Sekundenschlaf
Jeden Abend habe ich die Wahl zwischen Schmerzen und Einheitsbrei. Es nennt sich Medizin, aber es macht mich krank. Nebenwirkungen versus Schlaflosigkeit. Und nun versuch mal, eine Entscheidung zu treffen.
„Wie wärs mit Selbsthilfegruppen“, fragt sie mich. Menschen die dich nicht kennen, reden über Probleme die sie nicht haben. Augenpaare starren auf den Punkt zwischen Nase und Stirn, während du dich vorstellst. Innerlich brennen sie. Jeder ist der Überzeugung, sein Leid wäre das Schlimmste. Unvorstellbar, wenn jemand käme und ihnen auch das noch wegnehmen würde. Lügen duellieren sich Waffenlos im Gemeindehaus. Dafür brauch ich keine Gleichgesinnten, dass kann ich alleine viel besser!
Nach vier Wochen ohne Sedativa sehe ich aus wie ein Geist. Mit fühle ich mich wie einer. Das ständige verkrampfen der Beine, es lässt einen verrückt werden. Nachts verwandeln sich die Stunden zu Jahren, ein Gott wer dies nicht kennt. Immer wieder schlage ich mit den Fäusten auf die selben Hematome. Ergebnislos. Also wieder Tabletten.
Die Welt wird dadurch zu einem Theaterstück. Allerdings hat man vergessen, den Vorhang zu öffnen. Plötzlich wirst du auf die Bühne gebeten, ohne Textbuch oder Souffleur. Während das Publikum lacht, wird Wut zum einzigen Gefühl. Zerstörte Requisiten geben dir Befriedigung.
„Ich vermisse dein Lachen“. Ihre braunen Augen schauen traurig zu mir herüber. Du schwörst nicht mehr die Pillen zu nehmen. Wieder liegst du Ewigkeiten wach, schlafen mit Pausen. Alkohol fließt in rauen Mengen, aber es hilft schon lange nicht mehr. Freunde fangen an, sich von dir zu distanzieren. Zu seltsam erscheinst du ihnen. Ich mache ihnen keine Vorwürfe, ich würde es auch tun, wenn ich nur könnte.
Fotos von früher lassen dich erschrecken. Gnadenlos zeigen sie dir die Veränderungen auf. Hunger ist ein Fremdwort und so sieht auch dein Körper aus. Abgemagert, kraftlos, widerlich. Du zwingst dich zu essen, wohl wissend, dass alles unverdaut in der Toilette landet. Krank vor dem Spiegel. Muskeltraining, Proteine und Kohlenhydrate. Es ist ein enormer Aufwand, wenigstens die gebliebenen Kilos zu halten. Was war nochmal Selbstvertrauen?
Die Ärztin schüttelt ihren Kopf und meint, ich müsste meine Therapie wieder aufnehmen. Ich würde ja, aber da es keine Heilung gibt, fehlt es an Motivation. Leben kann man diesen Zustand jedenfalls nicht mehr nennen.
Wenn du erst anfängst diesen Gedanken offen auszusprechen, dauert es nicht mehr lange und sie holen dich ab. Krankenhausduft setzt sich an dir fest. Alles wird kontrolliert, sogar dein Verstand. Erinnerungen werden durch Morphium weggespühlt. Unfähig auch nur eine Träne zu lösen, wartest du den Pflichtbesuch deiner Freundin ab. Sie ignoriert dein Nasenbluten und gibt dir einen Kuss. Du spürst die Berührung ihrer Lippen, wie sich etwas Speichel auf deinem Gesicht festsetzt. Freude kommt erst dann auf, wenn sie endlich geht.
Ein Königreich, wenn ich wenigstens als ich selbst sterben dürfte. Vielleicht wäre es mir dann nicht so egal.
Die Schwester wäscht mich ein letztes Mal. Grob und hastig, so wie sie es immer macht. Für sie ist es nichts besonderes. Nur ein freiwerdendes Bett. Du bedankst dich auch jetzt nicht. Deine Familie steht bei dir und irgendjemand weint. Erleichterung wird die Trauer bald ablösen. Auch für sie war es ein langer Kampf.
Hätte ich einen Spiegel, ich sähe das Gesicht eines Fremden. Ganz grau ist es geworden. Das Äußere passt sich dem Inneren an. Körper und Geist, immer vereint.