Sieben
"Aber Großmutter! Warum hast Du nur diese Erfahrungen gemacht?!
Der Wolf anwortete:
"Damit ich Dich besser verstehen kann."
Und fraß Rotkäppchen auf.
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Warum hatte er nur vergessen, das Handy auszuschalten. Es lag auf dem Tisch, klingelte und leuchtete. Leise brummte der Vibrationsalarm. Er wusste, welche Nummer dort stehen würde. Vor ein paar Tagen wäre im Display noch ihr Name erschienen, aber im Speicher seines Handys war sie bereits gelöscht. Er wusste nicht, wie lange es schon geklingelt hatte. Bald würde es verstummen. Dann würde es eine Weile dauern und das doppelte Piepsen würde eine neue Nachricht in seiner Mailbox ankündigen.
Halb drei.
Jan drehte sich auf die andere Seite. Es piepste zwei Mal. Er seufzte.
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Immer wieder dieser Traum. Er steht vor einem großen Glaszylinder mit einer drehbaren Etagère im Innern. Ordentlich aufgebaut verschiedene Tortenstücke. Eines schöner und appetitlicher als das andere. Hier eine kunstvoll geschichtete Schwarzwälder Kirschtorte, dort ein verlockendes Kunstwerk aus Baumkuchenspänen und Buttercreme mit Orangenlikör, darüber eine schwere und aromatische Sachertorte. Andere waren im unbekannt, wirkten aber nicht minder verlockend. Es war ein Warenautomat. Unter dem Münzeinwurf stand "Automat wechselt nicht." Wann immer er Geld eingeworfen hatte, begannen die Etagen mit den Tortenstücken, sich zu drehen. Der Automat spielte eine Melodie wie eine Spieluhr, oder, vielleicht eher wie ein altmodisches Kinderkarussell. Nach einer Weile, die in seiner Ungeduld ewig erschien, blieben die Scheiben stehen und ein Fach, das vorher nicht da gewesen war, öffnete sich. Aber statt eines Tortenstücks lagen in dem Fach fauliges Obst, ein von Maden durchsetztes und in allen Farben schillerndes Stück Fleisch, eine Laache mit feinen Blutschlieren durchzogenen Auswurfs oder stinkende Exkremente. Immer wieder ging er weg und musste, wie von unüberwindlichem Befehl getrieben, zu dem Automat zurückkehren. Immer wieder warf er das sorgsam abgezählte Geld ein - es war immer gerade genug in seiner Tasche für das ausgewählte Stück. Und immer wieder präsentierte das Fach, wenn die Musik verstummt war, eine neue Scheußlichkeit.
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Jan schreckte auf. Die Decke war wie eine Fessel um seine Beine geschlungen, sein T-Shirt verschwitzt. Er konnte seinen schnellen Atem spüren.
"Ich brauche Wasser," dachte er.
Als er sich auf die Bettkante setzte, fühlte er sich erschlagen. Die Müdigkeit prickelte in seinem Gesicht. Sein Mund fühlte sich an, wie mit Wildleder ausgekleidet. In der Küche drehte er den Wasserhahn auf und wartete, bis das Wasser kalt war, trank zwei Gläser nacheinander. Er dachte an das Handy, das auf dem Tisch schlief.
Was sie ihm wohl hinterlassen hatte?
Sicher sie würde geweint haben. Sie hatte immer geweint, wenn sie ihn nachts angerufen hatte. Das hatten sie alle gemacht.
Gut. Dieser Teil war nie schön. Aber die anderen hatten sich noch ein oder zwei Mal gemeldet. Früher war er noch manchmal drangegangen. Vor allem, wenn er vergessen hatte, sie zu löschen. Aber das war lange her.
Mit der Zeit wusste er, was sie sagen würden.
"Du bist doch das Beste, was mir je passiert ist."
Oder "Aber ich will Dich doch nur verstehen."
Oder "Hat Dir das denn alles nichts bedeutet?"
Und "Ich will Dich aber nicht verlieren."
"Das Beste! Ihr habt nie etwas verstanden," dachte Jan. "Ihr habt mir soviel bedeutet, wie das Lamm dem Monster bedeutet, das sich in der Erde vergraben hat und, wenn das ahnungslose Tier in die Nähe seines Verstecks kommt, aufspringt, es in zwei Teile reißt und frisst."
Jan wechselte das T-Shirt und legte sich wieder ins Bett.
"Ihr konntet mich nie verlieren, weil ihr mich nie hattet."
Er knüllte das Kopfkissen zu einer harten Kugel und suchte eine Position, in der er wieder einschlafen könnte. Umsonst. Er stand auf, nahm das Handy und betrachtete das Display.
1 Nachricht erhalten.
Bei Julia hörte es nicht auf.
Julia. Warum konnte sie nicht aufhören, anzurufen. Sie hätte ihn nicht lieben dürfen. Das durfte sie nicht. Warum konnte sie nicht merken, dass er nur ein in der Erde vergrabenes Monster ist. Dessen Instinkt ihm mit traumwandlerischer Sicherheit sagen würde, wann ein Lamm in seine Reichweite kommen würde und wie es zuschlagen müsste.
"Ich kann Dich nicht lieben, Julia. Wenn ich überhaupt lieben könnte, dann vielleicht Dich. Aber ich kann es nicht. Ich bin ein Monster. Hör auf, mir zu trauen, hör auf, mich zu lieben. Ich bin schlecht für Dich. Hör auf, mich zu lieben."
Als sie sich das erste Mal umarmt hatten, hatte sie sich wie ein zu groß gewordenes, kleines Kind an ihn gepresst. Ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und nicht aufgehört, ihn festzuhalten. Das war mitten auf einer Kreuzung. Die Ampel war längst wieder rot. Autos begannen, zu hupen, Fahrer zu fluchen, aber sie ließ ihn nicht los.
"Komm," hatte er sie von der Straße gezogen und gelacht. "Du wirst uns noch umbringen!"
Er schaltete das Handy aus, schaltete es wieder an und hielt die Taste mit der 1 gedrückt, bis seine Mailbox sich meldete.
"Sie haben eine neue Sprachnachricht. Erste neue Sprachnachricht."
Julias Stimme.
"Jan, ich bin es. Ich weiß, Du wirst nicht drangehen."
Julia schniefte.
"Weißt Du, es ist so eine verrückte Verschwendung, dass es aus sein soll. Es ist so ... besonders. Es ist ..."
Jan ließ das Handy sinken und nahm es wieder ans Ohr. Julias Stimme war wie erstickt.
"... der Erste, der mich verstanden hat. Du hast in mir etwas berührt, das es vorher gar nicht gab. Naja, wo ich jedenfalls nicht wusste, dass es das in mir gibt. Ach, ich weiß auch nicht. Ich weiß ja gar nicht, ob Du das hier hörst. Wovor hast Du nur solche Angst. Warum tust Du mir weh? Und Dir?"
Die andere Stimme sagte "Zum Löschen dieser Nachricht 7 drücken" und Jan legte auf.
Warum hatte sie ihm nur vertraut. Nur weil er wusste, welche Worte und welche Gesten sie berühren würden. Sie hatten immer berührt.
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Am Morgen wieder das Wildledergefühl. Er schaltete das Handy an und ging ins Bad. Gedämpft hörte er das Piepsen. Er machte sich einen Kaffee.
1 Nachricht erhalten.
Jan drückte die Taste und nahm einen Schluck.
"Sie haben zwei neue Sprachnachrichten. Erste neue Sprachnachricht"
Die erste Nachricht begann.
"Jan, ich bin es ..."
Er drückte die 7.
"Zum Löschen der Nachricht drücken Sie bitte die 7"
Er drückte sie noch einmal.
"Zweite neue Sprachnachricht."
Julias Stimme war leise und schläfrig.
"Jan, ich habe Tabletten genommen. Es waren ein Haufen Tabletten. Genug. Weißt Du, mit Google kannst Du genau rausfinden, wie viel Du brauchst. Ich werde daran sterben."
Jan erstarrte. Er fühlte sich, als würde ein riesiger Gummiring um seine Brust gelegt.
"Sei mir nicht böse, ja? Und bitte vergiss mich."
Julia lallte ein bisschen.
"Ich liebe Dich."