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Sieben Atemzüge zur Befreiung der Antonia N.
Fünf, sechs, sieben Mal einatmen und beim Ausatmen die jeweilige Zahl nennen. Zum ruhig werden, zum Sich-Finden, zum Festhalten und Aufsteigen in göttliche Höhen.
Zum Warten auf den Flash. Auf den Flash und … Antonia.
Antonia wurde geboren, ein halbes Jahr vor mir und mindestens dreihundert Kilometer entfernt. Zehn Finger, zehn Zehen, tiefrosa Haut. Ihre Mutter war so alt wie ich als ich Führerschein machte. Frau N., mère de ma cherié, die immer Frau N. blieb und nie zur vornamentlichen Sonja wurde. Ihr Vater war grau, als er ging und von dem Moment an hieß ihr Teddy „Thomas“, aber in den Arm nahm sie keiner mehr über Atem und Atem und Züge hinweg.
Tonia sitzt. Neben mir. Irgendwo. Ich warte. Sie auch. Mensch, Tonia.
Im Traum begegnete Antonia zum ersten Mal der Prophet, doch der sprach nur wenn nicht gefragt. Als man zu den Großen noch aufblickte, musste sie feststellen, dass ihre Schultüte zum größten Teil mit Pappe gefüllt war. Meine Eltern zogen mich und die Tiere in ein größeres Haus, wo ich Tonia näher war, doch schon damals hat mich alles entsetzlich gelangweilt.
Irgendwann verließen wir Schönschrift und Klettergerüst und fingen an uns zu Dreiteilen. Alle und Tonia und Noten und ich. In diesem Moment wurden im Himmel zwei Leben vertauscht. Ich ging in die Oberstadt und Tonia zum Bergweg. Wer die Karten vertauschte, die horoskopisch belangvollen Sterne ausradierte, sich bei unseren Handlinien verzeichnete ist nicht bekannt. Doch nachts wirft Tonia dem Propheten vor, es nicht verhindert zu haben.
Es wirkt! Es wirkt nicht, ich spüre mich noch, ich weiß noch um mich. Jemand vertröstet mich auf die Zeit nach dem Entspannen. Ich entspanne.
Der Bergweg war keine Schule für Seelenmaler, auch keine für Elfenkinder oder Sonnenstrahlen. Kein Ort für Tonia. Ganze Heere von Fußabdrücken stempelten ihr Herz.
Dein Schlagring, mein Pinsel,
dein Hass und mein Geist.
Mein Blut, mein Gerinnsel,
was uns hält, zerreißt.
Ich kenne dein’ Hass nicht,
Dein Zorn ist mir fremd,
Lass mich in Ruhe, verlass mich,
Alles das hemmt.
In dieser Zeit ließ Tonias Kopf ihre Seele entrücken. Seitdem war sie, selbst beim Küssen nur halb da.
Während dieser Zeit erlebte ich viel und reifte kaum. Auf Feten war ich manchmal einsamer als Tonia auf ihren längsten Spaziergängen. Hätte ich dich damals schon gekannt, wir hätten uns gegenseitig gerettet.
Sieben Atemzüge zur Befreiung der Antonia N., schöne, traurige, mystische, tiefe, doch nie, nie, nie flache. Langeweile ist mein Garten, nicht ihrer. Ein Garten, zu dem ihr eigener Schutzengel ihr mit glutkaltem Schwert den Zutritt verweigert.
Antonia fuhr nach Kassel. Ich stieg von einem leeren Bahnhof in das volle Abteil und setzte mich auf den einzig leeren Platz. Sie las gerade „Stein und Flöte“ und hatte die Kapuze auf, denn sie trug eine Glatze und Haar wächst nicht so schnell wie Liebe. Ich hörte ihren Atem neben mir aus dem Gemurmel um mich herum heraus. Fein, so fein wie ihre Haare am Nacken, übersehen beim Rasieren.
Bald, mein Engel (mit gebrochenen Flügeln) bald.
Tonia spielte Geige. Macht sie jetzt nicht mehr, es ist ein Vergeuden der eigenen Möglichkeiten, der erste Punkt unserer seltenen Berührungen. Sie spielte echt gut. Ich bat sie manchmal, nochmal aufzustehen und zu spielen. Sie zierte sich, doch in meinen Armen zu liegen gab ihr Selbstvertrauen, wenn sie ihre Mauern erstmal überwunden hatte. Sie spielen zu lassen, immer und immer wieder, sie zu bitten, war ein verzweifeltes Greifen nach diesem ersten Mal, wo sie es von allein tat. Wo sie nachher aufstand, so wie sie war, die Geige herausholte, sich nach den Noten bückte (nur um mir zu gefallen, sie konnte sie im Mondlicht eh nicht lesen) und spielte. Mich dabei ansah und - lächelte.
Was tue ich hier? Du wartest. Warte? Worauf? „Du wartest“, sagt irgendjemand, „auf den Flash.“ Ach so.
Tonia ist der erste Mensch, dessen Fuss nach dem Sündenfall Edens Boden berührt. Tonia ist stark, auch wenn sie es nicht will. Tonia gerät immer an die Falschen.
Ich konnte Tonia nicht helfen, nicht so wie ich es wollte. Tonia ging. Nach mir kam Ralf. Ralf könnte jede haben und Ralf hatte jede. Trotzdem konnte er sie nicht zu sich holen. Nach Ralf und nach nach mir kam Peter. Und erst Peter, der nie zuvor ein Mädchen geküsst, hat sie wärmen, hat sie bergen, hat sie heilen können. Peter, der gar nicht so anders ist als ich oder Ralf.
Doch noch spielt das alles keine Rolle, denn jetzt sitzen wir beisammen und alles ist gut, während wir warten. Was kommen mag, wir kommen so oder so. Doch nicht jetzt. Der Schöpfer schafft die Welt in einem allgegenwärtigen Augenblick. Jetzt.
Der letzte Atemzug fährt an mir vorbei und ich kann ihn nicht stoppen. Hades’ Helfer liegen noch auf ihrem Tisch. Nicht ganz steril, nicht ganz durchgedrückt, noch nicht einmal ganz gefüllt, aber dieses Mal einmal zu viel. Und ganz vorbei.
Mein Engel (jetzt gegangen). Peter hätte dich finden sollen, nicht ich. Ich bin die letzte Person, die dich hätte so sehen sollen. Wenn ich die Scheiben anhauche, um den leeren Bahnstieg nicht sehen zu müssen, dann beschlägt das Glas mit deinem Namen. Antonia N.
Ich hab dich nicht mit in die Erde gelegt, ich stand nicht nachts an deinem Grab, ich hab dich nicht in mein Herz gebrannt. Nicht ich. Wenn der Prophet sagt, du sollst mit ihm gehen und ich soll hier bleiben, bis er wieder kommt, was geht mich das an? Ich hab’s doch, ich geh immer noch auf Partys und kriege zum Geburtstag ein Auto und werde Jura studieren und abbrechen und das Haus erben. Ich will dich nicht, ich hätte dich nie küssen sollen, dann würde es auch nicht so wehtun, so brennen, so lodern tief in mir drin, wenn ich nachts aufwache UND DU BIST NICHT DA !!!!