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Siebenminütige Latenz
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(system of a down - vicinity of obscenity)
"Du musst einfach nur die evidenten Immanationen deiner kognitiven Sensualdominanz ignorieren und in den metaphorischen Strudel des real Erlebbaren eintauchen."
"Wie bitte?"
"Du musst einfach nur die evidenten Immanationen deiner kognitiven Sensualdominanz ignorieren und in den metaphorischen Strudel des real Erlebbaren eintauchen."
"Ach so. Alles klar."
Ich ignorierte also die evidenten Immanationen meiner kognitiven Sensualdominanz und tauchte ein in den metaphorischen Strudel des real Erlebbaren.
Und es funktionierte tatsächlich.
...
Zwei Stunden zuvor war ich immer noch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, beschloss allerdings, zumindest heute die Welt mal Welt sein zu lassen und stattdessen meine Studien im Bereich der Chemie fortzuführen. Genauer gesagt widmete ich mich der Verschmelzung von gesättigtem Kohlenwasserstoff und verschiedenen Hydroxylgruppen und studierte das Ergebnis im Selbstversuch unter Berücksichtigung dessen Auswirkungen auf die synaptische Struktur des Neokortex.
"Bier?"
"Bier."
"Geht klar. Und, wie is? Hast du den Sinn des Lebens inzwischen gefunden?"
"Bin noch dabei", sagte ich und lehnte mich an die Theke. "Gestern war ich so kurz davor und dann... Peng! Vorzeichenfehler."
"Scheiße, Mann."
"Du sagst es. Scheiße, Mann." Kalles Keller besaß zwar das einladende Ambiente eines Atommüllendlagers, in das irgendjemand vor langer Zeit eine Horde inkontinenter Waschbären einquartiert hatte, aber ich kam gern hierher. Kalle war einfach der beste Seelentröster auf dieser verschissenen Welt. Außerdem stand hier immer eine Schüssel frischer Erdnüsse auf dem Tresen. Die guten Ültje.
"Was war mit deiner Theorie über die Dings... Unerfindlichkeit?"
"Du meinst die Sache, dass Gott und Teufel in Wahrheit dieselbe Person sind und ihr unwürdiges Dasein in Gestalt eines blinden Tankstellenpächters in der Nähe von Wattenscheid fristen?" Auf diese Theorie war ich besonders stolz gewesen, zumal sie diese ganze Sache mit dem Armageddon und dem Jüngsten Gericht auf einen simplen Nenner gebracht hätte, wenn sie sich denn letztlich nicht als vollkommener Unfug erwiesen hätte. "Nee, das war nichts."
"Egal. Irgendwann packst du's. Ich glaub dran, Mann."
"Danke."
"Wie wär's denn mal mit einem vollkommen neuen Ansatz? Also, wenn du mal nicht davon ausgehst, dass das Leben einen Sinn hat, sondern..."
"Ist nett, aber lass mal gut sein. Ich hab heute Pause. Was macht mein Bier?"
"Läuft." Kalle warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Fünf Minuten noch."
"Wer hat sich den Mist eigentlich ausgedacht? Von wegen 'ein gutes Bier braucht sieben Minuten'?"
"War bestimmt irgendsoein verkackter Schotte. Sowas kann sich nur ein Schotte ausgedacht haben."
"Ein verkackter?"
"Du sagst es."
Ich beschloss, die Unterhaltung an dieser Stelle zu beenden und mich stattdessen darauf zu freuen, gleich ein wenig in meinem Bier rumzudümpeln. Nebenbei pulte ich geistesabwesend ein paar Erdnüsse und ordnete die Schale auf dem blankpolierten Tresen zu willkürlichen Formen an. Ich bin sicher, wäre in diesem Augenblick ein einbeiniger Zwerg durch mein Kunstwerk gestapft, dann hätten die Erdnussschalfragmente um seine Fußspuren herum das Antlitz Gottes geformt. Es war einer dieser magischen Momente, in denen man sich sicher ist, das mit der richtigen Prise Fantasie beinahe alles geschehen kann. Es war genau der Moment, den Kalle sich aufmachte, um die Kotzflecken von der Toilettentür zu kratzen.
