Sieglinde VS. Karamalz. Oder: Ville Valo im Getränkemarkt des Todes
Sieglinde VS. Karamalz. Oder: Ville Valo im Getränkemarkt des Todes
Für Jack und Bad Bad Migé.
Rimbach, Sommer 2003.
Die Sonne brüllt uns Bayern “Schwitzt, ihr Säue!” entgegen, und während die jüngeren Exemplare sich einfach mit einer Schwimmmatte im eiskalten Wasser des Rimbacher Badesees der überflüssigen Körperflüssigkeit (ein Brüller! Flüssig! Überflüssig! Ha!) entledigen, die Erwachsenen sich mit Klimaanlage und Kir Royal im Garten breit machen, bevorzugt es die Bevölkerungsgruppe meines Alters, den ganzen Tag durchzuschlafen und erst nach Einbruch der Dunkelheit aufzustehen. Das Bett ist selbstverständlich brüllheiß, aber
1. bekommen wird das nicht mit, weil wir ja schlafen (man denkt praktisch)
2. schwitzen wir uns sozusagen gesund und
3. nötigt uns der Flüssigkeitsverlust tagsüber zu exzessiver Einnahme von Flüssigkeit in der Nacht.
Und so, eines schönen Tages mitten im Juni, verbrachte ich meine kostbare Freizeit in einer ehemaligen Bettdecke. Jetzt war sie eher mit einem überdimensionierten, feuchten Lappen zu vergleichen, aber hey, lieber transpirierend als inkontinent.
Ich war gerade in einen Traum vertieft, in dem ein Dixi-Klo, eine Atombombe, G. W. Bush und acht Kilo Feingehacktes eine Rolle spielten, da wurde ich durch die Stimme meiner Mutter geweckt:
“Patrick, gehst du schnell zum Getränkemarkt?”
Dieser Ruf meiner Erzeugerin bzw. Erzieherin war der Ruf von genau drei knuffigen, schnuffigen Fünf-Euro-Scheinen, die mir Mutti feierlich überreichen werden würde, wenn ich drei Kästen voll mit Getränken, die dem Durchschnittsbürger gerade noch gefehlt haben, nach Hause schleppen würde.
Aber nicht nur das: Unterwegs würde ich die Möglichkeit haben, Robert Bescheid zu sagen, er und einige andere Mitbürger gleichen Alters sollen sich doch bitte heute Abend im Flash zwecks Einnahme alkoholischer Getränke und Kontaktaufnahme zu menschlichen Lebensformen weiblichen Geschlechts einfinden.
Augenblicklich sprang ich aus dem Bett und lief in die Küche.
“Klarmachichsofortgeldherdankebingleichwiederda.”
Und ab ging die Post.
Robert schlief ebenfalls noch, aber ich klingelte ihn gerne raus.
“Robert. Du. Ich . Die anderen. Flash. Heute Abend. Saufen. Mädels. Alles klar?”
“Jou.”
“Gut Nacht.”
“Jou.”
Der Getränkemarkt. Jungbrunnen der Midlife-Crisis-Geplagten, Hauptzentrale von alternden Skat-Fetischisten, Parkplatz für debile Schäferhunde, inoffizielle Sammelstelle von unfreiwilligen Halbtagsarbeiterinnen, Beschäftigungsplatz von Unbeschäftigten, Beschädigungsplatz von Schwerbeschädigten, Oase der geistigen Nussknacker.
Vor dem Eingang saßen der alte Helmut, stockbesoffen und mit dem Rücken in einem bequemen 45 °- Winkel zum Boden.
“Was macht die alte Schrulle?”, begrüßt er mich herzlichst.
“Abspülen”, antwortete ich und hob dabei zum Gruß die Hand.
“Soll ich ihr helfen”, nuschelte er spleenig und beugte sich dabei vor, “Weißt schon, mit abspülen und so. Weißt schon, nä, weißt schon?”
“Nee”, winkte ich ab. “Mein Vater ist zuhause“, log ich. “Außerdem bist du fast sechzig, arbeitslos und stinkst.”
“Janu”, gab er zurück und kratzte sich am Kopf. Es hörte sich ein bisschen wie zerreißendes Papier an.
