Mitglied
- Beitritt
- 23.06.2021
- Beiträge
- 373
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
- Anmerkungen zum Text
Etwas makaber vielleicht, aber dennoch ein Text über Hoffnung.
Seltsam selbstgemachtes Weihnachtswunder
Sorgfältig legt Klaus die neue Ausgabe des Darmstädter Echos auf den Tisch und streicht über das Papier. Die Hand zittert und das Streiflicht vom Küchenfenster modelliert für einen Augenblick eine kleine Landkarte aus Adern, Falten und Altersflecken auf seine Haut. Hilde sitzt ihm gegenüber. Sie lächelt und hebt den Kopf, um ihn ansehen zu können. Eine Strähne ihres weißen Haars leuchtet in der Morgensonne. Die rechte Hälfte ihres Gesichts liegt im Schatten. Trotzdem sind die dunklen Augenringe nicht zu übersehen.
Sie ist wieder so blass, denkt er. Aber immer noch schön, nach all den Jahren. Einen Atemzug lang schauen sie sich schweigend an. So vertraut. Zur Sauerstoffflasche mit der Atemmaske, neben Hildes Stuhl schaut er nicht. Statt dessen atmet er hörbar ein. »Sollen wir?«, fragt er dann. Hilde nickt. Ihr Lächeln soll wohl Zuversicht ausdrücken. Aber Zuversicht ist gerade nicht greifbar. Er sieht es, aber er weiß nicht, was er sagen soll. Also fängt er an zu blättern. Titelzeile, Nachrichten aus aller Welt, Fußball-WM … all das interessiert sie nicht mehr. Die Lokalnachrichten werden sie vielleicht später noch lesen. Statt dessen blättert er weiter, bis zu Seite 27, den Todesanzeigen.
Hilde schaut ihn an und er beginnt zu lesen. »Der Intendant vom Staatstheater ist gestorben«, liest er vor. »Autounfall.« Wie immer bei bekannten Persönlichkeiten gibt es mehrere große Anzeigen.
»Es kann auch schnell gehen«, sagt Hilde.
Sie sagt das beinahe sehnsüchtig, denkt er und seine Stimme klingt gepresst, als er weiterliest. »Frau Müller aus dem Martinsviertel ist an Krebs gestorben.« Er lässt den Finger über die Seiten gleiten. »Frau Huxhorn. Du weißt doch, die Rothaarige aus dem Pillhuhn … nach langer und schwerer Krankheit.« Er ließt weiter, blättert um. »Oh, Peter Schmaller aus der Achzehn … plötzlich und unerwartet. Das tut mir leid«, sagt er. Als er aufblickt, hat Hilde Tränen in den Augen.
»Wir sollten Sabine eine Karte schicken«, sagt sie. Und leiser: »Hingehen kann ich ja nicht mehr.«
Hat das hier überhaupt noch einen Sinn? Wir werden nicht einmal mehr zusammen Weihnachten feiern können. Am liebsten würde er die Zeitung vom Tisch fegen und Hilde in den Arm nehmen. Nicht mehr kämpfen. Sie nur noch festhalten und für die letzten Wochen nicht mehr los lassen. Und dann laufen ihm doch die ersten Tränen über die Wangen. »Bitte nicht«. Hildes Stimme ist kaum zu hören. Die Luft geht ihr aus und sie greift nach der Atemmaske. Fünf, sechs mal atmet sie zischend durch die Maske, bevor sie sich wieder aufrichten kann.
»Es tut mir leid, Schatz.« Klaus wischt die Tränen ab und konzentriert sich wieder auf die Zeitung. Auf Seite 29 findet er endlich, was sie suchen. »Hier«, sagt er und zeigt auf die Annonce. »Hier stimmt alles.« Hilde sagt nichts, aber endlich ist da wieder Spannung in ihrem Gesicht. »Eine Frau Mager, aus Bessungen … am Samstag den letzten Atemzug getan.« Mit großen Augen schaut er Hilde an. Gibt es doch noch ein Weihnachtswunder?
Dann greift er nach dem Telefon. Die Nummer ist längst eingespeichert. Er wählt, hält krampfhaft den Hörer an sein Ohr. Ohne lange Vorrede platzt er heraus: »Meine Frau braucht dringend einen Termin bei Ihnen.« Die Stimme am Telefon sagt etwas ablehnendes. Also setzt Klaus noch einmal an. »Wir haben gelesen, bei Ihnen ist ein Platz frei geworden«, sagt er, während sein Zeigefinger wieder und wieder auf die Todesanzeige pocht.