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Siebenundzwanzig Jahre, zwei Sekunden Schicksal
Lena Berger stand an der Haltestelle und blickte auf ihre Uhr: 7.10 Uhr. Wo blieb der Schulbus? Seit fünf Jahren fuhr sie nun bereits mit diesem Bus und er war immer pünktlich um sieben da gewesen. Ob Herr Schneider vielleicht krank war oder verschlafen hatte? Hoffentlich war ihm nichts passiert. Nein ihm durfte nichts passiert sein, denn sie hatte ihn gerne. Er war immer gut gelaunt, erzählte manchmal Geschichten oder legte eine Kassette mit Musik ein, um dann die Melodie - wenn auch meist schief – mitzusummen. Am Nikolaustag hatte er auf jeden Sitz eine kleine Tüte mit Nüssen und Süßigkeiten gelegt, er selbst hatte eine rote Mütze aufgehabt. Irgendwie sah er ja wirklich ein bisschen wie ein Weihnachtsmann aus, mit seinen blonden Haaren, die an den
Schläfen langsam ergrauten, dem Vollbart und dem Bierbauch. Natürlich glaubte Lena nicht mehr an den Weihnachtsmann, dafür war sie mit dreizehn viel zu alt, aber wenn, dann hätte sie sich einen Weihnachtsmann gewünscht, der genau wie Herr Schneider war.
Alfons Schneider schoss vom Bett hoch und schnappte seine Sachen, während er ins Bad rannte. Er hatte verschlafen. Nie und nimmer würde er es schaffen bis 6.45 Uhr im Busdepot zu sein und dies wiederum bedeutete, dass er die Schulkinder nicht pünktlich an der Haltestelle abholen konnte. Seit siebenundzwanzig Jahren war er Bussfahrer und er war noch kein einziges Mal, auch nur eine Sekunde, zu spät gekommen.
Lena stand an der Bushaltestelle zwischen ihren Freundinnen. Sie fror erbärmlich und wünschte sich, sie hätte auf ihre Mutter gehört, Handschuhe und Mütze angezogen. Es war 7.25 Uhr und noch immer kein Schulbus in Sicht. Moment, waren das Sirenen, die sie in der Ferne hörte? Nein, Unsinn zwei ihrer Freundinnen hörten Musik und das relativ laut, wahrscheinlich war es das.
6.55 Uhr, er würde definitiv zu spät an der Haltestelle sein und das, wo es heute so kalt war. Hoffentlich waren die Kinder warm genug angezogen, nicht dass sie sich wegen ihm noch erkälteten.
Vielleicht konnte er etwas Zeit einsparen, wenn er heute den Weg über die Louisenbrücke nahm.
Alfons Schneider drehte den Zündschlüssel, drückte den Anlasserknopf und der Bus erwachte zum Leben. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, seine Hände zitterten, er brauchte etwas, um seine Nerven zu beruhigen, legte eine Musikkassette mit Klassik ein und fuhr los.
Zehn Minuten später bog er auf die Louisenbrücke ab und beglückwünschte sich für seine Entscheidung, denn obwohl heute Montag war, herrschte hier kaum Verkehr. Er beschleunigte den Bus auf die erlaubten sechzig und entspannte sich langsam.
Nebel wälzt sich über die Straßen, trägt Feuchtigkeit mit sich, die als feiner Nieselregen zu Boden fällt. Wassertropfen gefrieren in sekundenschnelle zu Eis und verwandeln die Straße in eine Rutschbahn.
Im Radio warnt der Deutsche Wetterdienst vor Eisregen und Glätte, doch Alfons Schneider kann es nicht hören, aus seinen Lautsprechern klingt Mozart.
Mit sechzig Km/h steuert Alfons Schneider den Bus über die Brücke. In einer sanften Rechtskurve bremst er leicht ab. Die Räder blockieren, dass Lenkrad gleitet ohne Widerstand durch seine Hände. Glatteis schießt es ihm durch den Kopf, bevor Routine und Erfahrung von siebenundzwanzig Jahren als Busfahrer, seine Handlung lenken: Gas wegnehmen, Intervallbremsen, gegenlenken, ruhig bleiben. Das Bremspedal zittert unter seinem Fuss, trotz ABS und ESP blockieren die Räder, das Lenkrad gehorcht ihm nicht, er gibt Gegengas, lenkt in die andere Richtung, doch nichts geschieht. Das Heck bricht aus, der Bus beginnt zu schleudern, dreht auf die Gegenfahrbahn und gerät durch die Fliehkraft ins Kippen. Zu spät, zu spät, denkt er, sie werden sich erkälten, nicht rechtzeitig zum Unterricht kommen … meine Schuld … siebenundzwanzig Jahre … alles vorbei … zwei Sekunden.
Mit dem Schub von zwölf Tonnen Gewicht und sechzig Km/h, prallt der Bus auf das Brückengeländer. Lautsprecher ersterben, Funken sprühen, Glas splittert und in das Ächzen von Stahl und Metall mischt sich der entsetzte Schrei von Alfons Schneider, als eine Metallstange seinen Körper durchbohrt.
Lena Berger steht an der Bushaltestelle, während in der Ferne das Heulen der Sirenen immer lauter wird. Ihr ist kalt und ihr ist übel. Ihr Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, klopft als wolle es gleich explodieren. Tränen laufen ihre Wangen hinab.
Sie weiß es. Nie wieder wird er sie freundlich anlächeln, Süßigkeiten verteilen oder nach den Noten aus der Klassenarbeit fragen. Nie wieder.