Ich beschloss, mich meiner eigentlichen Aufgabe zu widmen: Getränke holen. Gut gelaunt pfiff ich ein fröhliches Liedchen vor mich hin, von Black Sabbath etwa, oder von bauhaus, und betrat den Laden. Augenblicklich stellte fest, dass es im Inneren stank, aber im ganz großen Stil.
Der Geruch war wohl zu definieren als eine launige Verbindung von Sankt-Pauli-Blend-Zigaretten, billigem Putzmittel und Karamalz. Augenblicklich wollte mir die Nase den Dienst versagen, ich hatte nichts dagegen.
“Ja, dann mal hallo”, eröffnete ich das Verkäufer-Kunden-Gespräch.
Die kernige Dame hinter dem Tresen, die mich frappierend an eine übergewichtige Version von Peggy Bundy erinnerte, starrte mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen, was durchaus daran liegen könnte, dass sie mich tatsächlich noch nie gesehen hat.
Ich wartete. Sie bewegte sich nicht.
“Hallo noch mal.”
Nichts. Gar nichts.
“Dann würde ich jetzt wohl gerne Getränke abholen... hier im Getränkeabholmarkt.”
Sie rührte sich nicht. Ich kam mir vor wie einer Jack-Torrance-Horrorstory. Züchtete hier jemand Voodoo - Getränkemarktsverkäuferinnen? Der berühmt-berüchtigte Onkel Erwin? Hank, the singing Philosoph? Ein durchgeknallter Franzose vielleicht?
Dann beugte sich die Frau nach vorne, wobei sie mit ihren Brüsten beinahe die Kasse vom Tisch fegte.
“Sie hamm da wat. Wat Grünes.”
“Den Hulk? Den Joschka?”
“N Popel.”
Einmal muss jeder verlieren.
Die Dame, deren Name übrigens Sieglinde war, führte mich im Laden herum und zeigte mir die neusten Produkte der Getränkemarktsindustrie.
“Hier hamm war dat neue Cola. Dat wo wie dat Vanille schmecken tut.”
“Vanilla Coke?”
Einen Augenblick sah sie verwirrt aus, dann sagte sie:
“Ja, Hamilla Koks. Und dat is dat Karamalz. Dat neue Karamalz. Dat schmeckt wie wo...” Sie quiekte auf. “Jetzt raten se mal. Nach was tut das schmecken?”
Ich setze ein grüblerisches Gesicht auf, dann schnippte ich mit dem Finger und rief:
“Es schmeckt nach Vollbier!”
Ich war gerade dabei, mich zu beeumeln wie ein Weltmeister, da musste ich feststellen, dass Sieglinde den Witz entweder nicht verstand oder einfach nicht lustig fand, ich vermutete beides.
“Egal. Das nächste”, rettete ich die Situation.
“Ja...”
Wieder stand sie da und starrte mich an.
“Was?”, fragte ich hektisch und fingerte mir über die Nase, “wieder ein kleiner Joschka?”
Sie sagte nichts.
“Hey!”
Nichts.
“Ein Joschka? Popel! Bin ich grün? Huhu!”
“Wat?”
“Ach nichts. Das nächste.”
Sie bewegte sich nicht. Stattdessen glotzte sie mich an wie ein Frosch einen strippenden Storch. Langsam wurde sie mir unheimlich.
“Sie hamm ja blaue Augen!”, leierte sie und tuckerte ihren Zeigefinger durch die Luft direkt auf mein Gesicht zu. Ich bog mich langsam nach hinten, um einen Kontakt meines Auges mit ihrem Finger zu vermeiden. Es sah aus wie Matrix für Cholesterinkranke.
“Ja, dann halten Sie mal still.”
Ich fuchtelte ihre Hand weg und animierte sie freundlich dazu, mit dem Rundgang fortzufahren.
“Jetzt hier. Nächstes, du. Da drüben, guck”, sagte ich und fuchtelte dabei mit der Hand herum wie ein verhinderter Bruce Lee.
Sie entschied sich dazu, weiter zu gehen. Halleluja.
“Nährbier.”
“Das da?”
“Das da von da vorhin. Da wo sie nicht wussten was das da da dann da ist. Das da”, setze sie nach und zeigte auf die Kästen Karamalz links von uns. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Wollte ich dies herausfinden, hätte ich vermutlich lernen müssen, wie sie zu denken. Ich entschied mich dafür, unwissend zu bleiben, was, wie sich im Laufe der nächsten Minuten zeigte, die richtige Entscheidung war: Ein Blick in ihr Gehirn erschien mir so einladend wie Ferien im Bikini-Atoll.
