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So gesehen
So gesehen Kurzgeschichte Heinz Körber
Es war eine jener friedhofsnahen Gastwirtschaften, die nur für Trauergesellschaften
bestimmt zu sein scheinen.
Ein winziges Schankzimmer und daran anschließend – hinter Mattglasscheiben – ein
Langer Raum mit einer U-förmigen Tafel. Ölgetrenkter Bretterboden und düsteres Licht, das
die paar Heiligenbilder sehr streng aussehen ließ.
Alles saß schon dicht beieinander, es murmelte und schnupfte in einem fort, der Kellner
hievte ein Tablett an den einzig freien Platz am Tisch und verteilte von da aus die vollen Gläser.
Als die beiden Türflügel vehement aufgestoßen wurden, verflachte das Geflüster, und auch
der Kellner verzog sich rasch vor dem schwer daherschreitenden Friedrich.
Die meisten Anwesenden hatten insgeheim mehr Angst als Ehrfurcht vor dem Schmerz
dieses wankenden Kolosses. So manch einer sah beinahe schuldbewusst drein.
Friedrich, an seinem Platz an der Stirnseite angekommen, schleuderte den Hut wuchtig
auf den Tisch und stützte sich sogleich mit den Fäusten auf.
Langsam und bohrend musterte er einen nach dem anderen, kaum einer hielt ihm stand.
Dann kam es leise und doch gar nicht zur allgemeinen Erleichterung aus ihm heraus –
ein erster Satz, trocken, metallisch, mit einem Einschlag von Ironie :
“In solchen Augenblicken hat man seine Freunde gerne um sich“
Seine Augen schweiften zur Decke, ein aufkommendes Schluchzen in der Zuhörerschaft
wehrte er mit einem angewiderten Kopfnicken ab.
Stille – hierauf dröhnte es wie ein Donnerwetter :
“Und dennoch klage ich so manchen von euch an !“
Einige Stühle rückte etwas von der Tafel ab. Zwei, drei Feuerzeuge klickten, der Ober fing
Seine stürmische Herinkommens-Bewegung abrupt ab und glitt mit vollem Tablett in die
Schank zurück.
„Diejenigen, die sich bloß selbst bedauern, die endlich einen Anlass für ihre Schmerzens-
Wollust gefunden haben – an dem raschen Verglühen eines so jungen Lebens.“
Friedrich stand jetzt kerzengerade da, einen Punkt in weiter Ferne fixierend. Der Druck
auf die Trauergäste ließ sichtlich etwas nach. Einige fühlten sich nicht betroffen, andere
verstanden nicht ganz, wie diese Worte gemeint waren.
„Seine Jahre waren ausgefüllt von außerordentlichen Ereignissen, von solchen, die sein Interesse fesselten, und solchen, die in ihm Heiterkeit, bisweilen sogar Ausgelassenheit
hervorriefen. E r kannte noch keinen Lebenskampf, e r musste mit der Heuchelei
und der Mittelmäßigkeit noch keine Kompromisse schließen, vor allem musste er nie
resignieren vor der Hartnäckigkeit des Unabänderlichen.
So gesehen war das Dasein für ihn ein erfülltes, ein fröhlich-unbeschwertes. Und auch
sein Ende empfand er – in den letzten Zügen der Gewissheit – als eine Überraschung
und keineswegs als Bestrafung für irgendein Vergehen oder eine Unterlassung.“
Jetzt spätestens dämmerte es allen, worauf der nun nicht mehr so steif dastehende Friedrich
hinauswollte, man sah es dem einmütigen Nicken an.
Besonders einer, ein mittelalterlicher, leicht angegrauter Herr mit Pfeife lächelte des öfteren
und pflichtete den akzentuierten Redewendungen sehr offenkundig mimisch bei.
Mehrmals unterbrach er sein Rauchzeremoniell und zeigte seine und zeigte seine Zustimmung
oft in einer Weise, wie dies nur Lehrer tun, wenn sie einen Vorzugsschüler prüfen.
Und so einer wird er auch sein, dachte ich mir.
Das ganz sympathische aussehende vis-a-vis musste sein Deutschprofessor gewesen sein.
Oder vielleicht doch Latein. Jedenfalls etwas Humanistisches. Er war gewohnt, dass ihn viele
Menschen gleichzeitig ansahen, und es machte ihm auch nichts aus, wenn man seine Körpersprache auf´s Genaueste beobachtete, wie ich das jetzt tat. Ich vermutete, dass
Friedrich sich im Aufwind speziell seiner Beipflichtung zu so mancher besonders kräftigen Formulierung hinreißen lassen hat. Somit lief das Spiel von Schicksalsbewältigung und anfänglicher Verwirrung letztlich dennoch auf ein versöhnliches Ende hinaus.
„Und deshalb wollen wir seinem Abgang nicht mit düsteren Gedanken nachhängen – und
ihm nur noch freudige nachsenden, trotz unserer Wehmut. Dort, wo er nun weilt, dort treffen wir uns alle wieder. Und nicht nur wir, sondern alle, die je gelebt haben. So hat es die Natur
bestimmt, und damit wollen wir uns abfinden.
So – und jetzt bitte den Ober rufen und weitere Getränke bestellen !“
Der Professor zeigte sich recht erstaunt über die abrupte Abkehr vom Jenseits, fasste sich
aber gleich wieder und verschwand in einer dichten Rauchwolke.
