Sitzung im Dritten
Einmal, zweimal drehte er das kalte Stück im Uhrzeigersinn, zog es ab und ließ seine Augen die erste der sechs Stufen erfassen, die sich rechts von ihm geschachtelt oder gestapelt – wie man es betrachten mochte – in- oder auf-, jedenfalls aber miteinander verbunden und ganz still, weil wohl wartend, bis zum nächsthöheren Absatz erstreckten. Die Vorstellung, ihrer blassen Gesamtheit regelmäßig und in beiläufiger Weise Leben stiften zu können durch Tritte, ob nun scharfe oder leichte, mit lauten Stampfern oder in müdem Schlurfen, entschied er unverzüglich aus seinen Gedanken zu bannen, es war schon sieben. Ein Lyriker, dachte er sich, würde Gefallen darin finden, jedes tote Gebilde zu personifizieren, jeden Zufall als eines großen Plans Abfall in Momentaufnahmen zu verwursten. Er nicht, wusste er, denn er war kein Lyriker, wollte keiner sein und würde als solche Art von Person in allem ihm dann Inhärenten und Eigenen ohnehin kein Glück wie erst recht keine Erfüllung finden.
Er setzte sich in Bewegung und erreichte – keineswegs unerwartet – schnell den ersten Absatz, dann, nach noch einmal sechs Stufen, den dritten Stock. Keine Spur durch ihn versprühter Lebendigkeit, keine Wurzel eines poetischen Stoffs hatte sich bei seinen Schritten bemerkbar gemacht. Stattdessen festzustellen, dass falsch, mehr noch absurd war, was sich der Bruchteil in ihm, der ihn für einen Dichter hielt, ja einen Lyriker schimpfte, eigenwillig erträumt hatte, erfüllte ihn nun kurz, aber effektiv mit einem vertrauten Gefühl der Bestätigung, das für einen Augenblick den Eindruck der Unantastbarkeit, einer Überlegenheit gegenüber jeglichem vermeintlich Ebenbürtigen aufrechtzuerhalten vermochte. Er, ein Poet? Nein, das war nun hinlänglich widerlegt.
Den Daumen nicht aus der Reichweite des blassgelben Plastikknopfs zurückgezogen, hörte er sich nähernde Schritte von innen und führte seine Hände rasch zusammen, um im Augenblick, da sich die Wohnungstür öffnen würde, mit einer reibenden Geste, unterstützt durch weit hochgezogene Schultern, auf die vermeintliche Kühle des Treppenhauses aufmerksam zu machen und eine enthusiastische Begrüßungsszene wenn nicht zu verhindern, so wenigstens zu verzögern. Obgleich gar kein Anlass zu einer solchen gegeben war, entschied er sich ein weiteres Mal nicht gegen seine Routine.
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„Hey, komm rein.“
Er lächelte, hoffte, sie fasse das richtig auf, nämlich gar nicht, und durchschritt auf ihren Wink hin den kurzen Flur, ohne sich dabei, wie er es an den wenigen wiederkehrenden Besuchern seiner eigenen Wohnung so sehr verabscheute, in sichtbarer Erwartungshaltung nach Veränderungen umzuschauen. Das Wohnzimmer, in dem sie sich nun schon zum dritten Mal austauschen würden, als wäre ihr Verhältnis nicht bloß vertraut-nachbarschaftlich, war fast frei von Einflüssen natürlichen Lichts.
„Ist echt nicht das Geilste“, strömte es links an ihm vorbei in den Raum, in dessen Tür er stehen geblieben war. Die Offensichtlichkeit seines Zustands halber Blindheit beunruhigte ihn.
„Letzte Mal hat's geregnet, alles voll mit Wolken, davor das Mal auch, weißt noch? Nur heut siehste mal wie Scheiße das eigentlich is', das knallt hier meist voll rein, Westseite halt. Rollos runter und mit abfinden, andre Wahl hat man da nicht.“
„Hm“, nahm irgendeine seiner mentalen Unterabteilungen die Schilderung der Umstände wahr und zur Kenntnis, während sich der Rest durch Lauschen und Tasten, vorbei an zwei Katzen, einem Sessel und an ihr, einen Weg durchs Zimmer und einen Platz auf dem Sofa organisierte. Erstaunlich bald hatten sich auch die Augen ans Halbdunkel gewöhnt und berichtet, sie säße ihm nun schräg gegenüber und, so viel wäre erkennbar, zöge ihre „tja, dann mal los“-Schnute.
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„Wie war deine Woche?“
Er lächelte schwach, aber vielsagend und war unsicher, ob das als Entgegnung genügte.
„Was denn?“, erwiderte sie seine Mimik hinreichend.
