Was ist neu

Shorty

Seniors
Beitritt
03.07.2004
Beiträge
1.635

Shorty

Shorty war einer von vielen tausend kleinen rot-weiß gestreiften Korallenfischen, die mit gelben, gelb-blau-schwarz gemusterten und noch vielen farbenfroheren Korallenfischen das große Riff bevölkerten. Die Korallen boten den kleinen Fischen Schutz vor den Bewohnern des offenen Meeres, das sich vor dem Riff bedrohlich dunkel ausbreitete. Schon als Kind hatte Shorty mit den anderen kleinen Fischchen die Gruselgeschichten von Walen, Kraken oder Haien gehört, die sich einen Spaß daraus machten, kleine unvorsichtige Korallenfische als Appetithappen zu verschlucken. Shorty verkroch sich aber nicht wie die anderen Fische seiner Schule in der hintersten Korallenecke, sondern fragte sich schon sehr früh, ob die Lehrer wirklich die ganze Wahrheit erzählten. Er war ein sehr aufgewecktes und hoch intelligentes Fischlein und hatte schon sehr früh erkannt, dass die Erwachsenen gerne abschreckende Geschichten erzählten, zum Beispiel über giftige Garnelen, die sie dann genüsslich selber verspeisten.

Als Shorty in die Flegeljahre kam – vornehme Papageienfische nannten sie Pubertät – interessierte er sich sehr für Geschichten, die in verborgenen schummrig rot beleuchteten anrüchigen Nischen geflüstert wurden. Er war bald Stammgast im mehreren dieser Spelunken, was ihn viel Kies kostete. Er hatte wenig eigene Mittel, fand aber schnell Wege, diesem Notstand abzuhelfen. In seiner Verwandtschaft gab es genügend alte Fische, die ihr Vermögen nicht mehr überblickten und mit vorsichtigen Raubzügen füllte sich Shorty seine Backentaschen, um das so gewonnene schnell wieder in Perlenwein und Austernschnaps für alle durch die Kehlen rinnen zu lassen. Dafür erzählten ihm die alt und grau gewordenen Stammhocker Geschichten von der großen Freiheit. Unaussprechliche Vergnügen warteten auf den, der sich heraus traute aus dem Korallenriff und vor allem Macht und Einfluss. Nicht mehr einer von tausenden zu sein. Nicht mehr unterzugehen in der Farbpracht der Fischschwärme. Davon träumte Shorty. Aber er wollte nicht nur träumen und dann so grau und trostlos zu werden, wie seine Geschichtenlieferanten. Er wollte seinen Traum verwirklichen.

Zunächst verzichtete Shorty auf die Spelunken und schwamm stattdessen in mehrere Fitnessstudios. Er trainierte an allen verfügbaren Kraftgeräten und ließ sich über Kraftnahrung beraten. Er knabberte Kalk von abgestorbenen Korallenzweigen, um seine Gräten zu stärken und verspeiste so viele Garnelen, wie er nur bekommen konnte. Bald war er doppelt so groß wie seine Artgenossen und ein Schwarm von Bewunderern umgab ihn. Junge Männchen, die ihm nacheiferten und Weibchen, die ihm ihren Laich anvertrauen wollten. Aber dieser Erfolg war Shorty noch nicht genug. Nach einigen ausgedehnten Beutezügen hatte er genug Kies zusammen um sich von einem alten erfahrenen Einsiedlerkrebs ein Gebiss anfertigen zu lassen. Bald zierten 20 spitze blendendweiße Zähnchen Shortys Maul und die Zahl seiner Groupies stieg gewaltig an. Aber Shorty lebte weiter im Korallenriff und eckte zunehmend mit anderen Fischen, denen seine Clique zu groß wurde, an. Viele ältere Fische schwammen schnell fort, wenn Shorty mit seiner Gang in Sicht kam und Mütter scheuchten ihre Kinder in sichere Verstecke. Das gefiel Shorty. Endlich hatte er auch Macht und die Leute fürchteten ihn. Und als einer seiner engsten Gefährten meinte, es sei irgendwie langweilig, immer nur durch das gleiche Korallenriff zu schwimmen, entschloss sich Shorty zum großen Aufbruch. Er änderte seinen Namen in Sharky und gab die Devise aus: Wir stürmen das nächste Riff. Dieses Riff war in der Weite des dunklen Ozeans gerade noch zu erkennen. Wenige Haie schwammen träge in den Wasserfluten und schienen vom Riff aus alles andere als gefährlich. Sharky stellte seine Leute auf und gab das Zeichen zum Losschwimmen. Schon bald war das Riff deutlich zu erkennen und Sharky schaute triumphierend hinter sich. Aber leider war er alleine. „Angsthasen, alle Fische zusammen“, dachte er noch, um schließlich zu erfahren, dass Haie sehr schnell sein können, wenn sich jemand in ihr Revier wagt.

 

Vielleicht ist es ja eine Fabel, aber wo würde die hin gehören?

 

Hallo Joachim,

dass die Erwachsenen gerne abschreckende Geschichten erzählten, zum Beispiel über giftige Garnelen, die sie dann genüsslich selber verspeisten.
Das sagen die Aufseher den marokkanischen Frauen, die mit ihren kleinen Händen die Nordseekrabben pulen müssen.

Er war bald Stammgast in mehreren dieser Spelunken, was ihn viel Kies kostete.

Nicht mehr einer von tausenden zu sein. Nicht mehr unterzugehen in der Farbpracht der Fischschwärme.
Besser:kursiv

Tja, Jo, es ist eine Fabel und aussagenmäßig fast ein Gegenentwurf zur "Möwe Jonathan". Während dort die Entwicklung zum Individuum und das Vertrauen in die eigenen Kräfte ermuntert wird, sagst du aus: "Hört auf die Alten, die Welt ist gefährlich." Oder?

Rubrikmäßig bin ich auch unsicher: Manches ist ganz lustig (Kies, Perl(en)wein und Austernschnaps), enthält auch satirische Elemente (Viele ältere Fische schwammen schnell fort, wenn Shorty mit seiner Gang in Sicht kam und Mütter scheuchten ihre Kinder in sichere Verstecke), aber den normalen Humor-Lesern wird was fehlen. Vllt dann doch eher zu Fantasy/Märchen? Mal sehen, was die anderen sagen. :hmm:

Gruß, Elisha

 

Hallo Elisha,

vielen Dank für deine Kritik. Die Welt ist sehr groß und es gibt genug Nischen für jeden. Aber wenn man in die Nische eines anderen eindringt, muss man u.U. erfahren, dass der andere stärker ist. Das ist das Spiel (oder der Kampf) um die Macht. Jonathan wollte denke ich Freiheit und nicht Macht - und das ist ein himmelweiter Unterschied.

 

Hi Jobär,

Ja, wie du es begründest, klingt es plausibel. Ich wollte dir nur spiegeln, wie esauf mich gewirkt hat, nämlich etwas zu moralisierend.

Gruß, Elisha

 

Meine Tochter meinte zu der Geschichte: Du darfst mit dem Zaunpfahl winken, aber du musst die Leute nicht gleich damit erschlagen Ich hab den Schluß dann ziemlich gekürzt, aber der Zaunpfahl ist geblieben.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom