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Sewa - Vergissmeinnicht (1)
In der Seniorenwohnanlage Vergissmeinnicht leben Menschen, die aus dem Arbeitsleben ausgeschieden und fit genug sind, für sich selber zu sorgen. In ihren Wohnungen können sie selber kochen, wenn sie möchten, sie können einkaufen oder ins Kino gehen. Niemand beaufsichtigt sie, es gibt keine besonderen Vorschriften. Der wichtigste Unterschied zu irgend einem anderen Mehrfamilienhaus liegt darin, dass in einem Raum des Hauses immer eine Pflegerin oder ein Pfleger anwesend ist, sodass die Bewohner hier schnell Hilfe bekommen können, wenn es nötig ist. Die Pflegekräfte begleiten die Bewohner schon seit Monaten und wissen so einiges über ihre übliche Alltagsgestaltung. Deshalb können sie jeden Morgen die einzelnen Bewohner kurz besuchen, ohne sie aus dem Bett zu scheuchen, oder bei der morgendlichen Dusche zu überraschen. Sollte sich dann ein Bewohner nicht melden, können die Betreuer mit einem Generalschlüssel schnell in die Wohnung kommen und überprüfen, ob alles in Ordnung ist.
Im Haus leben etwa 60 Menschen und wir kennen uns auch alle ganz gut. Es gibt so manche Freizeitangebote im Haus und auch außerhalb. Vor mehr als einem Jahr zog Frau Mühler ein und uns - ich meine Herbert und mich - fiel nach einigen Wochen etwas Seltsames auf. Die Beschäftigungstherapie, also die Freizeitangebote, decken ja nur einen kleinen Teil der freien Zeit ab. In der restlichen Zeit beschäftigen wir uns meistens mit uns selber. Da gibt es Bewohnerinnen, die den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen, andere gehen stundenlang spazieren. Manche putzen ihre Wohnung jeden Tag und andere gehen jeden Tag einkaufen oder laufen ziellos im Haus herum. So haben wir alle unsere Eigenheiten, mit denen wir versuchen, die Langeweile zu überspielen. Und doch kann einen manchmal die Trostlosigkeit über das eintönige, langsam dahinfließende Leben überkommen.
„Ich habe gerade gelesen, dass für ältere Menschen die Zeit schneller vergeht.“ Herbert war gerade bei mir zu Besuch und wir tranken einen kleinen Kaffee mit Schuss.
„Kann sein, aber noch nicht schnell genug.“, murrte ich.
„Ich denke, ich kann dich aufmuntern.“, meinte Herbert.
„Ach ja, und wie stellst du dir das vor?“
„Wenn ich in der hinteren Ecke meines Wohnzimmers sitze, sehe ich die Wohnungstür von Frau Mühler.“
„Ja, und - ist da etwa was los?“
„Und wie - von Montag bis Donnerstag immer um 15 Uhr kommt Besuch und bleibt etwa für eine Stunde.“
Da ich auch einmal eine Besucherin gesehen hatte, meinte ich „Wahrscheinlich ihre Tochter.“
„Nicht nur, es sind jeden Tag andere Personen. Montags und mittwochs Frauen, dienstags und donnerstags ältere Männer und freitags kommt ein junger Mann.“
„Und am Wochenende?“
„Kommt niemand, aber am Montag beginnt der Reigen wieder von vorne.“
„Das ist ja wirklich eigenartig. Da sollten wir dranbleiben. Aber wie bekommen wir da mehr Informationen? Die Schwester wird uns doch bestimmt nichts verraten.“
Da es Freitagabend war, beschlossen wir, uns am Montag um halb drei zu treffen und die Besucher gemeinsam zu beobachten.
Am Samstagnachmittag kam Frau Mühler und lud uns beide zum Kaffee am kommenden Nachmittag ein.
Und dann saßen wir am Kaffeetisch. Frau Mühler hatte auch Frau Mörke eingeladen, also saßen alle vier Bewohner in diesem Flur zusammen. Wir hatten Kaffee und Kuchen vor uns, als Frau Mühler meinte:
„Ich habe euch eingeladen, weil ich denke, man sollte sich besser kennen, wenn man nahe beieinander wohnt. Außerdem fühle ich mich manches Mal ein wenig einsam und allein.“
Da konnte Herbert nicht mehr an sich halten. „Aber Sie bekommen doch fast jeden Tag Besuch!“
Frau Mühler schnaubte: „Auf den Besuch würde ich liebend gerne verzichten.“
Wir beiden Männer glotzen sie geradezu an. Frau Mörke, die nicht nur schwerhörig ist, sondern ab und an abwesend zu sein scheint, hatte offensichtlich nichts mitbekommen.
„Sind die Besucher Ihre Kinder - oder?“, fragte ich.