„Na ja, das hört sich gut an, gefragt zu werden, wie die Woche war. So professionell und auf Abstand.“
„Klar, was denkst du denn? Du hast mich engagiert, da kannste das erwarten. Oder willst du andeuten, ich soll Geld verlangen?“
So ernst sie dabei tat, so offensichtlich war ihre beruhigend scherzhafte Absicht. Wäre ihr das ernst gewesen, das mit dem Geld, hätte es düster ausgesehen. Ob er im Grunde zu ihr ging, weil seine Studentenjobs, wie er sie immer noch nannte, finanziell nur das Nötigste hergaben, oder weil die Öffnung gegenüber einem Profi-Psycho wohl schwerer gefallen wäre als die gegenüber ihr, die bestimmt eine Art Freundin war, wollte er jedoch nicht wissen müssen.
„Ich hab' nichts gesagt“, grinste er, wieder nicht sicher, ob angemessen. Bemüht, größten Eifer in seine Worte zu betten, fuhr er fort.
„Meine Woche, ja. Bis Freitag wie immer, Alltag eben. Nur dann hat mein Vater angerufen.“
Das Einlegen einer Sprechpause nach diesem Häppchen war ihm intuitiv sinnvoll erschienen.
„Verstehe. Macht er dir Druck?“
„Kann man sagen. Ich soll dieses Jahr wieder mit dem Studieren anfangen, wenn nicht, keine Miete mehr von ihm.“
Der sichtbar unbeabsichtigte, gleich wieder unterdrückte Anflug eines Lächelns in ihrem Gesicht wunderte ihn kurz. Die Frage aber, ob sie vielleicht über ihn lachen wollte, weil er so uneigenständig war und das mit dreiundzwanzig, durfte er sich nicht stellen – weder als ihr „Patient“, noch als elterlich abhängiger Mittzwanziger. Auch wenn damit gleich zwei hervorragende Scherzvorlagen vorhanden waren – sie hatte bestimmt einfach nur immer noch Schwierigkeiten dabei, ihre Rolle anzunehmen.
Mh, was empfindest du dabei ihm gegenüber? Fühlst du dich eingeengt oder hast du Verständnis?“
Gut machte sie das.
„Beides, denke ich. Natürlich engt mich das ein, das könnte man ja sogar in Zeit und Geld nachrechnen. Aber klar weiß ich auch, dass er mich auf eigenen Beinen sehen will, zu Recht eigentlich.“
„Wann hast du zum ersten Mal so gedacht, dir diese beiden Seiten bewusst gemacht?“
Sie machte es ausgezeichnet.
„Nicht erst jetzt gerade. Das ist bei mir eigentlich der Regelfall: Im Grunde weiß ich von Anfang an, was erwartet wird, aber es taucht ja meist immer wieder ein neues Problem auf, das irgendwie aktueller ist. Und dann wandert das andere erstmal in die Schublade, bis jemand kommt und einen ziemlich schmerzhaft dran erinnert.“
„Und dann ist das alte Problem wieder im Vordergrund?“
„Ja. Aber nicht alleine, hab' ich den Eindruck. Immer, wenn ein altes Problem von mir sich aufwärmt und quasi wieder an die Oberfläche knallt, also unweigerlich aktuell wird, dann komme ich mir relativ überwältigt vor, weil dann auch gleich alles andere ein Stück aktueller wird, als würde es sozusagen mit aus den Tiefen gerissen, verstehst du?“
„Ich denke schon. Heißt das also, dass dich diese ganzen Sachen auf einmal... Oh, sorry.“
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Ihr Handy war es, das die Unterbrechung hervorgerufen hatte. Spätestens bei „sorry“ war nicht nur der Redefluss gestört, sondern das gesamte bisherige Gespräch fiel resigniert auf den Teppich wie eine hauchdünne Ebene aus klarem Glas und tat sich keinen Zwang dabei an, in so viele Einzelstücke zu zerspringen wie nur irgend vorstellbar.
„Hallo? Ach...“, verschwand eilig im Flur.
„Ja, tut mir Leid, wir müssen das wohl nächste Woche weiter besprechen. Ich muss nochmal los“, schwappte schon sehr bald nicht minder eilig zurück ins Zimmer.
„Klar, macht nix. Musst noch arbeiten?“, intonierte er zwanghaft gelassen im Aufstehen.
Sie tat, als hätte sie seine Frage als Räuspern aufgefasst und folgte ihm bis zur Wohnungstür. Auf eine so neutrale, dass gänzlich unnötige Verabschiedung folgte ein höflich fordernder Blick, dem er schweigend nachkam und so Augenblicke später die Tür hinter sich zuzog.
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Die Stufen unter ihm riefen Ideen zurück in seine Sinne, die gern schon älter hätten sein dürfen. Aber jetzt, indem sie schon einmal existierten und sich darboten wie aufgespießte Falter, waren sie, die Vorstellungen vom ersehnten Leben im toten Treppenhaus, gespendet durch ihn, das untätige, erfolglose, vielleicht klammernde Ex-Lebewesen, nicht poetisch, nicht verträumt, sondern selbst für den Lyriker in ihm bloß noch ein Häufchen lächerlicher Scheiße.