"Das Antlitz Gottes." Obwohl ich die Stimme noch nie in meinem Leben gehört hatte, kam sie mir dennoch irgendwie bekannt vor.
"Nein, noch nicht", antwortete ich geistesabwesend, ohne über die Schulter zu blicken.
"Stimmt. Da fehlt noch der einbeinige Zwerg." Das irritierte mich nun doch. Also drehte ich mich herum und blickte in das aufgedunsene Gesicht meines Gegenübers. Wäre mein Blick an seinem Körper nach unten gewandert, hätte ich das speckige T-Shirt mit dem Megadeth-Aufdruck bemerkt, ebenso wie die ausgewaschene Jeans, die ein Paradoxon in sich selbst zu bilden schien, da sie vermutlich noch niemals mit Wasser in Berührung gekommen war. Ich sah aber nicht an seinem Körper hinab und so entgingen mir auch seine Schuhe, die wirklich jeder Beschreibung gespottet hätten. Stattdessen blickte ich starr auf seine Sonnebrille. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig, auf jeden Fall war er älter als ich.
"Wie kommen Sie darauf?"
"Auf den Zwerg? Ach komm, das ist doch offensichtlich", sagte er, langte an mir vorbei und fischte sich eine Erdnuss aus der Schüssel. "Sind das die Guten von Ültje?"
"Das ist doch offensichtlich." Er lachte. Ich nicht.
"Kann ich dir ein Bier ausgeben?", fragte er, vermutlich um das Eis zu brechen. Vielleicht war er auch Geldwäscher für die Mafia und versuchte so, unauffällig ein paar Fünfziger unter die Leute zu bringen.
"Danke, ich hab noch... also, in ein paar Sekunden werde ich haben."
"Dann sind deine sieben Minuten also schon um und der Wirt kann servieren?"
"Nein. Kalle ist gerade anderweitig beschäftigt." Einen Moment lang überlegte ich, ob Kalle die Tür nicht lieber in ihrem gegenwärtigen Zustand lassen und als Kunstobjekt verkaufen sollte. Er hätte nur behaupten müssen, es handele sich um das Werk eines chilenischen Experimentalkünstlers, der sich Labskaus in den Mund steckt und es dann durch einen Strohhalm aus der Nase an seine Klotür schießt. Kunst ist alles, was man nicht versteht.
"Wusstest du, dass das mit den sieben Minuten nur eine Legende ist?", fuhr mein Gegenüber fort. "In Wirklichkeit braucht ein gutes Bier nur etwa eine halbe. Der Rest ist reine Latenzzeit. Sie dient dem Ausgleich von Wahrnehmung und Realität."
"Das war mir neu."
"Stimmt aber. Eine geniale Idee, um die temporalen Schwingungen in den Griff zu kriegen. Hätte ich dem alten Schotten gar nicht zugetraut, wenn du mich fragst."
"Mach ich aber nicht."
"Gut. Die Zeit ist auch so schon knapp genug. Komm, wir müssen gehen."
"Vorhin wollten Sie mir noch ein Bier ausge..."
"Vorhin wusste ich auch noch nicht, dass deine Latenz bereits so gut wie abgelaufen ist."
"Ich auch nicht", sagte ich, um ihn zu beruhigen. Was ich im Moment überhaupt nicht gebrauchen konnte, war ein Irrer, der austickt, nur weil er merkt, dass er meine Latenzen falsch berechnet hatte. Scheinbar war mein Versuch aber ohne die erhoffte Wirkung geblieben.
"Wir müssen uns beeilen. Ich werde gleich aufwachen und dann ist es zu spät."
Obwohl mir seine Argumentationsweise bis zu diesem Moment durch einen eklatanten Mangel an Überzeugungskraft aufgefallen war, legte ich einen Zehner auf den Tresen und verließ mit meinem Gesprächspartner die Kneipe. Zum einen war ich müde und wollte nach Hause und zum anderen glich mein neuer Bekannter seine Kommunikationsdefizite erstaunlich effizient mit einer Knarre aus, die er in diesem Moment auf meine Eier richtete.
...
"Ich bin nicht gekommen, um dich zu warnen", begann er, als wir wenig später auf einer Parkbank saßen. "Ich möchte nur sagen, dass du dich beeilen solltest."
