Sekundenschlaf
Marvin kannte die Strecke auswendig. Jeden Abend fuhr er die dunkle, unbeleuchtete Landstraße, links und rechts gesäumt von hochgewachsenen Buchen, gegen 23:30 Uhr entlang, um von seiner Arbeitsstätte nach hause zu gelangen. Nie kam ihm ein anderes Auto entgegen, nur diesmal war es anders.
Wie immer saß er übermüdet am Steuer seines weinroten Chevrolets. Die Scheinwerfer erhellten nur wenig der Fahrbahn, doch Marvin blickte sowieso nur provisorisch nach vorne. Immer wieder nickte er kurzzeitig ein.
»Ich muss früher schlafen gehen...«, redete er sich ein.
Das Radio war sehr leise eingestellt. Er konnte nur erahnen, dass gerade Phil Collins’ »In the Air tonight« gespielt wurde. Wieder fielen ihm die Augen für wenige Augenblicke zu. Das Auto schwenkte leicht auf die Gegenfahrbahn. Marvin korrigierte die Fahrt sofort. Seine Augen waren vor Müdigkeit schon schwach, sodass er nicht die entgegenkommenden Scheinwerfer in der Ferne sehen konnte. Abermals nickte er ein. Ein Hupen ließ ihn hochschrecken. Er blickte auf die Straße, doch zu spät. Ein anderer Wagen war nur wenige Meter vor ihm. Er war wieder auf die Gegenfahrbahn gerollt. Die Geschwindigkeit beider Autos war zu hoch. Der Bremsweg zu lang. Das Unvermeidliche geschah. Die beiden Fahrzeuge stießen frontal zusammen.
»Oh, Schreck!«
Marvin wachte sofort auf und blickte verwirrt um sich. Er befand sich noch immer auf der dunklen Landstraße. Weit und breit war kein anderer Wagen zu sehen.
»Ich muss wieder eingeschlafen sein! Jetzt reiß dich am Riemen und konzentrier dich aufs Fahren, Marvin!«
Er stellte das Radio lauter, doch nun war außer einem Rauschen nichts zu hören.
»Ach scheiße, man!«
Er rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf in alle Richtungen, um seine Müdigkeit zu verdrängen. Er öffnete das Handschuhfach und hielt nach ein paar Kassetten Ausschau, doch konnte er keine entdecken.
»Musst du dich wohl ohne Musik zufrieden geben«, dachte er und seufzte.
Plötzlich stand mitten auf der dunklen Straße ein Mann mittleren Alters. Er trug ein schwarzes Hemd, einen weißen Anzug und dazu passend saß auf seinem Kopf ein ebenso weißer Hut. Marvin trat hart in die Eisen und brachte den Wagen wenige Millimeter vor dem Mann zum Stehen.
»Was ist in Sie gefahren, Mann! Sind sie lebensmüde?«, brülle Marvin ihn an, nachdem er das Fenster heruntergekurbelt hatte.
»Entschuldigen Sie, Sir, aber nur so konnte ich mir erhoffen, gesehen zu werden. Wären Sie so freundlich und würden mich bis zum nächsten Ort mitnehmen?«
Der Mann sprach in gehobenem Englisch, woraus Marvin schloss, dass er Engländer war.
Er seufzte.
»Warum nicht, hüpfen Sie rein!«
Marvin konnte jetzt ein bisschen Ablenkung gebrauchen, sonst würde er nur wieder einschlafen.
Der Mann bedankte sich und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Marvin wunderte sich nicht, was jemand kurz vor Mitternacht fernab von einem Haus zu Fuß auf einer Landstraße zu tun hatte, wo doch nirgendwo ein Auto zu sehen war.
»Ich bin Marvin, wer sind Sie?«
»Hallo, Marvin, freut mich, Sie kennen zu lernen. Mein Name ist Lediv...Jack Lediv.«
»Wenn Sie mir die Frage erlauben: Was sind Sie von Beruf? Sie sind so vornehm gekleidet.«
Jack lachte.
»Ich bin gewissermaßen Geschäftsführer einer großen Firma, die weltweit tätig ist.«
»Ah, das erklärt Ihr ordentliches Auftreten.«
Jack lachte abermals.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Radio anschalte? Wissen Sie, ich liebe Musik...«, sagte Mr. Lediv.
