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Sie kriegen dich immer
"Lies mich."
Ich hasse Kettenbriefe. "Schick mich innerhalb der nächsten 2,763 Minuten an 666 blonde Jungfrauen in Frührente oder die Milch in deinem Kühlschrank wird schlecht."
Wir verstehen uns.
Dieses Mal nicht.
"Lies mich",
eine so feinfühlig formulierte Betreffzeile, im Vergleich zu der „ich bin ein Kettenbrief der dich ein paar Sekunden Lebenszeit kostet“ es kaum direkter hätte treffen können.
Ich bin ein Mensch, in dessen Leben alles seinen geregelten Bahnen nachgeht. Ich höre der Kassiererin im Supermarkt geduldig zu, wenn sie mir von ihrem missratenen Sohn erzählt, während ich mein Gemüse in den Wagen packe.
Schon zweimal Mitarbeiter des Monats.
Für mich ist es selbstverständlich, jeden Monat pünktlich Miete zu zahlen, meine Unterwäsche zu bügeln und die Bücher in Regal chronologisch und nach Themengebieten zu sortieren.
Dementsprechend meine Reaktion: Wollen sie diese Nachricht unwiderruflich löschen? Sicher doch.
Auch dem zweiten Versuch des unbekannten Absenders, mich zu etwas in der Richtung "scroll weiter nach unten…noch weiter…zu weit…" zu verführen, widerstand ich souverän, der Papierkorb erhielt erneuten Zuwachs.
Nicht mehr so einfach abfertigen lies sich jedoch die dritte Nachricht:
"Jetzt lies mich endlich, Franky."
Mit dem Spitznamen angesprochen zu werden, den sonst nur die liebe Mama für einen benutzte… ich kann es nicht leugnen, dieses kurze Unwohlsein in der Magengrube.
Hatte ich erwähnt, dass meine Mutter vor 24 Jahren, ich war damals gerade mal elf, verstorben ist?
Ziel erreicht, neugierig geworden öffnete ich die Nachricht: Im Zeitlupentempo senkte sich mein Zeigefinger auf die Maus, denn wer weiß, ein Klick, und schon ist man Abonnent eines intellektuell anspruchsvollen Hochglanzheftchens mit Damen in Schuluniform.
Der Inhalt der Email bestätigte diesen Verdacht nicht, allerdings auch keine der anderen Befürchtungen, die ich mir vor meinem geistigen Auge schon ausgemalt hatte.
"Ich beobachte dich."
Ein Zimmer im 8. Stock mit Fenster ins Nichts schützt relativ sicher vor Beobachtung jeder Art. Und da es ganz rational betrachtet Franks und Frankys in Massen gibt… ärgerlich wurde mir klar, dass es mich nun doch ein paar Sekunden Lebenszeit gekostet hatte. Ich konnte ihn mir bildlich vorstellen, den Absender dieser Nachricht, idiotisch kichernd vor seinem Computer und eifrig am Errechnen, wie viel Prozent der Empfänger, die tatsächlich Frank hießen, jetzt zitternd unter dem Schreibtisch saßen und die Wände beobachteten.
Nicht mit mir, ein erneutes Zucken meines Zeigefingers beförderte die Nachricht ins elektronische Nirvana.
Zumindest hätte es das tun sollen. Doch die Botschaft verschwand nur für den Bruchteil einer Sekunde vom Bildschirm, um mich dann wieder herausfordernd anzustrahlen. Hartnäckig löschte ich weiter, aber wie ein nicht enden wollender Schluckauf ließ sich die Email nicht unter Kontrolle bringen.
So reagierte ich am Ende, wie wohl jeder vernünftige Mensch in meiner Situation reagiert hätte: ich zog den Stecker. Herrlich, diese Schwärze.
Ignoriert man Dinge, die man nicht versteht, ignorieren sie einen auch.
