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Selbstmord
Simone rannte hinter dem Bus her.
„Scheiße, du Dreckskerl! Der hat doch genau gesehen, dass ich noch einsteigen wollte.“ Wütend trat sie gegen eine umherliegende Coladose und ging zurück in Richtung Busbahnhof. Auf der vorderen Bank saßen drei Omis und schauten sie entsetzt an. „Gut, dass ich nicht eure Enkelin bin, was?“ Simone ging gemächlich an ihnen vorbei. Sie hasste diese Vorurteile, nur weil sie ein paar Piercings hatte war sie doch noch lange keine Verbrecherin. Auf Bänken, in der Schule, es war überall das Gleiche. Vorurteile wohin das Auge reichte. Mit einem Bundeswehrrucksack und zwei Piercings war man schon mit einem Bein im Knast. Die Leute in diesen Käffern waren einfach alle gleich.
Auf der zweiten Bank an der Haltestelle saß ein junger Kerl, vielleicht 19. Er sah irgendwie normal aus, mit Jeans und T-Shirt. Neben sich hatte er einen riesigen Rucksack, der fast aus allen Nähten platzte. Er schien sich zumindest nicht vor ihr zu fürchten, deshalb setzte sie sich neben ihn.
„Na, wollte der Busfahrer dich nicht?“ sprach er sie auch gleich an.
„Sehr witzig. Ich war halt einfach zu spät. Außerdem hab ich mich nicht hier hergesetzt um zugetextet zu werden.“ Simone drehte genervt den Kopf zur Seite.
„Sorry, bin’s ja gewöhnt, dass keiner mit mir reden will. Hat sich ja eh bald erledigt. Ich hab nicht vor, es weiter zu versuchen.“
„Was willst’n damit sagen?“ Simone versuchte möglichst uninteressiert auszusehen, aber dieser komische Typ wirkte irgendwie depressiv.
„Ich hab halt keinen Bock mehr auf die Leute, auf die Menschen eben. Weißt du, wenn sich nicht mal deine Eltern für dich interessieren, kannst du den Rest der Welt auch vergessen. “ Er stand auf und schulterte seinen Rucksack. „War nett, mit dir zu quatschen.“ Er hob die Hand und marschierte in Richtung Innenstadt.
„Hey“, Simone stand ebenfalls auf und rief ihm nach, „warte doch mal. Der Bus kommt gleich.“
„Schon okay, mach dir um andere Sorgen!“ Er musste schreien, so weit war er schon weg. Niemand beachtete ihn und so setzte sich auch Simone wieder.
Sie beobachtete die alten Damen auf der Bank nebenan. Sie tuschelten leise, fast ängstlich. Jammerten über ihr Unglück mit dem Bus fahren zu müssen und über die Unfreundlichkeit der Leute älteren Menschen gegenüber. Simone stand seufzend auf und kaufte sich einen Kebab und eine Cola. Während sie aß konnte sie den Gedanken an den komischen Typ aber auch nicht verdrängen. Was der wohl gemeint hatte? Ihre Eltern interessierten sich auch eher sporadisch für sie, aber wozu hat man denn Freunde? Tolle Freunde hast du, Simone. Hängst hier alleine an der Bushaltestelle und belauschst Omis. Du verarschst dich auch selbst. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie hatte selbst oft keinen Bock auf niemanden und gar nichts, aber so komisch wie der war sie noch lange nicht drauf. Wahrscheinlich hatte der einfach ein paar Pillen eingeschmissen. Oder er war ein Psychopath. Gerade die, die normal aussahen waren doch schließlich immer die Killer.
Sie schaffte es nicht, ruhig sitzen zu bleiben, sprang auf, warf ihren Kebab in den Mülleimer neben sich, packte die Cola in ihren Rucksack und rannte los. Sie wusste nicht wohin, lief einfach mitten in die Stadt hinein. Die Fußgängerzone führte eigentlich nur in eine Richtung und es gab nicht viele Möglichkeiten links oder rechts abzuzweigen.
Vor dem Schuhladen ihrer Tante erkannte sie Marc, einen der Penner, denen sie manchmal etwas zusteckte, wenn sie hier auf Familienbesuch war.
„Hey Marc, hast du einen jungen Typen gesehen, vielleicht 19. Er ist etwa zwei Kopf größer als ich, hat eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt an und…ach, ja, einen Rucksack hat er dabei!“ Simone verhaspelte sich vor Aufregung.
