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Siebenundzwanzig Jahre, zwei Sekunden Schicksal

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31.10.2005
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Siebenundzwanzig Jahre, zwei Sekunden Schicksal

Lena Berger stand an der Haltestelle und blickte auf ihre Uhr: 7.10 Uhr. Wo blieb der Schulbus? Seit fünf Jahren fuhr sie nun bereits mit diesem Bus und er war immer pünktlich um sieben da gewesen. Ob Herr Schneider vielleicht krank war oder verschlafen hatte? Hoffentlich war ihm nichts passiert. Nein ihm durfte nichts passiert sein, denn sie hatte ihn gerne. Er war immer gut gelaunt, erzählte manchmal Geschichten oder legte eine Kassette mit Musik ein, um dann die Melodie - wenn auch meist schief – mitzusummen. Am Nikolaustag hatte er auf jeden Sitz eine kleine Tüte mit Nüssen und Süßigkeiten gelegt, er selbst hatte eine rote Mütze aufgehabt. Irgendwie sah er ja wirklich ein bisschen wie ein Weihnachtsmann aus, mit seinen blonden Haaren, die an den
Schläfen langsam ergrauten, dem Vollbart und dem Bierbauch. Natürlich glaubte Lena nicht mehr an den Weihnachtsmann, dafür war sie mit dreizehn viel zu alt, aber wenn, dann hätte sie sich einen Weihnachtsmann gewünscht, der genau wie Herr Schneider war.

Alfons Schneider schoss vom Bett hoch und schnappte seine Sachen, während er ins Bad rannte. Er hatte verschlafen. Nie und nimmer würde er es schaffen bis 6.45 Uhr im Busdepot zu sein und dies wiederum bedeutete, dass er die Schulkinder nicht pünktlich an der Haltestelle abholen konnte. Seit siebenundzwanzig Jahren war er Bussfahrer und er war noch kein einziges Mal, auch nur eine Sekunde, zu spät gekommen.

Lena stand an der Bushaltestelle zwischen ihren Freundinnen. Sie fror erbärmlich und wünschte sich, sie hätte auf ihre Mutter gehört, Handschuhe und Mütze angezogen. Es war 7.25 Uhr und noch immer kein Schulbus in Sicht. Moment, waren das Sirenen, die sie in der Ferne hörte? Nein, Unsinn zwei ihrer Freundinnen hörten Musik und das relativ laut, wahrscheinlich war es das.

6.55 Uhr, er würde definitiv zu spät an der Haltestelle sein und das, wo es heute so kalt war. Hoffentlich waren die Kinder warm genug angezogen, nicht dass sie sich wegen ihm noch erkälteten.
Vielleicht konnte er etwas Zeit einsparen, wenn er heute den Weg über die Louisenbrücke nahm.
Alfons Schneider drehte den Zündschlüssel, drückte den Anlasserknopf und der Bus erwachte zum Leben. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, seine Hände zitterten, er brauchte etwas, um seine Nerven zu beruhigen, legte eine Musikkassette mit Klassik ein und fuhr los.

Zehn Minuten später bog er auf die Louisenbrücke ab und beglückwünschte sich für seine Entscheidung, denn obwohl heute Montag war, herrschte hier kaum Verkehr. Er beschleunigte den Bus auf die erlaubten sechzig und entspannte sich langsam.

Nebel wälzt sich über die Straßen, trägt Feuchtigkeit mit sich, die als feiner Nieselregen zu Boden fällt. Wassertropfen gefrieren in sekundenschnelle zu Eis und verwandeln die Straße in eine Rutschbahn.
Im Radio warnt der Deutsche Wetterdienst vor Eisregen und Glätte, doch Alfons Schneider kann es nicht hören, aus seinen Lautsprechern klingt Mozart.

Mit sechzig Km/h steuert Alfons Schneider den Bus über die Brücke. In einer sanften Rechtskurve bremst er leicht ab. Die Räder blockieren, dass Lenkrad gleitet ohne Widerstand durch seine Hände. Glatteis schießt es ihm durch den Kopf, bevor Routine und Erfahrung von siebenundzwanzig Jahren als Busfahrer, seine Handlung lenken: Gas wegnehmen, Intervallbremsen, gegenlenken, ruhig bleiben. Das Bremspedal zittert unter seinem Fuss, trotz ABS und ESP blockieren die Räder, das Lenkrad gehorcht ihm nicht, er gibt Gegengas, lenkt in die andere Richtung, doch nichts geschieht. Das Heck bricht aus, der Bus beginnt zu schleudern, dreht auf die Gegenfahrbahn und gerät durch die Fliehkraft ins Kippen. Zu spät, zu spät, denkt er, sie werden sich erkälten, nicht rechtzeitig zum Unterricht kommen … meine Schuld … siebenundzwanzig Jahre … alles vorbei … zwei Sekunden.
Mit dem Schub von zwölf Tonnen Gewicht und sechzig Km/h, prallt der Bus auf das Brückengeländer. Lautsprecher ersterben, Funken sprühen, Glas splittert und in das Ächzen von Stahl und Metall mischt sich der entsetzte Schrei von Alfons Schneider, als eine Metallstange seinen Körper durchbohrt.

Lena Berger steht an der Bushaltestelle, während in der Ferne das Heulen der Sirenen immer lauter wird. Ihr ist kalt und ihr ist übel. Ihr Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, klopft als wolle es gleich explodieren. Tränen laufen ihre Wangen hinab.
Sie weiß es. Nie wieder wird er sie freundlich anlächeln, Süßigkeiten verteilen oder nach den Noten aus der Klassenarbeit fragen. Nie wieder.

 
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Das war wieder eine Aufgabe für's Studium. Ich hätte gut und gerne das Doppelte schreiben können, leider war aber die Beschränkung 80 Zeilen :rolleyes: und außerden war eine Situation vorgegeben --> Alfons Schneider fährt den Schulbus, er war immer pünktlich und noch nie krank. Warum kommt er heut zu spät? Es gab noch eine Andere (Unterhaltung im Supermarkt) aber die habe ich schon verarbeitet "Happy Birthday" und mit dem Kommentar, ich möge mich doch an die Zeilenvorgaben halten und eine neue Kg schreiben die den Vorgaben entspricht, wiederbekommen.

Bei der kürze des Textes hatte ich Probleme den Charakter des Alfons Schneider so zu gestalten, dass man sich mit ihm indentifizieren und über sein Ende traurig sein kann. Falls also jemand Verbesserungsvorschläge hat, immer her damit.

Lg, Ph:gelb:

 

Hey Phoenix,
soll ich mal einen übellaunigen creative-writing-Freak spielen? :)
Moment, wo ist mein rosafarbener Pyjama? Wo ist mein medizinisches Dope? Ah okay, alles da, los geht’s:

Lena Berger stand an der Haltestelle und blickte auf ihre Uhr: 7.10 Uhr.
Es ist natürlich eine Glaubensfrage, ob der erste Satz wirklich so wichtig ist, wie es eigentlich überall behauptet wird. Ich gehöre zu den Leuten, die sagen: Ja.
Dieser erste Satz strahlt den Sex-Appeal von Blasen- und Nierentee aus.
Statt 7.10Uhr „zehn nach Sieben“.

Sie hatte ihn gerne, so wie das eigentlich alle taten.
Sprachlich holpert es hier (taten?).
Aber auch in der Perspektive ist es etwas unsauber. Denn diese Gedankenrede „alle haben ihn ja gern“ dient eher dazu, eine Information an den Leser zu bringen und entstammt nicht unbedingt der Gedankenwelt der Protagonistin.

Am Nikolaustag hatte er auf jeden Sitz eine kleine Tüte mit Nüssen und Süßigkeiten gelegen
Gelegt oder: hatte auf jedem Sitz … gelegen

er selbst hatte eine rote Mütze aufgehabt.
„aufgehabt“ ist ein eher kindlicher Stil –das würde passen, wenn du nicht im nächsten Absatz das Wort „aschblond“ benutztest. Und das Wort wird man auf Schulhöfen eher selten finden.

und dies wiederum bedeutet
Bedeutete

Seit siebenundzwanzig
Seit 1927? Doch wohl: seit siebenundzwanzig Jahren.

Busshaltestelle
Das „s“ zuviel streicht aber sogar Word an.

Moment waren das Sirenen, die sie in der Ferne hörte? Nein Unsinn
„Moment“ und „Nein“ sollte man durch ein Komma abtrennen.

was wie Blaulichtgeheul klang
Blaulichtgeheul ist wieder weit von der kindlichen Sprache weg. Ist auch ein komisches, irgendwie synästhetisches Wort.