"Womit?"
"Mit allem. Weißt du, ich könnte jederzeit aufwachen und dann ist es vorbei."
"Mit allem?"
"Mit absolut allem."
Ich warf einen kritischen Blick auf die Pistole in seiner Hand. Der Kerl machte sich noch nicht einmal die Mühe, sie zu verstecken, sondern hielt sie für jedermann deutlich sichtbar auf meine Brust gerichtet. Unter diesen Umständen kamen mir seine Worte schon ein wenig wie eine Drohung vor, muss ich sagen. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich meinem Begleiter über die Schulter sah und eine Gruppe Nonnen beim Tauziehen beobachtete.
"Eigentlich ist das, was du Leben nennst, nicht viel mehr, als nur eine Illusion. Wir alle sind gefangen in ihr und vegetieren in einem Traumschema höherer Ordnung vor uns hin."
"Kommt jetzt gleich die Nummer mit den farbigen Pillen? Dann nehm ich aber die Blaue. Ich bin nicht so gut im Kung Fu."
"Deine Existenz ist nichts weiter, als ein Traum. Mein Traum. Sobald ich aufwache, verschwindest du." Verschwinden schien mir angesichts meiner derzeitigen Lage eine überlegenswerte Option zu sein.
"Sie wollen mich doch nicht wirklich hier vor allen Leuten abknallen, oder? Das da hinten sind Nonnen, die würden das nicht verkraften."
"Das brauche ich nicht. Ich muss lediglich auf..."
"Ja, schon klar."
"Du glaubst mir nicht? Na gut." Er drückte mir die Waffe in die Hand, führte diese in Richtung seiner Schläfe und grinste. "Drück ab und du wirst es merken."
"Also, jetzt mal langsam... was geht hier eigentlich ab?"
Und dann erklärte er es mir.
Letztlich lief die ganze Sache darauf hinaus, dass jeder Mensch auf der Welt der Traum eines anderen wäre. Jeder hätte einen Menschen geschaffen und somit wäre jeder gleichzeitig Gott für jemanden und Schöpfung eines anderen. Erwacht dein Gott und beendet den Traum, stirbst du. Es sei denn, du hast genügend Zeitreserven aufgebaut, um vor deinem Ende deinen eigenen Traum zu beenden und selbst aufzuwachen. Sieben Minuten pro Bier in etwa. Für mich klang das nach der bescheuerten Theorie eines durchgeknallten Schotten, für mein Gegenüber war es ein Glaubensgrundsatz.
"Ich habe die letzten vier Jahre meines Lebens damit verbracht, dich zu finden", sagte er und warf in mir einen Moment lang die Frage auf, was zum Geier er wohl angestellt hatte, um vier Jahre Latenzzeit aufzusparen. "Du bist meine Schöpfung."
"Ey, ich war zwar bei meiner Schöpfung nicht anwesend - zumindest nicht in einem Stück - aber ich bin mir sehr sicher, dass Sie da nicht dran beteiligt waren."
"Das war alles Teil meines Traums. Alles, was du bist, bist du durch mich. Und irgendjemand dort draußen ist dein Traum."
"Naja... es ist mir ein wenig peinlich, aber manchmal träume ich von einer Insel voller nackter Nymphomaninnen... heißt das jetzt etwa, irgendwo dort draußen..."
"Das ist nicht der Zeitpunkt für Scherze."
"Ich sitze auf einer Parkbank und richte eine Knarre auf jemanden, der mich töten will, indem er sich selbst in den Arm zwickt. Wann, wenn nicht jetzt, sollte ich dann Scherze machen?"
"Ich wollte fair sein und dich einweihen, bevor es soweit ist. Meine Latenzzeit ist bald um und darum werde ich gleich aufwachen. Und du solltest mir besser folgen."
"Augenblick... nehmen wir mal an, der Unsinn stimmt. Also, nur mal angenommen, dann müsste doch irgendjemand sterben, wenn ich... richtig?"
"Das ist der Preis."
"Vielleicht ist es ja doch der Typ von der Nymphomaninneninsel. Dann hätte er es verdient... Ja, warum eigentlich nicht. Okay, ich spiel mit. Sag mir, was ich machen muss."