Einige Male begegneten sich unsere Blicke, die Sitzordnung wurde jedoch beibehalten, nur
Friedrich ging von Gast zu Gast und überreichte Fotografien seines verunglückten Sohnes.
Im Schankraum, als ich nach meinem Mantel griff, sah ich den Professor neben mir.
Auch er war am gehen.
Es war ein kalter, feuchter Herbstnachmittag und schon ziemlich dämmrig.
Das Laub verschmierte den Gehsteig, und die Straßenlampen ließen die Allee als einen
dumpfen Silbertunnel erscheinen.
Wir folgten den Wolken unseres ausgestoßenen Atems.
„Geschichte und Geografie“, sagte er und wollte gleich wissen, ob er bei der Einschätzung
meiner Person ebenfalls richtig lag.
„Ein Junge aus der Nachbarschaft – zuerst Aufpasser, wenn die Eltern abends weggegangen sind, und später dann in der Älteren-Bruder-Rolle...“
„Stimmt“, sagte ich.
„Man merkte ihm an, dass es da jemanden gegeben hat, der ihn stark beeinflusste – auch ein
junger Mensch, aber um einiges älter. Ein Leitbild, wie man so gemeiniglich sagt“.
Ich konnte mich nicht zurückhalten und wiederholte es mit einem ironischen Unterton :
“Leitbild- akzeptierte er so etwas überhaupt ?“
„Nicht so leicht. Er war sehr, sehr eigenständig für sein Alter, fast schon mit einer klaren Vorprogrammierung für eine ferne Zukunft ausgestattet...wenn sie verstehen, was ich damit meine“.
Ich erhielt einen forschenden Blick, dann war er sich meiner Auffassungsgabe sicher und fuhr fort :
“ Aber lieber ein harter Knopf mit vielen selbständigen Zügen als ein Duckmäuser, ein verwöhnter Bengel – oder gar ein verwirrter Jungterrorist“.
„Also geht er ihnen doch ab, obwohl sie während der Rede soviel Zustimmung gezeigt haben, besonders als das Leben aus der Sicht desjenigen beleuchtet wurde, der es knapp hinter sich hat...“
„Natürlich vermisse ich ihn“.
„Als Vorbild für die Rabauken und die Kriecher in ihrer Schule...“
Ich wusste gleich, dass er stehen bleiben würde. Wir waren gerade unter einer Lampe angekommen. Ich sah ihn sehr direkt an.
„Jeder Verstorbene geht einem ab , solange die Erinnerung noch wach ist. Für mich ist das aber beileibe kein Grund zur Selbstbemitleidung. Und was die Vorbild-Funktion anlangt, soll
doch jeder Erzieher stets bestrebt sein, das Niveau der Charakterbildung seiner Zöglinge
hochzuhalten beziehungsweise anzuheben“.
Wir gingen weiter.
„Was sie für ihn darstellten, war er für seine Mitschüler. Ohne rührselige Übertreibung muss ich sagen, dass er ein Fels war in der Klasse, ein Meinungszertrümmerer, ein Meinungsbildner, ein Herausforderer, der selbst ständig herausgefordert werden wollte.
E r konnte seine kraftvolle Intelligenz so vollkommen einsetzen, weil ihn seine Überzeugungen spielerisch dazu trieben. Und das seit Jahren“.
Nach einer kurzen Pause fragte er : „Was hat er denn einmal werden wollen ? Sie haben seine
Zukunftspläne doch sicherlich gekannt.“
„Revolutionär“
„Revolutionär...wie ist das zu verstehen?“
„ Er war von dem festen Vorsatz durchdrungen, die bestehende Gesellschaftsordnung
durch eine neue ersetzen zu müssen. Es war ihm Berufung, all das, was ihn störte, zu verändern. Und wenn sie wissen wollen, was ihn so störte, so kann ich ihnen nur s e i n e
Antwort geben : All das, was wir tagtäglich übersehen, respektive übersehen müssen und woran wir uns schon sosehr gewöhnt haben, dass es uns nicht mehr auffällt. Alles, was
zum Verlust der Selbstverständlichkeiten einer naturgemäßen Lebensführung beigetragen hat, hat er hinterfragt, viele Wege auf dieser Suche schon klar erkannt“.
„So gesehen...“ dachte er laut, und ich fuhr fort :
“So gesehen – ist der Welt einiges entgangen – oder auch erspart geblieben“.
Er schüttelte den Kopf und klopfte die Pfeife aus.
„Wenn Stärke in Machtansprüche übergehr, merken wir Normalsterblichen oft nichts davon“.
Er drückte mir kräftig die Hand zum Abschied und verschwand hinter der nächsten Ecke.
Ich wusste, dass er noch lange den Kopf schütteln würde.
Ich schlenderte noch eine Zeit lang ziellos durch die Straßen.
Das Ausgesprochene und vor allem das Unausgesprochene waren mir Rechtfertigung genug, dass ich meine Skrupel endgültig beiseite schieben konnte. Jene Skrupel, die mich vorerst
schuldig dastehen ließen, da ich es war, der ihm vor seinem Mutexperiment die Luft aus
den Fahrradpneus fast völlig rausgelassen hatte – vor einer Woche, als er sich in den
Straßenbahnschienen den steilen Hang hinunterstürzen musste.
E r brauchte die Herausforderung und e r bekam sie auf diese Weise auch.
Ich begann mich nachhause zu zu orientieren.
Es gab ein erstes Schneeflockengewirr, Schneeflocken die jedoch auf dem Boden sogleich in
Nichts zerflossen.