Dieser erste Kontakt ist nun schon mehr als einen Monat her. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich führe nach wie vor mein geregeltes Leben, zumindest versuche ich es. Ich habe das Kabel an meinem Computer abgeschnitten um ganz sicher zu gehen.
Jeden Tag erwartet mich mindestens eine neue Nachricht, morgens direkt nach dem Aufstehen, nach der Arbeit, beim meinem nächtlichen 2.30 Uhr Toilettengang. Und wie bei einem Autounfall kann ich es einfach nicht vermeiden hinzuschauen, so sehr es mir auch jedes Mal mehr eine Gänsehaut über den Rücken jagt.
"Gut geschlafen?"
"Schöne gelbe Socken hast du da an."
"Bald..."
"Nervös?"
Mittlerweile passiert es an manchen Tagen fast, dass ich den Prozentsatz der „zitternd unter dem Tisch Sitzenden“ anhebe. Aber nur fast.
Auf der Suche nach versteckten Kameras habe ich meine
2-Zimmer/Küche/Bad regelrecht auseinander genommen. Die Unordnung stört mich kaum noch. Das Stromkabel an meinem Computer habe ich jedoch ersetzt und wieder eingesteckt. Ich hatte gehofft, dass die eintreffenden Nachrichten dann nicht ganz so erschreckend wirken würden. Hat nicht funktioniert.
Ich habe mir angewöhnt, ein Küchenmesser bei mir zu tragen. Möchte mein unbekannter Freund sich nicht mehr nur auf elektronischen Kontakt beschränken, bin ich vorbereitet. Es gibt wieder eine Sicherheit in meinem Leben.
Es ist dieses Gefühl, ständig beobachtet zu werden.
Was als Ziehen in der Magengegend anfing, entwickelt sich ziemlich schnell zu einem Magengeschwür. Immer öfter denke ich nicht mehr darüber nach, wer hinter dem Ganzen stecken könnte, sondern wie es sich einfach nur beenden lässt.
Heute Morgen wurde ich von meinem Chef in sein Büro zitiert. Meine schlechte Laune seiein Problem, die zerknitterten Anzüge, meine ständige Müdigkeit und das zu Spät kommen ebenfalls. Zum ersten Mal in meinem Leben erhalte ich eine Verwarnung.
Auf dem Heimweg statte ich den Supermarkt noch einen Besuch ab, häufe Tiefkühlpizza auf das Transportband an der Kasse.
Der Blick der Kassiererin stört mich.
Wenn sie von den 15cm Stahl in meiner Tasche wüsste, hätte sie wenigstens einen Grund, mich so zu mustern. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, ihr dümmliches Grinsen bis hinter die Ohren zu verbreitern.
So schnell kann es gehen.
"Übrigens, die Milch in deinem Kühlschrank ist schlecht."
Anklagend erwarten mich diese Worte bereits, als ich meine Wohnung betrete. Ich gehe in die Küche, lasse meine Einkauftüten in der Tür stehen, fische die Milchpackung aus dem Kühlschrank und werfe sie in einer flüssigen Bewegung gegen die Wand. Zähe Klumpen spritzen nach allen Seiten.
Gleichgültig mache ich mich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer. Eine weitere Nachricht.
"Und sie hat dir zu wenig Wechselgeld gegeben."
Mir kommen die Tränen.
Mit einem Mal spüre ich den Messergriff in meiner Hand, streiche fast zärtlich über die Klinge. Ein einzelner Blutstropfen rinnt an meinem Zeigefinger entlang. Es tut überhaupt nicht weh. Mittlerweile würde ich eine Menge tun, um wieder Ruhe zu haben.
Mein Blick wandert wieder zum Bildschirm.
Die Nachricht ist die bisher längste.
" :-) "
Darunter eine Liste mit vier Emailadressen.
Ich lächle.
Wie von selbst wandern meine Finger über die Tastatur, vier neue Nachrichten, viermal nur betreffende zwei Worte.
Ach ja: Sie sollten mal nach Ihrer Milch sehen…