»Sorry, man. Aber irgendwie funktioniert das nicht mehr. Hab’ mich darüber auch aufgeregt.«
»Hmm...ach Iwo...das wird schon gehen.«
Jack drückte eine willkürlich ausgesuchte Taste, worauf aus den Lautsprechern die melodischen Klänge von The Devil Went Down To Georgia der Charlie Daniels Band erklang.
»Ahh..das ist eins meiner Lieblingslieder. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein wenig lauter mache?«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich war vorhin wohl in ’nem Funkloch«, antwortete Marvin, zuckte mit den Schultern und Jack erhöhte die Lautstärke.
Johnny rosin up your bow and play that fiddle hard.
Mr. Lediv bewegte seinen Fuß im Takt auf und ab.
Cause all hell's broke loose in Georgia and the devil deals the cards.
»Sagen Sie, Mr…«
»Nennen Sie mich Jack, Marvin.«
»Okay, Jack, was macht Ihre Firma denn, wenn ich fragen darf?«
Mr. Lediv lachte schon wieder.
»Aber sicher dürfen Sie. Irgendwie müssen wir uns ja beschäftigen, nicht war?«
Wieder lachte er los.
»Achja, was meine Firma macht, wollten Sie wissen? Och..dies und das. Wir sind weltweit aktiv. Es würde zu lange dauern, ihnen alles zu erklären, das verstehen Sie doch, oder?«
»Aber sicher...«
Was sollte Marvin auch anderes darauf antworten? Etwa ‚Nein, jetzt erzählen Sie schon, sonst setzt es was’?
But if you lose the devil gets your soul.
»Es ist schon makaber, oder?«, sagte der Anhalter plötzlich.
»Was?«
»Na, wir sitzen hier und erfreuen uns der Musik und auf der ganzen Welt sterben just in diesem Augenblick Hunderte von Menschen ..«
Jack lachte los. Jetzt lauter als die Male davor. So langsam kam Marvin der Mann unheimlich vor und er bereute allmählich, dass er ihn hatte mitgenommen.
Inzwischen lief ein Lied von Van Halen im Radio.
Yes I'm living at a pace that kills… Running with the devil.
»Glaubst du...ich darf dich doch duzen, oder...«, Jack wartete keine Antwort ab, », dass es ein Leben nach dem Tod gibt?«
Und schon wieder erklang sein Lachen, welches Marvin inzwischen beunruhigend fand.
Got nobody waiting at home… Running with the devil.
»Nun gut, du brauchst mir nicht zu antworten, du kannst auch weiter still neben mir sitzen. Aber das wäre doch ziemlich langweilig, oder?«
Marvin zwang sich ein Lächeln auf.
»Ja..hehe...wo sagten Sie kommen Sie noch mal her?«
Jacks Gesicht verzog sich plötzlich zu einer wilden Fratze und mit tiefer Stimme antwortete er: »Direkt aus der Hölle!!«
Ein entsetzliches Lachen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, tönte aus dem Mund – oder besser Maul – des Anhalters.
Erschrocken trat Marvin auf die Bremse. Er schloss die Augen. Wollte diese widerliche Fratze nicht ansehen müssen. Dann spürte er so was wie einen Stromschlag. Als er die Augen wieder öffnete, blickte er in zwei freundlich aussehende Augen.
»Wir haben ihn! Es ist wieder da«, sagte die dazugehörige Stimme.
Im gleichmäßigen Takt wurde die Umgebung immer wieder von blauem Licht erhellt. Marvin nahm allerhand Stimmen war, die er nicht zuordnen konnte. Dann wurde er auf eine Trage gehievt und nun war ihm klar, wo er war. Er erinnerte sich an den Autounfall und war erleichtert, dass das danach Erlebte scheinbar nur ein Traum gewesen war, wenn man in dem Zustand, in dem Marvin sich befand, überhaupt davon reden kann, eine Erleichterung spüren zu können.
»Das war knapp, nich? Wir ham dich grad noch so ins Leben zurückholen können«, sagte eine weitere Stimme, die einem netten Mann in roter Jacke zu gehören schien. Dann wurde die Trage mitsamt Marvin in den Notarztwagen geschoben.
Kurz bevor die Türen geschlossen wurden, sah Marvin Mr. Jack Lediv davor stehen, in seinem so unauffällig auffälligem weißen Anzug. Er zwinkerte mit einem Auge und sagte in einem weder bedrohlichen noch freundlichen Tonfall: »Wir sehen uns noch, Marvin.«
Dann wurde Marvin wieder bewusstlos.