Hauses gänzlich verflogen war, wurde er sich der herrschenden Kälte nicht nur optisch bewusst. Behände zog er den Reißverschluss seiner Winterjacke zu, vergrub die erkaltenden Hände tief in den warmen Jackentaschen und setzte langsam seinen Weg fort.
Tief durchatmen, Junge. Du schaffst das schon, bloß nicht zu nervös sein.
Simon genoss die leicht neblige Dunkelheit und die Stille, die sich um ihn herum ausgebreitet hatten und ihm die Gelegenheit gaben, noch einmal in sich zu gehen. Jetzt um halb Eins war hier keiner mehr unterwegs, nur die stummen Straßenlaternen wiesen ihm mit ihrem fahlen Licht noch den Heimweg ...
Und in ungefähr elf Stunden werde ich meine Fahrprüfung in den Sand setzen, dachte er. Mutlos bog Simon in die links einmündende Straße ab und wechselte vom Bürgersteig auf die Fahrbahn.
Okay, los geht’s. Nur immer konzentriert bleiben, dann klappt das.
Verwundert drosselte Simon sein Schritttempo. Urplötzlich war ihm eine andere Person aufgefallen, als diese gerade den Lichtkegel, zwei Laternen weiter vor ihm, verlassen hatte. Nun konnte er nur noch eine schemenhafte Gestalt erkennen, die sich langsam in seine Richtung zu bewegen schien. Simon wurde noch langsamer, bis er das Gefühl hatte, dass ihn selbst sein hinkender Großvater locker hätte überholen können. Beschämt stellte er jedoch fest, dass ihm der andere wohl ähnliches Misstrauen entgegenbrachte, denn zeitgleich hatten sich auch seine Bewegungen verlangsamt. Schritt für Schritt schlichen sie nun beide auf den Lichtkegel zu und traten exakt im gleichen Moment aus der Dunkelheit hervor. Simon blieb abrupt stehen und neigte ungläubig den Kopf.
Er sah in seine eigenen Augen, sein eigenes Gesicht. Ungefähr acht Meter vor ihm stand – Simon blickte mit Entsetzen zu ihm herüber – er selbst. Die weit offenen Augen und der plump herunterhängende Unterkiefer wurden sofort erwidert. Eine Weile stand Simon einfach nur regungslos da und beobachtete sein Ebenbild, welches es ihm weiterhin gleichtat. Nach einiger Zeit zog er schließlich langsam seine rechte Hand aus der Jackentasche und machte zögerliche Winkbewegungen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass diese andere Person sein Spiegelbild darstellte ... oder es zumindest darstellen wollte. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen und machte ein paar kleine Schritte nach vorne, auch der Andere rückte seinerseits vor. Je näher er ihm kam, desto mehr erkannte Simon seine eigenen Gesichts- und Wesenszüge. Stand er hier tatsächlich vor seinem eigenen spiegelverkehrten Ich?
„Wer ...?“ Als sein Spiegelbild im selben Moment wie er anfing zu reden, hielt er sofort inne. Vielleicht mehr aus Höflichkeit, den Anderen erst aussprechen zu lassen, als aus Verwunderung, doch sein Gegenüber verstummte ebenfalls.
Was sollte er jetzt tun? Über den Sinn dieser Situation nachzudenken war müßig: Es gab keinen. Oder war er nun verrückt geworden vor lauter Prüfungsangst? Träumte er? In Simons Innerem stieg der Drang auf, der Realität seines Spiegelbildes näher auf den Grund zu gehen. Zögerlich streckte er den Arm aus und ging langsam vorwärts, bis er die sich ihm entgegen streckenden Fingerkuppen mit seinen eigenen fast berührte. Nervös schaute er noch einmal in sein unschlüssiges Gesicht und legte schließlich die Handfläche an die andere. Egal, wie er seine Finger auch bewegte, ob Vulkaniergruß oder einfach alle auseinander gestreckt, die Gegenstücke bewegten sich immer mit.
So, und jetzt der nächste Schritt. Kopf hoch, läuft doch gut ...
