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- 03.07.2004
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Shorty
Shorty war einer von vielen tausend kleinen rot-weiß gestreiften Korallenfischen, die mit gelben, gelb-blau-schwarz gemusterten und noch vielen farbenfroheren Korallenfischen das große Riff bevölkerten. Die Korallen boten den kleinen Fischen Schutz vor den Bewohnern des offenen Meeres, das sich vor dem Riff bedrohlich dunkel ausbreitete. Schon als Kind hatte Shorty mit den anderen kleinen Fischchen die Gruselgeschichten von Walen, Kraken oder Haien gehört, die sich einen Spaß daraus machten, kleine unvorsichtige Korallenfische als Appetithappen zu verschlucken. Shorty verkroch sich aber nicht wie die anderen Fische seiner Schule in der hintersten Korallenecke, sondern fragte sich schon sehr früh, ob die Lehrer wirklich die ganze Wahrheit erzählten. Er war ein sehr aufgewecktes und hoch intelligentes Fischlein und hatte schon sehr früh erkannt, dass die Erwachsenen gerne abschreckende Geschichten erzählten, zum Beispiel über giftige Garnelen, die sie dann genüsslich selber verspeisten.
Als Shorty in die Flegeljahre kam – vornehme Papageienfische nannten sie Pubertät – interessierte er sich sehr für Geschichten, die in verborgenen schummrig rot beleuchteten anrüchigen Nischen geflüstert wurden. Er war bald Stammgast im mehreren dieser Spelunken, was ihn viel Kies kostete. Er hatte wenig eigene Mittel, fand aber schnell Wege, diesem Notstand abzuhelfen. In seiner Verwandtschaft gab es genügend alte Fische, die ihr Vermögen nicht mehr überblickten und mit vorsichtigen Raubzügen füllte sich Shorty seine Backentaschen, um das so gewonnene schnell wieder in Perlenwein und Austernschnaps für alle durch die Kehlen rinnen zu lassen. Dafür erzählten ihm die alt und grau gewordenen Stammhocker Geschichten von der großen Freiheit. Unaussprechliche Vergnügen warteten auf den, der sich heraus traute aus dem Korallenriff und vor allem Macht und Einfluss. Nicht mehr einer von tausenden zu sein. Nicht mehr unterzugehen in der Farbpracht der Fischschwärme. Davon träumte Shorty. Aber er wollte nicht nur träumen und dann so grau und trostlos zu werden, wie seine Geschichtenlieferanten. Er wollte seinen Traum verwirklichen.
Zunächst verzichtete Shorty auf die Spelunken und schwamm stattdessen in mehrere Fitnessstudios. Er trainierte an allen verfügbaren Kraftgeräten und ließ sich über Kraftnahrung beraten. Er knabberte Kalk von abgestorbenen Korallenzweigen, um seine Gräten zu stärken und verspeiste so viele Garnelen, wie er nur bekommen konnte. Bald war er doppelt so groß wie seine Artgenossen und ein Schwarm von Bewunderern umgab ihn. Junge Männchen, die ihm nacheiferten und Weibchen, die ihm ihren Laich anvertrauen wollten. Aber dieser Erfolg war Shorty noch nicht genug. Nach einigen ausgedehnten Beutezügen hatte er genug Kies zusammen um sich von einem alten erfahrenen Einsiedlerkrebs ein Gebiss anfertigen zu lassen. Bald zierten 20 spitze blendendweiße Zähnchen Shortys Maul und die Zahl seiner Groupies stieg gewaltig an. Aber Shorty lebte weiter im Korallenriff und eckte zunehmend mit anderen Fischen, denen seine Clique zu groß wurde, an. Viele ältere Fische schwammen schnell fort, wenn Shorty mit seiner Gang in Sicht kam und Mütter scheuchten ihre Kinder in sichere Verstecke. Das gefiel Shorty. Endlich hatte er auch Macht und die Leute fürchteten ihn. Und als einer seiner engsten Gefährten meinte, es sei irgendwie langweilig, immer nur durch das gleiche Korallenriff zu schwimmen, entschloss sich Shorty zum großen Aufbruch. Er änderte seinen Namen in Sharky und gab die Devise aus: Wir stürmen das nächste Riff. Dieses Riff war in der Weite des dunklen Ozeans gerade noch zu erkennen. Wenige Haie schwammen träge in den Wasserfluten und schienen vom Riff aus alles andere als gefährlich. Sharky stellte seine Leute auf und gab das Zeichen zum Losschwimmen. Schon bald war das Riff deutlich zu erkennen und Sharky schaute triumphierend hinter sich. Aber leider war er alleine. „Angsthasen, alle Fische zusammen“, dachte er noch, um schließlich zu erfahren, dass Haie sehr schnell sein können, wenn sich jemand in ihr Revier wagt.