Marc sah sie einen Moment bedächtig an. „Ich glaub, ich hab da wen gesehen. Er ist Richtung Erich – Kästner – Brücke gegangen. Hat mir sogar was zugesteckt. Ist’n Freund von dir?“
„Keine Zeit. Danke für die Info, ich komm nachher mal kurz vorbei.“ Simone war schon losgerannt. Natürlich, die Brücke. Wo sonst konnte man sich in einer 10 000 Seelen Stadt schon umbringen. Sie rannte, sie rannte schneller, sie rannte, als ginge es um ihr Leben. Passanten pöbelten sie an, beschwerten sich, weil sie von ihr gestreift wurden. Sie aber lief weiter, keuchte, begann zu husten und musste inne halten. Da vorne, die Brücke war ganz nah. Simone konnte aber noch niemanden sehen. Langsam ging sie weiter, dicht an der Leitplanke, um nicht vor den vorbeirasenden Autos mitgeschleift zu werden. Einige Meter weiter gab es ein riesiges Geländer, von wo aus man den Abgrund sehen konnte. Die Brücke war einige Meter hoch und lief genau über der Autobahn entlang. Irgendwo dort musste er sein.
„Hey!!“ Sie konnte eine Gestalt am Seitenstreifen erkennen. Er schien sich Mut zu fassen. Machte einen Schritt auf das Brückengeländer zu.
„Hey! Tu’s nicht. Warte doch!!“ Sie rannte wieder los, rannte direkt auf ihn zu, warf sich regelrecht auf ihn. Sie fielen beide in Richtung Straße, ein vorbeifahrendes Fahrzeug hupte ein paar Mal und der Fahrer zeigte ihnen den Vogel. Simone krabbelte von ihm runter und reichte ihm eine Hand um ihm hoch zu helfen.
„Bist du bescheuert? Willst du mich umbringen?“ Er nahm ihre Hand, sah sie aber kein bisschen verärgert an. Sein Gesicht war eher erleichtert. „Das ist ein Autobahnzubringer. Da sollte man niemanden vor Autos werfen!“ Er schnaubte und stieß sie grob von sich weg.
„Du wolltest doch die Brücke hinunter springen. Ich hab dein Leben gerettet!“ Simone fing vor lauter Aufregung an zu weinen. Sie war weit über ihre Grenzen gegangen. Es war, als wäre sie um ihr eigenes Leben gerannt. Ihr fiel niemand ein, für den sie dasselbe getan hätte. Dieser Kerl könnte ruhig ein bisschen dankbar sein.
„Ich habe hier einen Kranz an den Straßenrand gelegt. Meine Mutter ist an dem Zubringer verunglückt. Jedes Jahr an ihrem Todestag komme ich hierher und schmücke das Kreuz da drüben.“ Er zeigte mit dem Finger auf ein schmales Holzkreuz, das unweit von ihnen entfernt stand.
„Au Sch….Sorry, o Gott, es tut mir so leid. Ich bin wie eine Wahnsinnige umher gerannt, um…, um dir das Leben zu retten. Ich dachte echt, du….du, wolltest da runter springen, oder dich eben vor die Autos werfen.“ Simone rannen Tränen über das Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper.
„Geht schon klar. Ich muss jetzt aber weg. Danke für die Rettung.“ Er schulterte erneut den Rucksack und lief ohne sich umzusehen, in Richtung Treppenabgang.
Simone stand völlig fertig am Seitenstreifen. Sie taumelte in Richtung Leitplanke und lief zu dem Kreuz, um sich den Kranz anzusehen. Kaum kniete sie vor den niedergelegten Blumen, las sie auch schon die Inschrift: „Markus Trautmeyer“. Über dem Namen prangte das Datum des heutigen Tages. Sie begann heftig zu weinen, ihr war eiskalt. Nie in ihrem Leben war ihr etwas Derartiges widerfahren. Von ihr unbemerkt, hielt hinter ihr ein Polizeiwagen.
„Junge Frau, haben sie den Mann gesehen, der sich hinunter stürzen wollte? Autofahrer haben uns benachrichtigt.“ Ein Polizist trat hinter sie und berührte sie sanft an der Schulter, anscheinend in dem Glauben eine geschockte Zeugin vor sich zu haben.
„Ja, aber er ist am Leben. Ich glaube, ich habe ihn gerettet.“ Stumm folgte sie dem Polizisten zu dem Streifenwagen.