Simon nahm die Hand wieder zurück und musterte abermals die ominöse Person, die vor ihm stand. Als er flüchtig eine Laterne im Hintergrund fixierte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass sein Spiegelbild ihm den Weg versperrte. Mit einem schnellen Ausfallschritt versuchte er, an ihm vorbei zu kommen, prallte jedoch unversehens Schulter an Schulter gegen den Anderen. Auch weitere Versuche nützten nichts: Entlang einer unsichtbaren Wand verwehrte sein Spiegelbild ihm jedwedes Weiterkommen. Wie nach des Rätsels Lösung suchend, blickte Simon sich um und registrierte ein Auto, das ein paar Meter hinter seinem Spiegelbild am Straßenrand parkte. Er musste nur ein paar Schritte zurück machen und anschließend auf den Bürgersteig zu gehen.
Bin mal gespannt, was du machst, wenn dir das Auto im Weg steht, dachte er. So begann Simon, einen Fuß hinter den anderen zu setzen, und wie erwartet, schritt auch sein Gegenüber zurück. Doch kaum hatte er ihn in Höhe des Autos gebracht, stieß er auf einmal mit jemandem zusammen. Als er sich schlagartig umdrehte, starrte er in das überraschte Gesicht eines weiteren Spiegelbildes. Ein hektischer Blick zurück bestätigte ihm, dass auch das andere noch da war. Das mulmige Gefühl der Bedrohung, das ihn ohnehin schon ab der Begegnung mit dem ersten Spiegelbild begleitet hatte, wurde nun wieder stärker. Gleichzeitig spürte er erste Anzeichen einer klaustrophobischen Unruhe in sich aufsteigen. Die Straße war ihm nun zu beiden Seiten versperrt, also musste er irgendwie über die Grundstücke der angrenzenden Häuser laufen, um zu fliehen. Woher diese beiden Gestalten kamen, interessierte ihn jetzt gar nicht mehr. Wichtig war nur noch, ihnen zu entkommen.
Doch dann blickte Simon zum linken Straßenrand herüber, wandte seinen Kopf gleich darauf panisch nach rechts – und warf angesichts der beiden neuen, wie aus dem Nichts aufgetauchten, Kopien alle Pläne über den Haufen. Denn jetzt war er wirklich gefangen. Ängstlich entfernte er sich von seinem zweiten Spiegelbild, mit dessen Rücken er eben zusammengestoßen war. Dafür kam aber das erste wieder auf ihn zu. Simon hielt an und dachte nach, gleichzeitig versuchte er sich, angesichts der immer mehr aufkeimenden Platzangst, zu beruhigen. Eine bemüht nüchterne Analyse brachte das Ergebnis, dass er auf einer ungefähr vier mal vier Meter großen Fläche gefangen war, die sich entgegen seiner Laufrichtung verschob: Das Spiegelbild, auf das er sich zu bewegte, kam ebenfalls auf ihn zu, während das gegenüberliegende von ihm weg schritt. Plötzlich erfasste Simon den freien Raum zwischen den Gegenstücken vor und rechts von ihm, und rannte los. Kurz bevor er mit beiden zusammenstieß, bremste er jedoch seinen Lauf jäh wieder ab und blieb stehen. Die abermals aufgetauchte Hoffnung, vielleicht doch schneller zu sein, versank resigniert wieder im Meer der Verzweiflung. Misstrauisch machte Simon einige Schritte zurück und schaute betrübt in die Runde. Waren die Spiegelflächen etwa näher gekommen?
„Was wollt ...?“, versuchte Simon erneut, Antworten zu erhalten, musste die Frage aber sofort wieder abbrechen, da er es einfach nicht ertragen konnte, wie sie alle mitsprachen. Er begab sich wieder in die Mitte der vier, so dass alle möglichst weit von ihm entfernt waren. Mit wild klopfendem Herzen und sich rapide beschleunigender Atmung blickte er panisch hin und her, versuchte, alle gleichzeitig im Blick zu haben. Doch immer, wenn er einem den Rücken zukehrte, war dieser beim nächsten Blick ein Stückchen näher an ihn herangerückt. Was sollte das? Was wollten sie bloß von ihm?