Er brauchte etwas um seine Nerven zu beruhigen, legte eine Musikkassette ein und fuhr los.
Komma nach etwas. Und nach beruhigen am besten einen Punkt. Und das ganze etwas konkreter und plastischer:
Seine Hände zitterten. Alfons brauchte etwas, um seine Nerven zu beruhigen. Er fischte eine Flippers-Kassette aus seiner Jackentasche, legte sie ein und fuhr nervös summend los.

die erlaubten sechzig Km/h
Dass man Abkürzungen und Zahlen ausschreibt, hat ja einen guten Grund. Es erspart dem Hirn das Umrechnen und Übersetzen, was einen für Momente aus dem Text reißt. Hier brauchst du das „Km/h“ eigentlich gar nicht. Er beschleunigte auf die erlaubten Sechszig ist absolut eindeutig.

Nebel wälzt sich über die Straßen, trägt Feuchtigkeit mit sich, die als feiner Nieselregen zu Boden fällt.
Dieses Asyndeton wirkt lyrisch (könnte auch pseudo-literarisch schreiben, aber dann bekäme ich wieder Ärger –Geschmacksfrage). Die Sprachebenen und Perspektiven sind unklar –gerade wenn du nur drei Zeilen in jeder Ebene bleibst. Hier taucht zu dem kleinen Mädchen und Schneider ein auktorialer Erzähler auf, der die Vogelperspektive einnimmt.

Bei der kürze des Textes hatte ich Probleme den Charakter des Alfons Schneider so zu gestalten, dass man sich mit ihm indentifizieren und über sein Ende traurig sein kann.
Na ja, wenn du ein Drittel des Textes auf eine zweite Perspektivträgerin legst, und einige Zeilen in eine Blockbuster-Katastrophen-Szene bleibt halt wenig Raum.
Identifizieren? Na ja, er ist halt ein durch und durch guter Mensch. Nikolaus, liebt Kinder, hört Mozart, pflichtbewusst, treu, denkt noch im Moment seines Todes an die armen Kinder, die zu spät kommen. Weiß nicht, starke Figuren und Identifikationspotential entsteht meist durch einen Bruch.

Ich nehme mal an, dass bei so einer Aufgabenstellung die Hälfte der Texte einen Unfall drin haben, von daher wäre vielleicht eine subtilere Lösung schöner, eine logischere, leisere. Ich meine: warum verschläft er überhaupt nach 27 Jahren? Das ist doch die entscheidende Frage? Da könnte ein Bruch entstehen. Vielleicht muss er, der Kinder so liebt, am Vorabend durch die Gegend fahren, um seine drogensüchtige Tochter zu finden, oder weiß der Geier was. So eine persönliche Ebene fände ich stärker als diese Crash-Boom-Bang-Lösung.

Gruß
Quinn

 

Hallo Phoenix,

ich muss Quinn recht geben mit:

Na ja, er ist halt ein durch und durch guter Mensch. Nikolaus, liebt Kinder, hört Mozart, pflichtbewusst, treu, denkt noch im Moment seines Todes an die armen Kinder, die zu spät kommen. Weiß nicht, starke Figuren und Identifikationspotential entsteht meist durch einen Bruch.
Der Typ ist einfach zu glatt, zu perfekt. Ein Bruch hätte mir auch besser gefallen.

Vom Stil her liest sich deine Geschichte gut und auch die Idee fand ich nicht schlecht. Die Idee das Mädchen einzubringe hat mir gefallen.

Trotzdem hat mich die Geschichte nicht wirklich berührt. Versuchs mal zu begründen, auch wenns mir schwer fällt.

Ich denke zum einen liegt es an der Länge. Aber das hast du ja geschrieben, das du nur so viel Zeilen zur Verfügung hattest. Den Charakter konntest du so nicht richtig zeichnen.
Zum anderen denke ich, dass es noch am Ende liegen könnte. Nur weil sie die Sirenen hört, denkt sie sofort das ihm etwas passiert ist. Ich denke besser hätte gewirkt, wenn sie den Bus über die Brücke hätte kommen sehen und dann sich gefreut hätte. In mitten der Freude kommt der Bus dann von der Straße ab. Wirkt denke ich dramatischer.
So wird ihre Freude in Trauer umgewandelt. Das schafft mehr emotionalen Raum denke ich.