“Ja, gut”, winkte ich ab. “Hab’s kapiert.”
“Das war Kräuter-Karamalz gewesen”, sagte sie. Ich war überrumpelt: Welcher kranke Geist käme auf die Idee, das ohnehin schon schwefelnde Karamalz mit Kräutergeschmack zu versetzen? Wer wäre so krank, dieses Teufelszeugs tatsächlich zu trinken? Und, nur für den Notfall, kann man Speisenröhren transplantieren?
Die Antwort auf alle diese Fragen ist immer “Nein” oder “Sieglinde”, manchmal sogar gleichzeitig.
“Gut”, sagte ich, “und was ist das da?” Und zeigte auf einen Kasten gelbgrüner Farbe, mit Flaschen bestückt, die gefüllt waren mit etwas, was der Hersteller Crazy Applejuice nannte.
“Dat da? Dat da tut Apfelsaft sein.”
“Aha.”
Crazy Applejuice. Ich kicherte in mich hinein. Ja, wahnsinnig crazy, dieser Apfelsaft. Er kann: gefrieren und verdampfen. Abgefahren.
“Gut, dann würde ich mal sagen, ich kauf Mineralwasser und Coke.”
Das alte Spiel begann von vorne. Sie sah mich wieder an, diesmal fixierte sie mein T-Shirt.
“Da steht...” sie kniff die Augen zusammen, “H...I...M...HIM!”, quiekte sie erfreut auf. Ha! Sie hatte mein grandioses HIM-Shirt entdeckt, auf dessen Vorderseite der Bandschriftzug und auf der Hinterseite Ville Valos Gesicht abgebildet war.
“Da isn Mann hinten druff”, eierte sie mich an, als ich mich umdrehte, um den Crazy Applejuice auf etwaige ungeeignete Zusatzstoffe zu untersuchen.
“Da isn Mann hinten druff. Mit nem weißen Gesicht. Und... ner Mütze.
“Ja. Ich weiß”, sagte ich und drehte mich um.
Sie zuckte.
“Woher?”, fragte sie verdattert.
“Ich hab das Shirt gekauft.”
“Wo?”
“Internet.”
“Wo isn’ das?”
“Gleich um die Ecke.”
Sie guckte mich recht trotzig an.
“Zeig. Da war icke nämlich schon mal, das isse gar nix!”
Ich patschte dreizehn Euro auf den Tresen, sagte etwas wie “Rest ist Trinkgeld” und krallte mir die Kästen.
“Schönen Tag noch!”
“Jetzert!”
Ich ging an Helmut vorbei.
“Na, du Rabauke!”, frotzelte er mich an. “Hast’ doch sicher ne Flasche für den guten, alten Helmut übrig, was?
“Klar.”
Ich hörte ihn sabbern.
“Sobald sie leer ist, bring ich sie vorbei.”
Die Kästen nach Hause zu tragen stellte sich in der Tat als schwieriger als zunächst angenommen heraus. Es wurde heißer - um einiges heißer. Anscheinend hatte Gott die Absicht, mir noch mal so richtig den Saft aus den Poren zu quetschen, bevor ich mir heute Nacht die Kante geben konnte. Aber ich schaffte es. Ich verlor ein Viertel meines Gewichts, aber ich schaffte es, und zwar, ohne eine Flasche anzurühren.
Ich kam zuhause an. Und ich lebte.
“Ah, da bist du ja.”
Ich röchelte und hielt die Hand auf. Von wegen “knuffige schnuffige Fünfer”. Jetzt wollte ich Zehner springen sehen.
“Dein Geld kriegst du gleich. Wo du schon mal dabei bist, kannst du gleich Brötchen holen.”
Brötchen. In der Bäckerei. Neben dem Getränkeabholmarkt. Wo Sieglindes Schwester Ursel arbeitet.
Ich schnappte mir den Wasserkasten und sperrte mich für den Rest des Tages in der klimatisierten Toilette ein.
Das Besäufnis im Flash fiel dann eher bescheiden aus: Wasser und Coke. Aber immerhin wiege ich jetzt wieder fünfzig Kilo.