„Lasst mich in Ruhe!“, schrie er auf einmal flehend in die Runde und hob abwehrend die Fäuste. Auch die vier Spiegelbilder hatten nun die Arme gehoben und wirkten dadurch noch mal um ein Vielfaches bedrohlicher. Sie hatten Angst in den Augen; seine Angst – doch Simon traute ihnen nicht. Bis auf einen Meter war jeder mittlerweile an ihn herangekommen und aus der aufschäumenden Unruhe wurde nun glatte Panik: Nur schwer war es ihm möglich, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Zu grotesk war die ganze Situation und zu wenig Platz wurde ihm gelassen. Verwirrung und Klaustrophobie forderten ihren Tribut: Wie eine dünne Schnur, die unter der Last eines viel zu schweren Gewichtes zu zerreißen drohte, war sein Verstand kurz vor der totalen Kapitulation.
Es funktioniert, es funktioniert wirklich! Ich bin der Größte!
Er musste raus hier, sofort! Egal wie, nur raus! Simon ertrug die Eingrenzung keine Sekunde länger. Umgehend fuhr er die Schulter aus und versuchte immer wieder vergeblich, eines der Spiegelbilder wegzustoßen. Doch Simon konnte nicht aufgeben, mit jedem gescheiterten Versuch wurde er nur noch wilder. Schließlich ballte er arglos die Fäuste und schlug mit aller Kraft zu. Ein stumpfes Knacken war zu vernehmen, als die Fingerknochen aufeinander prallten. Simon und seine vier Kopien schrien auf. Mit zusammengebissenen Zähnen taumelte er zurück und hielt sich die, von pochendem Schmerz erfüllte, rechte Hand. Er schloss die Augen. Mit der Angst im Nacken, dass sie ihn nun jederzeit packen oder erschlagen würden, versuchte Simon, sich einen weiten leeren Platz vorzustellen, auf dem sein Weg zu allen Seiten frei war. Doch der erhoffte Beruhigungseffekt blieb aus. Zögerlich streckte Simon die linke Hand nach vorne in die augenscheinliche Leere und klammerte sich an die törichte Hoffnung, dass seine Spiegelbilder, obwohl er ihre Gegenwart spürte, nicht mehr da wären. Er stutzte: Eine andere Hand hätte ihm entgegen kommen müssen, doch sie kam nicht. Verwundert öffnete er die Augen und konnte gerade noch ausmachen, wie das Spiegelbild vor ihm blitzschnell den Arm hob und seine Finger berührte. Wie ertappt starrte es ihn nun an und Simon zögerte keinen Moment mehr. Abermals schloss er die Augen und machte mit ausgestreckten Armen eilige Schritte in die Richtung, in der kein Spiegelbild mehr stand. Er lief mehrere Meter durch die Dunkelheit, ohne dass ihn irgendetwas aufhielt, und öffnete schließlich erlöst die Augen. Als er sich umdrehte, war von den Spiegelbildern nichts mehr zu sehen, einzig und allein der Schmerz in seiner Hand war geblieben. Sogleich begann das Hadern darüber, das Erlebte richtig einzuordnen. War das alles wirklich passiert? Unsicher und aufgewühlt trottete Simon nach Hause.
In einem parkenden Auto, weit hinter ihm, saßen drei zwielichtige Gestalten und schauten ihm hinterher.
„Verspielt der kurz vorm Schluss noch seinen Führerschein.“ Der Prüfer beugte sich seufzend von der Rückbank nach vorne zum Prüfling: „Es tut mir ja Leid, aber wir können nur diejenigen die Dämonen-Prüfung bestehen lassen, die auch jederzeit dazu fähig sind, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Wenn Ihnen solche Fehler später noch mal passieren, würden wir schließlich die Verantwortung dafür tragen.“ Einfach nur sprachlos schaute der Prüfling zu seinem sauer drein blickenden Lehrer herüber.
„Warum bloß die Spiegelbilder? Stimmen, Verfolgung, das hätte doch alles gereicht, aber nein, du musst natürlich die Spiegelbildnummer abziehen. Und dann werden deine Kreaturen auch noch so ausgetrickst!“
Der Prüfling richtete seinen Blick noch einmal auf Simon und schüttelte fassungslos den Kopf: „Verdammt!“