Alles in allem wars ganz nett.

lg neukerchemer

 
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Aloha zusammen

@Quinn

soll ich mal einen übellaunigen creative-writing-Freak spielen? :)
Moment, wo ist mein rosafarbener Pyjama?
Pyjama? Rosa? Steh ich jetzt auf dem Schlauch?
Es ist natürlich eine Glaubensfrage, ob der erste Satz wirklich so wichtig ist, wie es eigentlich überall behauptet wird. Ich gehöre zu den Leuten, die sagen: Ja.
Dieser erste Satz strahlt den Sex-Appeal von Blasen- und Nierentee aus.
Statt 7.10Uhr „zehn nach Sieben“.
Ich gebe dir durchaus recht, aber da ich erst im Urlaub war, weiß ich das es in Deutschland Regionen gibt, wo man mit "viertel acht" oder "zehn nach sieben" absolut nichts anfangen kann. Ungelogen bekam ich dann auf meine Zeitangabe die Antwort: Wie spät issn das?
Das „s“ zuviel streicht aber sogar Word an.
Mein Dudenkorrektor verweigert den Dienst und die normale RS - Prüfung korrigiert seit dem wieder in der alten RS bzw. gar nicht. :(
Komma nach etwas. Und nach beruhigen am besten einen Punkt. Und das ganze etwas konkreter und plastischer:
Seine Hände zitterten. Alfons brauchte etwas, um seine Nerven zu beruhigen. Er fischte eine Flippers-Kassette aus seiner Jackentasche, legte sie ein und fuhr nervös summend los.
Danke für den Tipp, hab ich gleich mal geändert.
Dieses Asyndeton wirkt lyrisch (könnte auch pseudo-literarisch schreiben, aber dann bekäme ich wieder Ärger –Geschmacksfrage). Die Sprachebenen und Perspektiven sind unklar –gerade wenn du nur drei Zeilen in jeder Ebene bleibst. Hier taucht zu dem kleinen Mädchen und Schneider ein auktorialer Erzähler auf, der die Vogelperspektive einnimmt.
Naja mir gefällt das eigentlich, hab ich in Geschichten auch schon des Öfteren so praktiziert, aber wenn du jetzt gerade die Perspektiven ansprichst, ist mir gerade aufgefallen, dass ich zu 80% narrativ geschrieben habe und das ärgert mich schon wieder total, weil das irgendwie nur passiert wenn ich so kurze Sachen schreiben soll. :(


Ich nehme mal an, dass bei so einer Aufgabenstellung die Hälfte der Texte einen Unfall drin haben, von daher wäre vielleicht eine subtilere Lösung schöner, eine logischere, leisere. Ich meine: warum verschläft er überhaupt nach 27 Jahren? Das ist doch die entscheidende Frage? Da könnte ein Bruch entstehen. Vielleicht muss er, der Kinder so liebt, am Vorabend durch die Gegend fahren, um seine drogensüchtige Tochter zu finden, oder weiß der Geier was. So eine persönliche Ebene fände ich stärker als diese Crash-Boom-Bang-Lösung.
Hm ja, stimmt. Ähnliche Sachen sind mir auch im Kopf umher gegangen, aber das kriege ich nicht in 80 Zeilen. Irgenwie kann ich nicht mehr kurz schreiben. Keine Ahnung woran das liegt.

@neukerchemer

Vom Stil her liest sich deine Geschichte gut und auch die Idee fand ich nicht schlecht. Die Idee das Mädchen einzubringe hat mir gefallen.
Danke.
In mitten der Freude kommt der Bus dann von der Straße ab. Wirkt denke ich dramatischer.
So wird ihre Freude in Trauer umgewandelt. Das schafft mehr emotionalen Raum denke ich.
Okay, ich überleg mal ob mir irgenwas in die Richtung einfällt. Ich fand ja das Ende selbst nicht so richtig gelungen.

Danke fürs Lesen, Fehler finden und die Vorschläge.

Lg, Ph:gelb:

 

Phoenix schrieb:
Pyjama? Rosa? Steh ich jetzt auf dem Schlauch?
Wonderboys. Spitzen Film und Buch. :)

Ich gebe dir durchaus recht, aber da ich erst im Urlaub war, weiß ich das es in Deutschland Regionen gibt, wo man mit "viertel acht" oder "zehn nach sieben" absolut nichts anfangen kann. Ungelogen bekam ich dann auf meine Zeitangabe die Antwort: Wie spät issn das?
Mit viertel und drei Viertel - das ist klar, damit wäre ich auch vorsichtig. Weil dreiviertel Fünf 4:45 Uhr oder 5:45 heißen kann -je nach Region. Aber "zehn nach Sieben"? Wie kann man das falsch verstehen? Aber okay, es ging mir ja nur darum, dass man Zahlen eigentlich ausschreiben sollten. Wie wäre es denn mit "kurz nach Sieben"? Oder so?

Gruß
Quinn

 

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