„Ich will jetzt nicht weiter darüber reden. Eigentlich gibt es immer nur Streit und das gefällt mir gar nicht.“
Wir haben dann nicht mehr über dieses Thema gesprochen, kamen aber jeden Sonntag zum Kaffeetrinken bei Frau Mühler zusammen. Von Montag bis Freitag schauten Herbert und ich aus dem Fenster oder gingen zur passenden Zeit im Haus spazieren. Uns fiel schon bald auf, dass die Besucher schon mit verkniffenen Gesichtern kamen. Und wenn sie dann gingen, sahen sie oft recht verärgert aus. Ich war versucht, ihnen zuzurufen „Passen Sie auf, dass Sie keine Falten bekommen.“ Aber wir mischten uns nicht ein.
An einem Mittwochnachmittag im Sommer hörten wir durch das geöffnete Fenster, wie die Besucherin beim Fortgehen lauthals schimpfte: „Diese alte Hexe. Ich könnte sie umbringen. Aber erst muss klar sein, wer die Häuser erbt.“
Für die nächste Zeit hatten wir einigen Gesprächsstoff und dann geschah etwas ganz Unerwartetes.
Es war Freitag, der junge Mann steuerte auf die Wohnung von Frau Mühler zu, als jemand „Heinrich“ rief. Er drehte sich um und da kam der ältere Mann, der sonst immer dienstags zu Besuch kam, auf ihn zu.
„Was willst du denn hier?“
„Ich muss mit dir reden. Beate hat deiner Mutter gegenüber einiges angedeutet.“
„Und warum kommt Inge dann nicht selber?“ Die beiden knurrten sich an wie zwei Hunde vor einem großen Knochen.
„Ihr würdet euch doch nur streiten. Aber wir müssen jetzt zusammenhalten, sonst bekommt Beate die beiden Häuser und wir müssen uns mit ein bisschen Geld zufriedengeben.“
„Ein paar Millionen sind ein bisschen? Mach dich nicht lächerlich.“. Der junge Mann schaute bitterböse.
„Wir haben eine große Hypothek auf unserem Haus liegen und mit den anderen Schulden würde das Geld gerade reichen, einigermaßen standesgemäß zu leben. Und du hast doch auch einen Nutzen davon, wenn deine Mutter die Haupterbin wird.“
Der junge Mann schnaubte nur und ging ohne ein weiteres Wort. Wir sahen uns lange sprachlos an. Schließlich meinte Herbert: „Ich glaube, Frau Mühler ist ganz schön schlau. Wenn die Kinder wüssten, wer was erbt …“
Ich platzte ihm einfach ins Wort: „Dann wäre hier Mord und Totschlag.“
Vor drei Wochen kam Frau Mühler ins Krankenhaus und dann hing die Todesanzeige am schwarzen Brett. Alle Bewohner waren zur Beerdigung und anschließenden Kaffeetafel hier im Haus eingeladen. Und alle, die konnten, gingen auch zum Friedhof. Nicht nur die wenigen, die die Familienverhältnisse etwas kennengelernt hatten, sondern wohl alle Anwesenden wunderten sich, dass keine Angehörigen an der Beerdigung teilnahmen. Bei der Kaffeetafel saß dann die Hausleitung am Kopfende und die Geschäftsführerin Frau Wolfram begrüßte uns auch. Und sie erzählte ein wenig:
„Frau Mühler wusste schon seit einiger Zeit, dass sie nur noch wenige Jahre zu leben hatte. Und da sie mit ihrer Familie in einem zunehmend angespannten Verhältnis lebte, hatte sie sich von den Kindern getrennt und ist zu uns in ihre eigene Wohnung gezogen.“
Wir schauten verblüfft und Herbert meinte: „Was heißt hier eigene Wohnung. Sie ist doch auch Mieterin gewesen.“
„Genauer gesagt, war Frau Mühler nicht Eigentümerin einer Wohnung, sondern ihr gehörte dieses Haus ebenso wie die Seniorenpension Vergissmeinnicht in den Berner Alpen.“
Da brach geradezu ein Tumult aus. Frau Wolfram setzte sich und wartete ab, bis die erregten Gespräche abflauten. Dann stand sie wieder auf:
„Vor fünf Jahren hat Frau Mühler die beiden Häuser und einen Teil ihres Geldvermögens in die Stiftung Vergissmeinnicht eingebracht. Damit wollte sie sicherstellen, dass dieses Haus bestehen bleibt und von Ihnen weiter genutzt werden kann. Außerdem sind Sie alle berechtigt, in der Schweizer Pension zu Sonderpreisen Ihren Urlaub zu verbringen.“
Wir erhoben dann unsere Kaffeetassen und brachten einen lauten Jodler auf Frau Mühler aus.